Kein atomares Endlager in Gorleben

Wie sich das Wendland neu erfindet

29:49 Minuten
Polizei und Bundesgrenzschutz räumen am 04.06.1980 das Hüttendorf der "Republik Freies Wendland" nahe Gorleben, das Atomkraftgegner aus Protest gegen das geplante Atommüll-Lager neben der Tiefbohrstelle 1004 errichtet hatten.
Mit der "Republik Freies Wendland" nahe Gorleben fing der Kampf gegen das Atommüll-Endlager an. Und nun? © picture-alliance / dpa/ Dieter Klar
Von Axel Schröder · 23.05.2021
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Dem Wendland ist der gemeinsame Feind abhandengekommen. Das Endlager in Gorleben ist Geschichte. Nun muss sich die Region neu erfinden und zeigen, ob die lang geübte Solidarität untereinander auch dann funktioniert, wenn der Druck von außen fehlt.
Am 28. September 2020 steht im großen Saal der Bundespressekonferenz Steffen Kanitz im makellosen Anzug und weißem Hemd hinter einem Pult. Der Geschäftsführer der "Bundesgesellschaft für Endlagerung" verkündet in sperrigen Worten eine Sensation:
"Der Salzstock Gorleben ist nach Anwendung der geowissenschaftlichen Abwägungskriterien kein Teilgebiet. Für diesen Fall sieht das Standortauswahlgesetz in Paragraph 36 vor, dass der Salzstock Gorleben aus dem weiteren Standortauswahlverfahren ausgeschlossen wird."

40 Jahre Widerstand waren nicht umsonst

Ein gutes halbes Jahr später kann der Bierbrauer Matthias Edler aus dem Dorf Kussbude im Wendland es immer noch kaum fassen.
"Als ich das gehört habe, dass Gorleben raus ist aus dem Verfahren, bleibt natürlich erst mal so ein ganz kurzes Innehalten: ‚Wollen die uns jetzt schon wieder veräppeln? Das muss ein Fake sein!‘ Aber nach ein paar Minuten war klar: Das ist so! Und ich habe mich ehrlich gefreut! Weil ich einen Großteil meines Lebens damit verbracht habe. Und ich kann mir was Besseres vorstellen, als im Winter auf irgendeiner Schiene oder Straße zu sitzen und zu versuchen, so einen Atommülltransport aufzuhalten. Und dass das nicht umsonst war!"
Matthias Edler lebt im deutschen Widerstandsnest schlechthin. Jahrelang saß er im Vorstand der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, war während der Castortransporte Tag und Nacht im Landkreis unterwegs und organisierte für Greenpeace Anti-Atom-Kampagnen.

Gorleben war eine politische Entscheidung

Vor zehn Jahren lieferte er den Beweis, dass der Standort Gorleben nicht aus geologischen, sondern politischen Gründen ausgesucht wurde: Gorleben liegt in dem damals sogenannten "Zonenrandgebiet". Der Landkreis ist unattraktiv und dünn besiedelt, landwirtschaftlich geprägt und bei Landtags- und Kommunalwahlen fest in CDU-Hand.
Damals, es war 1977, formiert sich Widerstand. Landwirte, Lehrerinnen, Adelige, Angestellte, junge und alte Menschen im Wendland schmieden ein breites Bündnis gegen ein atomares Endlager in Gorleben und gegen die Castoren, die bis heute in einer oberirdischen Halle lagern. Später mobilisieren die Castortransporte unzählige Atomkraftgegner aus dem ganzen Land. Die Castor-Blockaden werden zu einem Großereignis für die Polizei - jahrzehntelang.


Rebekka Harms, seit 40 Jahren Teil des Widerstands, erinnert sich.
"Es waren sehr bürgerliche Leute dabei, als wir angefangen haben. Es waren aber auch wir Hippies, wie die anderen uns genannt haben, dabei. Die damals schon politisch Aktiven kamen aus dem gesamten Parteienspektrum: CDU-Leute, SPD-Leute insbesondere, die in ihren eigenen Parteien, damals in den 70er-Jahren, Parteiausschlussverfahren riskiert haben durch die Aktivitäten, die sie mit der Bürgerinitiative gestartet haben!"

"Die haben geglaubt, wir sind Terroristen"

Auf dem Holztisch im Garten von Rebecca Harms stehen Kaffee und Kuchen. Seit Anfang der Achtzigerjahre lebt sie im 60-Einwohner-Dorf Dickfeitzen, saß lange Jahre für die Grünen im niedersächsischen Landtag und im EU-Parlament und ist seit jeher für die "Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg" aktiv. Im Widerstand gegen das damals geplante "Nukleare Entsorgungszentrum" im Gorlebener Forst. Gegen eine Wiederaufbereitungsanlage, eine Brennelementfabrik, ein Zwischen- und Endlager für hoch radioaktiven Müll. Mitte der 90er-Jahre durfte Rebecca Harms einen Blick in ihre Ermittlungsakte bei der Staatsanwaltschaft werfen.
"Da habe ich einen Begriff davon bekommen, wie auch ich – und das galt für etliche von uns – eben systematisch ausspioniert worden bin, wie viele meiner Telefonate abgehört worden sind, wie dieses Haus hier beobachtet worden ist, wie meine Wege in der Region registriert worden sind. Diese Verfolgung und Beobachtung, das war derartig unverhältnismäßig. Und ich glaube, dass die Behörden – der Verfassungsschutz an der Spitze - zum Teil das wirklich geglaubt haben, dass wir Terroristen sind!"

Der gemeinsam Feind schweißt zusammen

Rebecca Harms gehörte auch zu der Gruppe, die 1980 die "Republik Freies Wendland" gegründet hat – ein legendäres Hüttendorf des Widerstands. Aus allen Teilen der Republik kamen Menschen ins Hüttendorf und zeigten Solidarität, teilweise mit Bustouren. Bauern lieferten gratis Gemüse, Sägewerke das nötige Baumaterial. Wolf Biermann war zu Besuch und auch der junge Gerhard Schröder, damals Juso-Chef versprach Unterstützung.

Vier Wochen lang existierte die "Republik Freies Wendland". Dann rückte das bis dahin größte Polizeiaufgebot der Nachkriegsgeschichte an, 6000 Beamte räumten das Camp mit brutaler Härte, ein Bulldozer planierte die Fläche. Rebekka Harms analysiert:
Polizisten laufen auf einem Erdwall.
Immer wieder rückte die Polizei an. Wie hier als Beamte zu Ostern 1990 den Erdwall rings um das Zwischenlager Gorleben sicherten.© Deutschlandradio / Axel Schröder
"Die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, zu denen der Staat gegriffen hat, die hat uns zusammengeschweißt. Ich glaube, dass das wirklich ein Glück gewesen ist, dass es uns in dieser Konfrontation immer möglich geblieben ist, die Gewaltlosigkeit zu verfolgen und durchzuhalten. Und dass das den Zusammenhalt so unterschiedlicher Akteure aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft ermöglicht hat. Und ohne das wären wir nicht erfolgreich gewesen."

Bewegung erringt den größtmöglichen politischen Erfolg

Den 28. September 2020, als das Aus für Gorleben bekannt gegeben wird, verbucht Rebekka Harms als den größten Erfolg ihrer politischen Arbeit.
"Soviel Recht, wie wir gekriegt haben, kriegt man normalerweise als soziale Bewegung nicht, glaube ich."
Aber nun fehlt der gemeinsame Feind – auch wenn der Erfolg vielen Menschen im Wendland noch unwirklich scheint. Bei der Fahrt durch die kleinen Dörfer im Wendland stehen die Alleebäume in sattem Grün. Vor dem Mauerfall war der Landkreis Lüchow-Dannenberg die am dünnsten besiedelte Gegend der Republik. Heute leben hier 50.000 Menschen. Und wer genau hinschaut, entdeckt immer wieder die knallgelben, aus Latten gezimmerten Holz-X‘e.

Das gelbe "X" bedeutet: Am "Tag X", immer dann, wenn Atommülltransporte kommen, stellen wir uns quer. Das "X" hängt in Vorgärten, an dicken Eichen, Feldwegen und alten Fachwerkhäusern. Es ist das Symbol der hartnäckigsten und gleichzeitig erfolgreichsten Widerstandsbewegung der Bundesrepublik. Und das Symbol bleibt. Auch, wenn Gorleben als Endlager für hoch radioaktiven ausgeschieden ist, auch, wenn 2022 das letzte AKW vom Netz geht.
Ein gelbes X aus Holz, Zeichen des Widerstandes gegen die Atomtransporte steht am Mittwoch (23.11.2011) am Umladebahnhof in Dannenberg.
Ein gelbes X aus Holz als Zeichen des Widerstandes gegen die Atomtransporte am Umladebahnhof in Dannenberg.© picture alliance / dpa / Hannibal Hanschke

Es ist amtlich: Der Salzstock ist nicht sicher

Eigentlich sollte schon 1999 der erste Atommüll tief unten im Salzstock eingelagert werden. Bis heute wurde dort kein einziger Behälter deponiert. 30 Jahre lange galt der Salzstock – trotz früher Bedenken von kritischen Geologen, als perfekter Ort für den hoch radioaktiven, wärmeentwickelnden Abfall aus deutschen Kernkraftwerken.
Bis zum Erkundungsstopp im Jahr 2012 waren dort knapp 200 Bergleute im Einsatz. In über 800 Meter Tiefe wurden sieben Kilometer Stollen ins Salz gesprengt. Vor dem Erkundungsstopp konnten sich Journalisten in den grau-gefurchten Stollen von Ralf Schmitt, dem Sprecher der Firma, die den hoch radioaktiven Abfall einlagern wollte, erklären lassen, was geplant ist:
"In diesen Strecken würden dann nicht die Castor-Behälter, sondern Pollux-Behälter, das heißt also: Endlager-Behälter abgelegt werden. Das heißt also: Man würde die nach runter transportieren, auf eine Plattform tragen. Würde die unten auf Schienen bis zur Einlagerungsposition transportieren. In diesen Einlagerungspositionen würden die dann abgesetzt werden, hintereinander würden die abgelagert werden und anschließend mit Salz die Resthohlräume verfüllt."


Im Laufe von einigen Hundert Jahren sollte das Salz den Müll umschließen. Dass dies nicht funktionieren wird, haben die Menschen im Wendland akribisch nachgewiesen. Und seit dem 28. September 2020 ist es auch offiziell: Gorleben ist keinesfalls ein sicherer Ort für den deutschen Atommüll.
Blick auf bereits gebohrte Sprenglöcher im Salzstock Gorleben.
Blick auf bereits gebohrte Sprenglöcher im-Salzstock Gorleben. © Deutschlandradio / Axel Schröder

"Das hätte man bereits 1981 wissen können"

Wolfgang Ehmke, der langjährige Sprecher der BI Lüchow-Dannenberg, trägt auch beim Interview in seinem Fachwerkhaus die Schiebermütze, die seinen inzwischen fast kahlen Kopf auf so vielen Demos und Blockadeaktionen vor Wind und Wetter geschützt hat. Auch er war überglücklich, als im letzten Herbst das Gorleben-Aus verkündet wurde. Einerseits. Andererseits:
"Es mischte sich dann aber auch mit so einem Ärgernis, dass man vielleicht so viel Lebenszeit verschwendet hatte auf dieses Thema, weil dann das uralte Argument, dass dieser Salzstock Wasserkontakt hat, weil es keine schützende Tonschicht darüber gibt, dass das letztlich doch den Ausschlag gegeben hat. Das hätte man alles 1981 bis 1983 schon abhaken können. Da wusste man das alles schon nach Auswertung der Tiefbohrungen. Und das ist schon ein komisches Gefühl, wenn man das Gefühl hat, 35 Jahre lang hat man weitermachen müssen und erst dann setzt sich diese Wahrheit durch."
Wolfgang Ehmke führt raus aus in den Garten und rüber zur Scheune. Zeigt sein neuestes Projekt: eine Solaranlage, die ihn autark macht – theoretisch:
"Tagsüber… Aber wehe, jemand geht unter die Dusche, denn da ist ein Durchlauferhitzer."
Und so viel Strom produziert seine Fotovoltaikanlage dann doch nicht.

Das Wendland ist nicht ausgeblutet

Jahrelang ist er zwischen Hamburg und dem Wendland hin- und hergependelt. Hat wochentags sein Geld als Lehrer verdient, am Wochenende dann den Protest mitorganisiert, hat Reden gehalten oder bei Blockaden auf Straßen und Schienen mit der Polizei verhandelt. Angst, dass der Zusammenhalt und der kritische Geist der Menschen im Wendland nach dem Gorleben-Aus nun wieder verschwinden könnte, hat Wolfgang Ehmke nicht. Wie andernorts verlassen zwar viele junge Leute das Wendland, einige kehren aber zurück. Und bei den letzten Castortransporten waren längst nicht nur die alten, sondern vor allem junge Menschen aktiv.


"Wir sind nicht so richtig ausgeblutet – politisch und künstlerisch sowieso nicht. Weil hier etwas entstanden ist als Gegenentwurf. Und da schwingt auch sehr viel mit, dass es alternative Gegenentwürfe gab zum Mainstream: Solidarische Landwirtschaft, Bio-Landbau, etliche konventionelle Bäuerinnen und Bauern haben umgestellt auf Biolandwirtschaft. Wir haben die größte ‚Bioland‘-Dichte bundesweit."
Ein älterer Mann mit Schiebermütze steht vor einer Scheune.
Wolfgang Ehmke vor seiner alten Scheune. Auf dem Dach produziert eine Solaranlage Strom.© Deutschlandradio / Axel Schröder
Auch auf einem anderen politischen Feld gilt das Wendland als Vorbildregion. Geflüchtete werden aktiv unterstützt und aufgenommen, im sogenannten "Kulturbahnhof" in Hitzacker gibt es Ausstellungen, Konzerte, Theater, Lesungen genauso wie Nachhilfe. Die "KLP", die Kulturelle Landpartie", fing als kleiner Kunstmarkt an und ist heute ein Megaevent für die Region – Menschen aus ganz Deutschland kommen deshalb in der Pfingstzeit ins Wendland.

"Eigentlich müssten wir eine Kompensation bekommen"

Ginge es nach Wolfgang Ehmke, dann müssten Bundes- und Landesregierung der Region nach 40 Jahren völlig unnötiger Unruhe, eine Kompensation zukommen lassen, die dann in neue Projekte fließen könnte. Er selbst wünscht sich einen Außenposten einer Universität im Wendland, erklärt Wolfgang Ehmke. In der könnte dann zum Beispiel das Thema Nachhaltigkeit im Zentrum von Forschung und Lehre stehen.
Die jahrzehntelange Expertise der BI Lüchow-Dannenberg werde auch andernorts gebraucht, sagt Wolfgang Ehmke. Und dann gebe es in Gorleben ja nicht nur das aufgegebene Bergwerk, sondern auch noch eine oberirdische Lagerhalle.
"Nicht vergessen: 113 Castoren stehen da in Gorleben. Und dann haben wir noch eine Halle mitschwach- und mittelaktiven Abfällen. Und es gibt – das haben wir herausgefunden – nach dem Aus von Gorleben gar kein Budget für den Rückbau Gorlebens, sondern es gibt immer ein Budget für die Offenhaltung Gorlebens. Und da sind wir über 40 Jahre so gestrickt, dass wir skeptisch bleiben."

113 Castorbehälter lagern in Gorleben

Einen Kilometer außerhalb des 600-Einwohner-Dorfs Gorleben überwachen Kameras die Umgebung. Ein Erdwall, ein massiver Stahlzaun, unzählige Bewegungsmelder sichern das Brennelementezwischenlager im Gorlebener Kiefernwald. Nachts ist das Areal hell erleuchtet. Hinein geht es nur nach einer Überprüfung durch das niedersächsische Landeskriminalamt. Im Eingangsbereich werden Jacke und Rucksack kontrolliert, das Smartphone wird eingeschlossen, Fotos dürfen nicht gemacht werden.
Tristan Zielinski ist Sprecher der Bundesgesellschaft für Zwischenlagerung, führt über den hellgrauen Betonboden in Richtung Lagerhalle.
Vor der schweren Hallentür schaut Tristan Zielinski in die Überwachungskamera, zeigt sein Gesicht, hält seine Chipkarte ans Lesegerät.
Über Betonstufen geht es in den ersten Stock, auf die breite Galerie der Halle. 113 von ursprünglich 400 vorgesehenen Stellplätze sind belegt. Mit bis zu 135 Tonnen schweren, roten, blauen und gelb-lackierten Atommüllbehältern. Zwischen 1995 und 2011 wurden sie angeliefert, immer begleitet von massiven Protesten und einem Großaufgebot der Polizei.
Abgeschirmt ist der hoch radioaktive Inhalt durch eine über 40 Zentimeter dicke Stahlhülle. Einige Behälter haben Zimmertemperatur, in anderen ist der Abfall immer noch mehrere Hundert Grad heiß.
"Wir haben auch Castoren, die letzten, die 2011 eingelagert wurden, da beträgt die Oberflächentemperatur zwischen 55 und 60 Grad. Weil die Aktivität dort noch etwas höher ist."

Betreiber glauben an die 100-prozentige Sicherheit

Auch der Worst Case wurde durchgespielt: der Absturz eines Kampfjets oder einer Passagiermaschine. Die Hallendecke bietet dagegen keinen Schutz. Die massiven Atommüllbehälter schon, erklärt Tristan Zielinski.
"Die überstehen einen Kerosinbrand, sind darauf getestet und überstehen auch die mechanische Einwirkung. Man hat beispielsweise getestet, ob der Deckelbereich eines Behälters den Aufprall einer Triebwerkswelle übersteht. Und da war der sichere Einschluss des radioaktiven Materials stets gewährleistet."
Tristan Zielinski ist überzeugt: Von den Castoren in der Halle geht keine Gefahr aus. Auch, wenn in der Vergangenheit schon unerwartet hohe Radioaktivitätswerte in der Umgebung gemessen wurden. Die Grenzwerte seien nie überschritten worden, sagt Sprecher Zielinski. Abtransportiert werden die Castoren erst, wenn ein fertiges Endlager zur Verfügung steht. Das ist, nach bisheriger Planung, frühestens 2050 der Fall. Solange also bleiben sie noch in Gorleben.

Sonntags treffen sich betagte Castor-Gegnerinnen

Das ist auch der Grund dafür, weshalb sich ein paar Hundert Meter entfernt vom Zwischenlager nach wie vor immer sonntags Menschen treffen, die von der Sicherheit des Zwischenlagers nicht überzeugt sind. Es sind Menschen, die schon sehr lange im Widerstand sind. Sie nennen die Halle nur "die Kartoffelscheune" und bezweifeln, dass das Gebäude Flugzeugabstürzen oder Terroranschlägen wirklich standhalten kann. Das "Gorleben-Gebet" gibt es seit mehr als 30 Jahren. Immer organisiert von unterschiedlichen Gruppen und Initiativen.

20 Männer und Frauen sitzen auf Strohkissen auf schmalen, niedrigen Bänken. Vorn stehen drei meterhohe Holzkreuze. Durch eine Schneise im Kiefernwald ist der Förderturm des Bergwerks zu sehen.
Ein Zaun mit Stacheldraht, dahinter ein großer Turm.
Blick auf den Förderturm des Erkundungsbergwerks Gorleben im September 2014.© Deutschlandradio / Axel Schröder
Ohne die Atomanlagen hätte es das "Gorleben-Gebet" und den Zusammenhalt der Menschen im Wendland natürlich nicht gegeben, sagt die 82-jährige Christa Kuhl.
"Wie sagt man? Ein gemeinsamer Feind schweißt zusammen! Wo wir die Bedrohung spüren, da ist es ganz wichtig, dass wir zusammenrücken und sagen: ‚Kommt, das darf nicht sein! Lass uns tun, was uns möglich ist! Lass uns kämpfen, lass uns schreien, lass uns beten!‘ Alles hat seinen Platz und alles ist wichtig. Je nachdem, wo der Mensch sieht: Das ist meine Aufgabe!"

"Die Region wird widerborstig bleiben"

16 Jahre lang hat Christa Kuhl die Wald-Gottesdienste koordiniert, hat die Programme entworfen und Termine vereinbart. Im Sommer will sie das Amt an eine Nachfolgerin abgeben. Und ja, auch sie war erleichtert, dass Gorleben als Endlager nun ausgeschieden ist.
"Endlich! Endlich hat man darauf gehört, was hier seit 40 Jahren gesagt wurde, worum wir gekämpft haben: ‚Seht doch ein: Dieser Salzstock ist nicht geeignet.‘ So viele Wissenschaftler haben dagegengesprochen. Es war nicht: Hauptsache, nicht bei uns! Das ist das St. Florians-Prinzip. Danach leben wir nicht."
Christa Kuhl ist sich sicher: Auch nach dem Aus für die Endlagerpläne in Gorleben wird die Region widerborstig, kritisch und aktiv bleiben.
"Gut, wir hier im ‚Gorlebener-Gebet‘, wir sind überwiegend alte Menschen. Die Jungen haben sich hier nicht angeschlossen, die sind in einer anderen Weise aktiv. Schauen sie sich ‚Fridays for Future‘ an. Das ist initiiert worden von jungen Menschen. Ich glaube, dass dieser Geist, dieser Spirit weitergeht. Der kann einfach nicht untergehen. Der beseelt die Menschen seit Tausenden von Jahren und das wird auch so weitergehen!"
Die ältere Dame nickt resolut und lächelt, begrüßt alte Freunde und Bekannte, bleibt noch auf einen Tee. – Ihre Freude, ihren Jubel über das Gorleben-Aus, teilen viele Menschen im Wendland. Aber längst nicht alle.

Das Thema Gorleben hat die Gemeinde gespalten

Der Pastor Eckhard Kruse kann sich noch gut an den Tag erinnern, als die "Bundesgesellschaft für Endlagerung" Gorleben aus dem Rennen nahm.
"Es hat mich sehr bewegt! Ob das Freude war? Das weiß ich nicht. Ich kann ihnen aber erzählen, was ich gemacht habe an dem Tag. Ich habe alle meine Termine fallen lassen und habe mich aufs Fahrrad gesetzt und bin diesen Salzstock abgefahren. Ich habe nicht gejubelt. Ich habe an dem Tag auch geweint. Es war eine sehr tiefe innere Bewegung in mir. Aber Jubel? Ist bisher nicht aufgekommen."


Das Thema Gorleben, erzählt der Pastor, hat die Menschen im Landkreis nicht nur zusammengeschweißt, sondern auch tiefe Gräben gerissen. Jeder und jede musste sich dem Thema stellen: Bist Du für oder gegen Atomkraft, für oder gegen Castortransporte, für oder gegen Straßenblockaden?
Ein älterer Herr mit Bart steht auf einem Rasenplatz, im Hintergrund ist ein trockengelegtes Schiff zu sehen
Pastor Eckhard Kruse aus Gartow in Gorleben, im Hintergrund das Greenpeace-Schiff Beluga.© Deutschlandradio / Axel Schröder
"Da gab es dann so einen Verhaltenskodex, dass man gesagt hat: Über diese Thematik dürfen wir nicht reden, weil uns das sprengen würde. Es gab aber Leute, die haben sich an diesen Verhaltenskodex nicht gehalten, und zwar von beiden Seiten. Das führt dann dazu, dass man anschließend eben nicht mehr in dem Verein ist oder auch nicht mehr in der Familie oder auch, dass eine Partnerschaft darüber zerbricht. Das hat die Menschen bis auf den Grund der Seele erschüttert."

Ohne den Widerstand wäre jetzt Atommüll im Salzstock

Acht Jahre lang war Eckhard Kruse der Endlagerbeauftragte der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Hannover, war während der Castor-Transporte rund um die Uhr unterwegs, hat mit Einsatzleitern verhandelt und versucht, die Lage zu beruhigen. Es gab Rücktrittsforderungen und die Drohung, ihn zu versetzen, erzählt der Pastor.
Sogar ein später eingestelltes Ermittlungsverfahren wegen schwerem Landfriedensbruch. Kruse hat das Thema Gorleben mit der einstigen Bundesumweltministerin Angela Merkel besprochen und mit ihren Nachfolgern Jürgen Trittin, Norbert Röttgen und Peter Altmaier zusammengesessen, hat sie wieder und wieder auf die Mängel des Salzstocks Gorleben hingewiesen.

"Und jetzt, wo dieser Salzstock aus dem Rennen ist, wie manche sagen, dann hätte ich eigentlich erwartet, dass diese Herren und Damen dann auch irgendwann mal sich äußern und sagen: ‚Gut, dass Ihr uns davor bewahrt habt, einen falschen Weg in die Richtung weiter zu gehen!‘ Denn, wenn es diesen Widerstand hier nicht gegeben hätte, dann wäre der Salzstock nicht geeigneter gewesen, aber längst mit Atommüll befüllt!"
Ein Mann hängt mit Schutzkleidung und Transparenten in einem Baum.  
Über der Transportstrecke des Castors blockiert ein Aktivist die Straße im November 2011.© Deutschlandradio / Axel Schröder

Auf zu neuen Ufern

Kruse will sich auch ins neu gestartete Suchverfahren für ein Atommülllager einmischen. Und er engagiert sich im 2017 gegründeten "Netzwerk Nukleares Gedächtnis", damit die Erfahrungen und der Zusammenhalt nicht in Vergessenheit geraten.
Matthias Edler, der Bierbrauer und Anti-Atom-Aktivist, ist glücklich darüber, dass er keine Sitzblockaden im Winter mehr organisieren muss. Und er ist auch stolz auf den Erfolg der Bewegung.
"Ich glaube, dass das ein ganz wichtiges Zeichen war - auch wenn es 40 oder 45 Jahre gedauert hat – für die nächste Generation: dass sich politisches Engagement lohnt, dass man am Ende was verändern kann!"
Auf dem Hof vor seiner Brauerei erzählt er von seinem nächsten Projekt: eine Treckerblockade - diesmal nicht vor dem Salzstock Gorleben, sondern vorm privatisierten örtlichen Krankenhaus. Gesundheit ist keine Ware, erklärt er, deshalb soll der Landkreis das Krankenhaus zurückkaufen. Für ihn als erprobten Widerständler ist sein neues Betätigungsfeld überschaubar und das Ziel erreichbar. 40 Jahre wird es nicht dauern.
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