Katholische Sexualmoral

Gottesliebe mit Leib und Seele

24:53 Minuten
Auf einer Hauswand sind die Worte "God’s Love has no gender" gesprüht.
Gottes Liebe kennt keine Geschlechter: Graffito an der Mauer eines Gemeindehauses in Berlin. © Deutschlandradio / Frank Kaspar
Andreas Brands im Gespräch mit Christopher Ricke · 30.06.2019
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Sexualität ist ein heikles Terrain in der katholischen Kirche: vielfach belegt mit Tabus, Verboten und rigider Moral. Der Franziskaner Andreas Brands dagegen deutet Sex als göttliches Geschenk. Ein Gespräch ohne Feigenblatt.
Christopher Ricke: 50 Jahre nach dem Stonewall-Aufstand von Homo- und Transsexuellen in der New Yorker Christopher Street tut die katholische Kirche sich immer noch schwer mit der Sexualität. Doch es gibt auch andere Stimmen. Die Zeitschrift "Franziskaner" titelt in ihrer Frühjahrsausgabe: "Sexualität - das Natürlichste der Welt". Das "Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart" widmet der katholischen Kirche und ihrer Sexualmoral einen ausführlichen Schwerpunkt. Erstaunliche Bekenntnisse sind dort zu lesen: "Sexualität ist auch eine religiöse Grundkraft und Quelle von Spiritualität, gerade im jüdisch-christlichen Kontext", heißt es da. Oder: "Sexualität ist ein Geschenk Gottes, der schönste Punkt der Schöpfung". Ein wichtiger Autor des Hefts ist der Franziskaner Andreas Brands. Guten Tag, Bruder Andreas!
Andreas Brands: Einen schönen guten Tag!

Das Thema Sex muss auf den Tisch

Ricke: In Ihrem Heft geht es um Selbstbefriedigung, um vorehelichen Geschlechtsverkehr, um schwule Priester, um Sünde und Zölibat, auch um Selbstvergewisserung. Hat das Heft in katholischen Kreisen für ein bisschen Unruhe gesorgt?
Brands: Es hat für viel Resonanz gesorgt. In erster Linie bin ich sehr dankbar für viele positive Reaktionen auf unser Heft, das wir von unserem Redaktionsteam her ganz mutig angegangen sind. Wir hatten auch natürlich Abbestellungen. Es polarisiert ein Stück, das war uns im Vorhinein auch klar. Aber ich denke, ich kann auch sagen: Es hat aufgewühlt, es hat begeistert, es hat Menschen wieder neu angesprochen, weil wir ein Thema berührt haben, worüber sich einfach nicht so leicht sprechen lässt und was aber heute notwendigerweise auf den Tisch muss.

Wunde Punkte getroffen

Ricke: Meinen Sie jetzt bei diesen unterschiedlichen Reaktionen amtskirchliche und Laienmilieus, oder geht das da in beiden Lagern so?
Brands: Das geht in beiden Lagern durcheinander. Wir haben auch im Bezieherkreis sicherlich einige, die in der katholischen Lehre sehr tief verwurzelt sind und gerne alles so weiter haben wollten, wie es bislang war. Da haben wir sicherlich auch wunde Punkte getroffen.
Der Franziskaner Bruder Andreas trägt Kutte und schaut freundlich in die Kamera.
"Wir sind eine Religion, die Inkarnation, also die Menschwerdung feiert", sagt Bruder Andreas. Dazu gehöre auch Sexualität.© Deutschlandradio / Christopher Ricke
Ricke: Gerade im Bereich der Sexualität ist es ja tatsächlich so, dass viele katholische Christen der Kirche schon seit Jahren schlichtweg die Kompetenz absprechen, einem ins Privatleben reinzureden. Natürlich gibt es auch bei Katholiken zerbrochene Ehen, da gibt es uneheliche Kinder, die dann doch getauft werden sollen. Natürlich gibt es auch vorehelichen Verkehr. Kommt das alles eigentlich noch als empfundene Sündenlast bei Ihnen im Beichtstuhl an oder sagen die Menschen inzwischen: Das bespreche ich mit jedem, aber nicht mit meinem Pfarrer?
Brands: Erst mal muss man festhalten: Die gesamte Beichtpraxis hat sich ja verändert. Was bei mir ankommt im Beichtstuhl, ist ja schon so ein gefiltertes Volumen von Menschen, aber das Thema ist immer eines, das vorkommt. Das ist etwas, was mich verwundert. Auch, weil kaum einer dieses Thema auslässt. Das heißt, damit ist eine Not verbunden.

Es geht um Dankbarkeit für Nähe

Das berührt das Thema Scham, es berührt das Thema des Alleingelassenseins, keine Möglichkeiten zu haben, damit im praktischen Leben Formen zu finden, sozusagen sein eigenes Leben mit der kirchlichen Lehre in Einklang zu bringen und daraus eine positive Kraft abzuleiten. Das heißt, Menschen thematisieren: Ich habe mich berührt, ich habe mich selbst befriedigt, ich habe eine zweite Beziehung oder was auch immer. Die ganze Palette dieses Bereiches kommt zur Sprache, und mir ist es dann immer ein Anliegen, den Menschen aufzuzeigen, dass grundsätzlich erst einmal damit etwas Positives verbunden ist, dass sie zu einer Dankbarkeit finden für das, was sie empfinden, und nicht von vornherein Tabus aufbauen und Verhinderungen installiert werden. Darum geht es nicht.
Ricke: Sie geben also keine Buße auf?
Brands: Doch, ich gebe eine Buße auf, aber die Buße ist nicht die klassische, vielleicht auch nicht die von der Kirche propagierte. Meine Buße ist die: Geh und danke deinem Gott für das, was du geschenkt bekommen hast. Denn Sexualität ist ja nicht nur ein massiver Block ins uns, sondern das sind ja ganz vielfältige Strömungen, das sind ganz unterschiedliche Empfindungen, und jeder Mensch ist anders, jeder tickt dann auch anders, jeder hat andere Bedürfnisse, und die müssen auch irgendwie raus, also sich zeigen dürfen. Der Mensch lebt, dass er auch diese Dimension seines Lebens nicht vergräbt, sondern sie blühen lässt.
Insofern ist Sexualität ein Geschenk, und dieses Geschenk muss ich zunächst einmal bejahen. Also ich selbst muss auch dazu kommen, dass ich es bejahe, annehme, wie es ist, egal wohin es mich da zieht in welche Richtung, und dann dieses Geschenk auch zu begreifen als eine Gottesgabe – für das Christentum, für mich unerlässlich, es so zu formulieren. Wir sind eine Religion, die Inkarnation, also die Menschwerdung feiert, und das geht über das Leibliche, und zum Leiblichen gehört die Sexualität. Also das ist eine innere Struktur, die leider über viele Jahrhunderte verdeckt geblieben ist.

Verbot der Verhütung hat Gläubige verbittert

Ricke: Ja, es gibt Bruchlinien, eindeutig. Also wenn ich noch ein bisschen durch das Heft blättere und damit knistere, dann mache ich mal so eine Bruchstelle zwischen Amtskirche und Gottesvolk aus. Die kann man relativ präzise identifizieren, mitten in den gesellschaftlichen Aufbruch der 68er kam die Enzyklika, also das Lehrschreiben des damaligen Papstes Paul VI., der wird von den einen als Heiliger verehrt wird, von den anderen Pillen-Paul genannt.
Brands: Die Enzyklika "Humanae vitae" hat sicherlich auch gespalten und hat vor allen Dingen viele Menschen vor den Kopf gestoßen. Das ganze Thema der Verhütung war das Thema, was virulent war und worauf Antworten gesucht wurden. Dann kam die klare Absage: Verhütung ist nicht. Das hat viele Menschen spüren lassen: Kirche argumentiert in ihrer herkömmlichen Weise immer noch so, dass Menschen sich unverstanden fühlten und das, was an Bedürfnissen da ist, an Suche nach Wegen, nicht aufgegriffen wurde. Insofern gibt es heute noch eine sehr große Verbitterung, da einfach nicht verstanden wurde, dass der gesamte Bereich der Verhütung ja auch einer ist, der den gesundheitlichen Aspekt bedient, genauso wie auch eine ungewollte Schwangerschaft bei Jugendlichen oder in Bereichen, wo es schwierig ist, die Erziehung eines Kindes überhaupt durchzuführen.

Sind Lust und Liebe Teil des göttlichen Plans?

Ricke: Paul VI. hat ja noch was geschrieben in dieser Enzyklika, das ist ja in diesem ganzen Getöse untergegangen. Er hat ja die biologischen Gesetze als Ausdruck des göttlichen Plans anerkannt, also auch die Sexualität. Da heißt es, glaube ich, ist ein bisschen sperrig formuliert, da geht es um die leibliche Begegnung von Mann und Frau als ganzheitliches Miteinander. Das heißt ja, der primäre Zweck der Ehe ist nicht mehr die Fortpflanzung, sondern man kann es sich auch zusammen schön machen. Da hat er doch auch einen Punkt getroffen.
Brands: Ja, das berührt ja den Lustaspekt, der vielfach einfach unter den Tisch gekehrt wurde. Man kann es so lesen, natürlich. Vorrangig ist die fleischliche Vereinigung zur Fortpflanzung ausgerichtet. Und dann, wenn man dem zugrunde legt, dass auch noch der Lustaspekt eine Rolle spielen darf, auch aus katholischer Sicht, dann soll das Ziel der Fortpflanzung aber nicht aus dem Blick gelassen werden. Es gilt ja nach wie vor als einer der Marschlinien durch die ganze Enzyklika.

Segen für gleichgeschlechtliche Paare

Ricke: Jetzt machen wir wieder einen Sprung nach 2019 und schauen mal auf die staatliche Ebene: Die gleichgeschlechtliche Ehe, die ist inzwischen Wirklichkeit und Normalität geworden, aber kirchliche Hochzeiten für gleichgeschlechtliche Paare gibt es nicht. Wohl aber den Wunsch, sich segnen zu lassen. Da lese ich jetzt in Ihrem Heft: "Der Segen für gleichgeschlechtliche Paare ist ein Zuspruch für diese Menschen und zugleich ein Gotteslob." Ist das noch katholisch?
Brands: Aus unserer Sicht ja. Also, es braucht eine Entwicklung in diese Richtung, da arbeiten wir an verschiedensten Stellen sehr stark dran, auch mit Bischöfen zusammen. Weil deutlich wird – und das können wir ablesen aus den Begegnungen Jesu mit den Menschen seinerzeit –, es geht immer darum, den Menschen aufzurichten, es geht immer darum, dem Menschen einen Zuspruch zukommen zu lassen, der innerlich aufrichtet und ihn zu einem stehenden, zu sich stehenden Menschen macht. Das darf Kirche nicht zu negativ einschätzen, und sie muss Formen finden, den Menschen, die in unterschiedlichsten Lebensformen leben, auch den Segen, das gute Wort, das begleitende, aufrichtende Wort zuzusprechen.
Von daher ist es ganz wichtig, dass solche Formen gleichgeschlechtlicher Segnung jetzt dringend heute in den Blick genommen werden, gestaltet werden. Es sind dann keine Trauungen im klassischen Sinn, es sind keine Brautämter, das kann man unterscheiden. Wir brauchen nur den Mut, das zu tun, weil Menschen danach sich sehnen, von der Kirche ernstgenommen zu werden in ihrer Lebensform, in ihrer Liebesform. Das, finde ich, ist etwas, wo Kirche sich nicht verweigern darf.

Gespräche über Sex: vorsichtig und tastend

Ricke: Bruder Andreas, Sie haben als Franziskaner, als katholischer Priester ja Ehelosigkeit gelobt. Sie haben sich mit Leib und Seele Christus verschrieben, aber wir wissen ja: das mit dem Leib ist so eine Sache. Wie oft können Sie denn in Ihrer Gemeinschaft solche Themen besprechen? Denn auch in Ihrer Ordensgemeinschaft gibt es sicherlich körperliche Bedürfnisse, seelische Notlagen, den Wunsch nach Aussprache. Es wird wahrscheinlich bei den Franziskanern, wie überall in der Gesellschaft, Heterosexuelle, Homosexuelle, Transidente geben.
Brands: Das auf jeden Fall. Wir haben, denke ich, eine bunte Mischung, ohne dass man deswegen ein Plakat um den Hals sich hängen muss, wie man jetzt gerade dasteht. Ich bin 30 Jahre selbst in der Ordensgemeinschaft, am Anfang ist es schwer, das ins Wort zu bringen, wenn man selbst für sich Positionen entwickeln muss oder seine eigenen Bedürfnisse entdeckt. Zumal in diesem ganzen religiösen Kontext immer die Frage ist, darf ich das sagen? Was passiert, wenn? Muss ich dann gehen?
Mittlerweile ist einiges weggebrochen von den Tabus. Es ist eine viel größere Offenheit da, was auch damit zu tun hat, dass die jungen Männer – in Anführungsstrichen junge Männer –, die zu uns kommen, alle älter geworden sind. Das heißt, heute kommt keiner mehr mit 20 ins Kloster, wo dann eh vielleicht eine gewisse Hemmnis da ist, die Themen ins Wort zu bringen. Heute sind die Männer, die ins Kloster kommen, 30, 35, 40, haben Beziehungserfahrungen hinter sich, haben also auch eine praktizierte Sexualität, die sie mitbringen in die Ordensgemeinschaft hinein, um sie jetzt anders zu gestalten.
Ich erlebe das als wohltuend, wenn wir darüber in Gespräche kommen. Ich bin in der Ausbildung seit 20 Jahren tätig und kann sagen: Die Gespräche, auch alle zum Thema Sexualität, sind immer noch tastende. Keiner fällt so mit der Tür ins Haus, sondern es sind vorsichtige Annäherungen. Es ist eine große Offenheit da, es ist vor allen Dingen das Empfinden da: Ich werde akzeptiert, wie ich bin. "I am what I am" – das ist das schöne Wort, was dann auch als Erfahrungsgrundlage da ist, und damit kann man dann auch weiterleben und suchen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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