Kein Festival für Harmlosigkeiten

Von Susanne von Schenck · 05.09.2006
Das 6. internationale Literaturfestival ist vom Alter her in die Schule gekommen. Das Chaos gehört der Vergangenheit an. Es zählt inzwischen zu den kulturellen Großereignissen in Berlin. Auch in diesem Jahr sind Berühmtheiten wie Isabel Allende und Jostein Gaarder zu Gast. Einer der thematischen Schwerpunkte ist die französische Literatur.
Das internationale Literaturfestival ist den Kinderschuhen entwachsen. Was vor sechs Jahren als häufig belächelte Privatinitiative begann, ist zu einem der kulturellen Großereignisse in Berlin geworden. Und so betonte auch Joachim Sartorius, der Leiter der Berliner Festspiele - seit dem letzten Jahr Mitveranstalter des Literaturfestivals - in seiner Eröffnungsansprache, dass das Chaos nun der Vergangenheit angehöre.

Chaotisch war die Eröffnungsveranstaltung im voll besetzen Haus der Berliner Festspiele auch keineswegs. Aber dennoch darf man sich fragen, was "Howl" - Allen Ginsbergs vor fünfzig Jahren entstandenes Gründungdokument der Beat Generation, das der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger vortrug - mit dem Vortrag Édouard Glissants aus Martinique gemeinsam hat. Der 78-jährige Glissant hielt eine komplexe philosophisch-politische Rede in einer dichten poetischen Sprache über das "Lob der Unterschiedlichkeiten und der Differenz", die den Zuhörern höchste Aufmerksamkeit abverlangte.

"Die Aufnahme und die mögliche Integration der Migranten wird nur mit einer Politik der Beziehung erfolgreich sein, und sie ist noch zu erfinden. Aber wir wissen auch, dass der Großteil der armen Länder über keinerlei Mittel verfügt, um ihre eigenen Grenzen gegen eine Einwanderung ganz anderer Art zu schützen, die aber ebenso ungeregelt ist - nämlich von Investoren, die ihre Ressourcen ausbeuten, der Gewinn wird sofort außer Landes gebracht, doch dies Land verfügt selbst nicht über die Mittel, die Investoren wieder über seine Grenzen hinauszubefördern, die unerwünscht sind und die es nicht mehr dulden will."

Vielleicht aber sind diese Kontraste während der Eröffnung ein Sinnbild für den bunten Strauß an Autoren und Literaturen, den Festivalleiter Ulrich Schreiber in diesem Jahr wieder zusammengebunden hat. Über hundert Autoren aus 48 Ländern werden in den nächsten zwei Wochen aus ihren Werken lesen. Darunter viel bekannte wie Isabel Allende und Jostein Gaarder, der auch bei der Eröffnung im Publikum saß.

Das Programm bewegt sich zwischen poetischer Ästhetik und politischem Engagement, reicht von Diskussionen über den Krieg im Libanon, über Verarbeitung von Terrorismus in der Literatur bis zur "Slam Poetry" oder eine Filmreihe anlässlich des zehnten Todestages der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras. Auf dem Frankofonen und seiner kulturellen Heterogenität liegt, so Joachim Sartorius, einer der Schwerpunkte des Festivals

"Wir können nicht an den Problemen unserer Zeit vorbeigehen. Das ilb ist kein Festival für Harmlosigkeiten. Der thematische Schwerpunkt dieses Jahres, die Francofonie, ist dafür paradigmatisch. Diese Sprache ist untrennbar verbunden mit der leidvollen Geschichte der Kolonisation. Aber was geschah, als die Kolonisierten sich für diese Sprache entschieden und sie sich zu Eigen machten? Der Sinn unseres heutigen Verständnisses von Sprache ist, dass wir ihre Veränderungen nicht als Verlust von Reinheit sondern als Bereicherung empfinden. Die Mischungen verschiedener geistiger und künstlerischer Traditionen, die Einführung neuer Formen, Schattierungen und Varianten bringen eine Vielfalt von großer Schönheit hervor."

Viel versprechend neben den zeitgenössischen Autoren ist auch die Reihe "Erinnerung sprich". Französischsprachige Autoren auf Reisen - körperlichen und geistigen - werden vorgestellt: Voltaire oder Claude Simon, Léopold Sédar Senghor oder Arthur Rimbaud.

Das internationale Literaturfestival ist zwar, wie Ulrich Schreiber betont, nach sechs Jahren nun in die Schule gekommen, aber bis zum Erwachsenwerden ist es noch ein weiter Weg. In diesem Jahr ist es kleiner geworden. Schmerzhafte Einschnitte, vor allem beim Filmprogramm, musste Ulrich Schreiber hinnehmen. Die 350.000 Euro als Basisfinanzierung reichen bei Weitem nicht aus.

"Das ist völlig desolat, aber wir haben wirklich jetzt fünf Mal bewiesen, dass wir hier höchstklassige Veranstaltungen auf die Beine stellen. Es ist wirklich wahr, dass wir eines, wenn nicht das angesehenste Literaturfestival der Welt sind - vom Standpunkt der Autoren aus. Herr Sartorius und ich sind vor einem halben Jahr zu Herrn Schäfer gegangen und haben es auch in Briefen deutlich gemacht, dass wir eine langfristige Perspektive brauchen, und auch ein auskömmliches Level, was die Bezuschussung angeht - und da ist nichts passiert. Und das ist unsäglich, da muss sich was ändern."

Service:

Das "6. internationale literaturfestival berlin" (ilb) findet in diesem Jahr vom 5. -16. September statt. Hauptveranstaltungsort wird wieder das Haus der Berliner Festspiele sein.