Katholizismus

Ausgeliefert im Beichtstuhl

Moderation: Joachim Scholl · 24.01.2014
Papst Pius X. führte Anfang des 20. Jahrhunderts die obligatorische wöchentliche Beichte ein - auch für Kinder. Das eröffnete pädophilen Priestern die Möglichkeit, Kinder in der "schwarzen Box" zu missbrauchen, meint der Autor und Kirchenkenner John Cornwell.
Joachim Scholl: John Cornwell ist Jahrgang 1940, als Autor ist der Brite vor allem mit Monografien zur Kirchengeschichte bekannt geworden. Jetzt gibt es ein neues Buch von John Cornwell auf Deutsch, "Die Beichte. Eine dunkle Geschichte". Wir hatten Gelegenheit, mit John Cornwell darüber zu diskutieren. Er war uns aus einem Studio in London zugeschaltet und hat uns zunächst von seinen eigenen Erfahrungen erzählt. Denn John Cornwell war früher tiefgläubiger Katholik, wollte Priester werden, war bereits auf dem Priesterseminar. Dann kamen Zweifel, die zu einer Abkehr vom Glauben führten. Vom Knabenalter an bis zu seinem 21. Lebensjahr aber ist John Cornwell brav zur Beichte getrabt, jede Woche. Und ich habe ihn zunächst gefragt, wie er diesen Gang zum Beichtstuhl empfunden hat!
John Cornwell: Es ist ja so, meine Generation – ich bin 1940 geboren –, die Generation meiner Eltern und meiner Großeltern hat wirklich einmal pro Woche gebeichtet. Aber wir haben keine wirklich spirituelle Erfüllung darin gefunden, sondern es ging eigentlich nur darum, kleinere oder auch gelegentlich größere Sünden zu beichten, und man hatte das Gefühl, als würde man so eine Waschliste mitnehmen von Dingen, von denen man sich nun zu reinigen hätte. Und man ging dann also in diese schmale schwarze Box, in der man beichten musste, und mir war damals allerdings noch nicht bewusst, was für eine Form der Unterdrückung das war für mich und auch die Generation, die ich erwähnte, von meinen Eltern und Großeltern. Und es ist ja so, dass diese wöchentliche Beichte für kleine Kinder im Alter von sieben Jahren an bereits erst von Papst Pius X. in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts eingeführt worden ist, das war ja vorher nicht der Fall. Dieser Papst Pius X. ist dann auch später als Sankt Pius X. in die Kirchengeschichte eingegangen.
Scholl: Warum wurde denn die Beichte in dieser Form, in dieser unterdrückenden Form, wie Sie schreiben, Herr Cornwell, eingeführt für Kinder?
Cornwell: Also, um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, in dem Pius X., der 1903 zum Papst ernannt wurde, geherrscht hat, hat er die Kirchenwelt auf eine sehr negative Art eingeschätzt. Er hatte sehr große Ängste, dass die Kirche von allen Seiten unter Feuer genommen wird, einerseits vom Materialismus, andererseits durch die Abkehr vom Glauben. Und er hatte eine sehr depressive Sicht auf diese Welt und wollte dann eben Gegenmaßnahmen einleiten. Und unter diese Gegenmaßnahmen gehörte eben auch, dass die Gnade vor Gott eben auch wieder verstärkt werden sollte. Und es ging eben darum, gerade auch Kinder, so jung wie möglich, wieder an den Glauben zurückzuführen. Und daher rührt eben die Entscheidung, auch Kindern im jüngsten Alter bereits die Beichte abzunehmen. Das war nur eine Reihe von Maßnahmen, weil bereits im Alter von fünf bis sieben Jahren Kinder auch viel mehr indoktriniert werden sollten, mit dem Glauben eben auch Glaubensgeschichte eingetrichtert wurde. Und vor allen Dingen, was die Todsünde angeht, dieser Begriff der Todsünde, der direkt in die Hölle führt, es sei denn eben, man beichtet. Das waren alles Begriffe, auf die viel stärker Wert gelegt worden ist bei der Ausbildung junger Kinder. Und Pius X. sah eben, wie gesagt, die Kirche unter Beschuss und hat eben deswegen gerade die heilige Eucharistie verstärkt, und da spielt die Beichte eben eine ganz, ganz große Rolle. Weil, man hat ja sehr, sehr lange, Hunderte von Jahren eben geglaubt oder konnten Katholiken nur dann zur Kommunion gehen, wenn sie vorher gebeichtet hatten.
Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Autor und Kirchenhistoriker John Cornwell über sein neues Buch "Die Beichte. Eine dunkle Geschichte". An Theologie und Praxis der Beichte ist etwas faul, so schreiben Sie wörtlich und ziehen nun eine direkte Verbindung zum sexuellen Missbrauch und der aktuellen Debatte. Und hier, könnte man ja aber sagen, Herr Cornwell, sind nun klar einzelne, kriminelle Priester verantwortlich. Inwieweit leistet denn aber dann die Theologie hier Vorschub? Sie müsste doch jeden Missbrauch der Beichte von vornherein ausschließen, tut es doch?
Cornwell: Ich glaube nicht, dass die offizielle Theologie dem in irgendeiner Weise Vorschub leistet. Aber man muss sich noch einmal genau die Umstände anschauen, in denen diese Priesterseminare funktioniert haben. Der gleiche Papst nämlich, Pius X., der die Beichte so verändert hat, weil, vorher ging man vielleicht ein- bis zweimal pro Jahr zur Beichte … Also, dieser Papst, der das nun auch gerade für Kinder obligatorisch eingeführt hatte, einmal in der Woche, er reformierte eben auch die Priesterseminare und sorgte dafür, dass man dort noch sehr viel mehr abgeschottet war, dass man noch sehr viel mehr von Frauen getrennt wurde, dass Priester so wenig Zeit wie möglich noch zu Hause verbringen konnten. Und das bezieht sich vielleicht so auf den ersten Teil des 20. Jahrhunderts, auf die ersten Dekaden. Das führte nun dazu, dass Priester eigentlich immer unreifer wurden, und in einem sozialen und auch psychologischen Sinn hat sich dadurch auch sehr viel an der Mentalität von Priestern verändert. Und nun muss man sagen, eine kleine Anzahl dieser Priester neigte dann eben zu pädophilen Tendenzen, die bis zum sexuellen Missbrauch geführt haben. Überall auf der Welt übrigens, aber besonders beispielsweise auch in den USA war es eben so, dass dieser sexuelle Missbrauch dann während der Beichte eben stattfand. Und die Beichte war eben für Priester mit diesen pädophilen Neigungen einfach ein Weg, die Verletzlichkeit von Kindern einfach zu testen, weil das eben sehr junge Kinder waren, in einer Altersgruppe zwischen sieben bis 14, sieben bis 15 Jahre alt. Und Kinder waren ja nun in dieser schwarzen Box denen auch ausgeliefert auf eine gewisse Art und Weise. Und das ist natürlich ausgenutzt worden. Und Theologie, wie gesagt, als solche halte ich da nicht wirklich zu verantwortlich, aber der Zugang zu Kindern wurde einfach so erleichtert, eben auch gerade zu so jungen Kindern. Und dann darf man ja nicht vergessen, es handelt sich ja da um eine sehr intime Form, die in der Privatsphäre eine ganz große Rolle spielt. Und selbst als man dann aus dieser schwarzen Box irgendwann herausgekommen ist, blieb das Problem der Intimität, und dass das in so einem privaten Rahmen stattfand, natürlich bestehen.
"Ich glaube schon, dass die Beichte bewahrt werden sollte"
Scholl: So, wie Sie, Herr Cornwell, die Geschichte beschreiben und wie sie auch dann wirklich zu diesen furchtbaren Auswüchsen und Verbrechen führt, liegt das auch am System der Beichte. Ist sie als theologischer Akt der Erlösung, der Gnade überhaupt noch zu retten? Wird man das überhaupt noch ernst nehmen in Zukunft, unter den Gläubigen?
Cornwell: Ich glaube schon, dass die Beichte bewahrt werden sollte, auch für die Theologie. Man muss sie nur anders bewerten. Man muss diesen ganzen Begriff, so wie die Beichte zurzeit stattfindet eben, in dem die Sünde so eine große Rolle spielt und in der Gott so eine große Rolle spielt … Heute geht es eben einfach darum, dass Gott permanent seine Meinung über die Menschheit eben ändern kann und dass Gott die Menschen für immer und ewig bestrafen könnte, wenn man eben nicht beichtet. Und die Macht, die Priester dadurch erlangen, damit einem die Schuld sozusagen vergeben wird, die ist einfach enorm. Aber man könnte eben natürlich das auch anders sehen. Es gibt ja durchaus moderne Theologen, die davon ausgehen, dass Gott ohne Vorbedingungen, quasi bedingungslos die Menschen liebt. Und dann bekommt die Sünde eben auch eine ganz andere Bewertung, dann geht eben das nur noch um eine Abkehr von Gott und dass die Selbstliebe des Menschen dabei zu stark in den Vordergrund gerät. Aber wie gesagt, das Problem ist einfach gewesen, dass man sich die Sünden hat vergeben lassen können. Und da spielte eben die Beichte eine so große Rolle. Ich würde dafür plädieren, dass man die Beichte wieder anders ansetzt, dass sie wieder eine spirituelle Hilfe für Gläubige darstellt und dass es wieder so wird, wie es ja schon einmal war, dass man nur noch in ganz seltenen Fällen beichtet, ein- bis zweimal vielleicht in seinem Leben, wenn man eine Versöhnung mit seiner Kirche, mit seiner Glaubensgemeinschaft dadurch erreichen will, von der man sich vielleicht zwischenzeitlich abgewandt hat. In dem Sinne, denke ich, hätte die Beichte durchaus noch eine sehr, sehr wichtige Rolle zu spielen, eben auch Gott wiederzufinden.
Scholl: Würden Sie, Herr Cornwell, den Beichtstuhl abschaffen?
Cornwell: Ich glaube, der Beichtstuhl ist schon abgeschafft. Heute sitzt man ja neben dem Priester und wendet sich der Öffentlichkeit zu.
Scholl: "Die Beichte. Eine dunkle Geschichte", so heißt das Buch von John Cornwell, das jetzt auf Deutsch im Berlin-Verlag erschienen ist, mit 319 Seiten zum Preis von 22,99 Euro. John Cornwell war für uns in einem Studio in London zugeschaltet und bei der Übersetzung des Gesprächs hat uns Jörg Taszman geholfen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.