Kaum eindreiviertel Stunden

Rezensiert von Ralf Müller-Schmid |
Am 11. September 2001 vergingen nur 102 Minuten vom Einschlag des ersten Flugzeuges in den Nordturm des World Trade Centers bis zum Einsturz des Südturms. Jim Dwyer und Kevin Flynn haben diese 102 Minuten anhand von Zeugenaussagen rekonstruiert und zeichnen eine Innenperspektive aus den beiden getroffenen Türmen.
102 Minuten am 11. September 2001 in New York, World Trade Center. Das ist die Zeitspanne zwischen dem Einschlag des ersten Flugzeugs in den Nordturm um 8.46 Uhr und dem Einsturz des Turms um 10.28 Uhr. Obwohl der Nordturm der erste war, der getroffen wurde, kollabierte das Gebäude erst 26 Minuten nach dem Südturm, in den die zweite entführte Linienmaschine um 9.02 Uhr eingeschlagen war. Der Terrorangriff kostete 2749 Menschen das Leben. Von einem weltbekannten Symbol amerikanischer Macht blieben nur Schutt und Asche.

Eindreiviertel Stunden, das ist im normalen Leben eine Spanne, die so unauffällig schnell verstreichen kann, dass wir sie kaum wahrnehmen. Der gleiche Zeitraum war für die Menschen im World Trade Center eine schiere Ewigkeit, in der aber sekundenschnelle Entscheidungen und reflexhafte Bewegungen über Tod und Überleben entschieden. Es ist das Verdienst dieses Buches, dass es Einblicke gestattet, wo Fernsehbilder nur den äußeren Schrecken dokumentieren.

Die New York Times Reporter Jim Dwyer und Kevin Flynn haben die Geschichte dieser 102 Minuten gleichsam aus der Innenperspektive der Gebäude rekonstruiert. Dabei geht es weder um die Analyse der terroristischen Hintergründe noch schleichen sich zum Jahrestag von 9/11 pathetisch-patriotische Töne ein.

Stattdessen liefern die Autoren eine über weite Strecken nüchterne Schilderung der Ereignisse, die im Innern der tödlich getroffenen Türme stattfanden. Die Tragik dieser Ereignisse muss nicht zusätzlich dramatisiert werden. Hunderte Interviews mit Zeugen, Überlebenden wurden ausgewertet, Anrufbeantworter und Mailboxaufzeichnungen transkribiert. Aus diesen Fragmenten haben die Autoren einen Erzählstrang geflochten, der nicht immer konsistent sein kann, der aber immer wieder tief bewegt, weil der tödliche Ausgang von vornherein feststeht, auch wenn von Hoffnung und Heldenmut zu berichten ist.

Beinahe unglaublich die Geschichte des Vizepräsidenten der Fuji Bank Stanley Praimnath. Nachdem der erste Turm getroffen war, veranlasste er seine Mitarbeiter im noch nicht betroffenen Südturm, die Büros zu räumen. Der Anschlag vom Februar 1993 war noch allen gut im Gedächtnis, als eine Bombe in der Tiefgarage explodierte und beißender Qualm bis ins 110. Stockwerk zog. Und genau diese Erfahrung wurde für viele Mitarbeiter acht Jahre später zum Verhängnis.

1993 hatte es sich als ratsam erwiesen, in den Büros zu bleiben und auf das Eintreffen der Rettungsmannschaften zu warten. So kam es, dass als Praimnath mit seinen Leuten im Erdgeschoss ankam, er von Sicherheitsbeamten aufgefordert wurde, wieder in den 81. Stock hinaufzufahren, und abzuwarten, bis das Feuer im benachbarten Turm gelöscht sei. Praimnath fuhr wieder nach oben und rief aus seinem Büro seine Frau an, um sie zu beruhigen. In diesem Augenblick sah er den zweiten Jet auf sich zurasen. Er überlebte den Einschlag, weil der Pilot seinen Kurs korrigieren musste. Der Flügel mähte deshalb ein Stockwerk höher über den Kopf des Bankers hinweg.

Eine besondere tragische Rolle in diesem Erinnerungsbuch spielt das Gebäude selbst. Als das World Trade Center 1975 eingeweiht wurde, galt es als eins der modernsten Hochhäuser der Welt. Für seine Stahlstützenkonstruktion galt dies auch ganz bestimmt. Die Leichtbauweise, die weitgehend auf Stahlbeton und massives Mauerwerk verzichtete, war eine technische Errungenschaft. Am 11. September aber wurden „die Gebäude zu Waffen, in einem Maß, das die Pläne (…) der Luftpiraten weit übertraf“.

Denn 1968 waren die Bauvorschriften für Manhatten gelockert worden, um neue Investoren auf die Insel zu locken. So wurden für das World Trade Center statt bisher vorgeschriebener sechs Treppenhäuser nur drei installiert, dazu noch in einem Abstand zueinander, der viel geringer war als etwa beim Empire State Building, das durch sechs Treppenhäuser versorgt wird. Das erste Flugzeug durchschnitt die drei Lebensadern des WTC vollständig. Oberhalb der Einschlagstelle gab es kein Entkommen.

Im Südturm blieb ein Treppenhaus intakt. Jedoch war es nicht möglich, die oberhalb der Einschlagstelle eingeschlossenen durch Rauch und Trümmer zu dirigieren. Nur 18 Menschen gelang der Abstieg. So setzt dieses Buch nicht nur den Opfern und Überlebendem ein Denkmal, sondern auch einem Gebäude, mit dem sich für immer Faszination und Schrecken verbinden.


Jim Dwyer/Kevin Flynn: 102 Minuten
Übersetzt von Friedrich Pflüger
Piper Verlag 2006
365 Seite, 19,90 Euro