Katholische Kirche in Irland

Wie die Iren ein erbarmungsloses Regime abschüttelten

15:51 Minuten
Zwischen Nadelzweigen liegt die Irische Flagge als Band
Irische Flagge zwischen Zweigen: Auf einem Friedhof in Dublin wird der mehr als 200 Kinder aus einem Mutter- und Kinderheim gedacht. © picture alliance / NurPhoto / Artur Widak
Von Martin Alioth · 03.02.2021
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Lange wurde das katholische Irland von einem despotischen Klerus grausam beherrscht. Erst vor Kurzem wurden wieder sterbliche Überreste von Opfern einer kirchlichen Einrichtung entdeckt. Inzwischen hat sich die Gesellschaft tiefgreifend verändert.
"Ich muss den schweren Skandal anerkennen, der in Irland durch den Missbrauch von Minderjährigen durch Angehörige der Kirche verursacht wurde", sagte Papst Franziskus im Sommer 2018.
20 Jahre zuvor hatte sich der irische Premierminister, Bertie Ahern, entschuldigt: "Im Namen des Staates und seiner Bürgerinnen entschuldigt sich die Regierung verspätet bei den Opfern von Kindesmissbrauch."
Nächstenliebe, Barmherzigkeit, "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" – diese Ideale eines christlichen Lebens sind natürlich auch die Leitbilder, die in der katholischen Kirche Irlands gelten und die in den Gottesdiensten gepredigt werden.
Doch die Kirche bekam in historischer Zeit eine besondere Rolle für die irische Bevölkerung – und das sollte sich verhängnisvoll auswirken: Sie wurde zur Schutzmacht für die Iren, die der britischen Herrschaft im Lande ansonsten schutzlos ausgeliefert waren.

In der Hungersnot festigte die Kirche ihre Macht

Mitte des 19. Jahrhunderts gipfelte die britische Herrschaft in Irland in einer unvorstellbaren Katastrophe, "the Great Famine", der Großen Hungersnot von 1845 bis 1849. Etwa ein Viertel der Bevölkerung verhungerte oder starb auf der Flucht nach Amerika. Die Bevölkerungszahl hat den damaligen Stand bis heute nicht wieder erreicht.
In dieser Zeit der Großen Hungersnot nutzte die katholische Kirche ihr Vertrauenskapital, um ihre dominante Rolle in der irischen Gesellschaft, insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen, zu etablieren. So entstand eine mächtige, klerikale und autoritäre Kirche, die nicht Barmherzigkeit, sondern Gehorsam über alles stellte.
Die inzwischen verstorbene Dokumentarfilmerin Mary Raftery hat die Auswirkungen einmal so zusammengefasst: Dieses Konstrukt führe nicht nur zum Missbrauch, sondern auch zu einer Kultur der Vertuschung.

Tausende eingesperrt in katholischen Arbeitsheimen

Als sich Irland vor 100 Jahren vom britischen Joch löste und, ohne die nordirischen Grafschaften, ein eigener Staat wurde, verbündeten sich Kirche und Staat zur gnadenlosen Durchsetzung einer katholisch geprägten Konformität.
Eine Konsequenz war die kompromisslose Durchsetzung katholisch-klerikaler Gesellschaftsvorstellungen. Nahezu 200.000 Kinder und Jugendliche aus ärmlichen Verhältnissen wurden in kirchlich geführten Arbeitsheimen eingesperrt, fast 60.000 schwangere Mädchen und Frauen wurden gezwungen, ihre Kinder in kirchlich geführten Heimen zu haben, wo die Sterblichkeit unmäßig hoch war.
Figuren und Blumen stehen und liegen am Boden, in der Mitte eine Engelsfigur, die ein Kind auf dem Arm hat
Gedenken an die Opfer: Die Sterblichkeit in den katholischen Heimen war hoch.© picture alliance / NurPhoto / Artur Widak
Ledige Mütter wuschen in Heimen und Klöstern unbezahlt Wäsche zur Sühne für ihre angeblichen Sünden, die doch nicht selten das Resultat von Inzest und Vergewaltigung waren.
Sie sei zornig über die kirchlichen Orden, sagt Susan Connolly, ein Opfer. Ihren Glauben habe sie bewahrt, aber die Kirche, ihre Kontrollen und Rituale, hasse sie - das sei doch eher ein Kult.

Rigides Moral-Regime des Klerus

Nicht nur die angeblich sündigen Frauen bekamen das rigide Moral-Regime des katholischen Klerus zu spüren.
Wo auch immer er hinkam, wurde er verstoßen, klagt Tony. Seine Mutter habe ihn verstoßen, wobei sie wohl von den Nonnen einer Gehirnwäsche unterworfen worden war. Tonys Familie war zerbrochen, deshalb war er als Kind in einem dieser Arbeitshäuser gelandet.
Die Kirche fand im Staat einen willigen Komplizen, zusammen schufen sie einen Unterdrückungsapparat, der seinesgleichen sucht. Das von der Außenwelt weitgehend abgeschottete, bäuerliche und ärmliche Irland war in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Art von Gulag: Wer auch immer von der Norm und vom Kanon abwich, wurde eingesperrt oder in die Emigration gedrängt.
Alle Abweichler vom rechten katholischen Weg galten als schuldig und wurden der Schande preisgegeben. Es war ein hoher Preis, den die irische Gesellschaft für die Befreiung der Nation von der britischen Herrschaft zahlte.

Entdecken der Verbrechen führt zu Veränderung

Missbrauch, Misshandlung und Erniedrigung waren Alltag im kirchlich beherrschten katholischen Irland. Trotzdem war die Bevölkerung kirchentreu wie in kaum einem anderen europäischen Land. Doch die Aufdeckung der Verbrechen hat einen tief greifenden Wandel bewirkt.
Irland ist heute ein anderes Land, die irische Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Was früher tabuisierte Praxis war, gilt heute als Skandal. Irlands derzeitiger Premierminister, Micheál Martin, distanziert sich von dem Regime, das die katholische Kirche unter der Obhut des Staates in Irland etabliert hatte.
Ein Frau, die eine Kerze hält, schaut sich die Rede von Micheal Martin im Fernsehen an.
"Einer perversen religiösen Moral verschrieben" - Premierminister Micheál Martin über die unhaltbaren Verhältnisse der Vergangenheit.© picture alliance / NurPhoto / Artur Widak
Er entschuldigte sich zu Beginn dieses Jahres erneut und beschrieb schonungslos die Zustände in der Vergangenheit.
"Wir verschrieben uns einer perversen religiösen Moral, der Kontrolle, der Vorverurteilung und der Selbstgerechtigkeit, aber wir ächteten unsere Töchter. Wir waren fromm, aber denen, die es am nötigsten hatten, verweigerten wir selbst elementare Freundlichkeit."

Systematische Vergehen in Institutionen und von Einzelnen

Martin bezog sich konkret auf die brutalen Heime für ledige Mütter. Aber neben dem erschreckenden Missbrauch in den kirchlichen Institutionen wurde seit der Mitte der 1990er-Jahre auch eine Reihe von sexuellen Missbrauchsfällen enthüllt.
Einzelne Priester und Ordensbrüder vergingen sich systematisch über Jahre und Jahrzehnte an Kindern. Sobald es zu Beschwerden kam, wurden die Schuldigen versetzt und fuhren fort, Kinder zu missbrauchen.
Der Historiker Diarmuid Ferriter zieht Bilanz: Anfänglich, als diese Fälle bekannt wurden, habe es immer geheißen, es handle sich um Ausnahmen, nicht um die Kultur und Gesinnung der ganzen Institution. Inzwischen sei klar, dass es um genau das ging.

Grenzenlose Verantwortungslosigkeit den Opfern gegenüber

Der Dubliner Priester Feargal McDonnagh denkt über die Vertuschung und über die grenzenlose Verantwortungslosigkeit gegenüber den Opfern nach. Er findet ein sprechendes Bild: Wer einen Piranha im Goldfischbecken aussetze, sollte sich nicht wundern, wenn am nächsten Morgen nur noch der Piranha übrig sei.
Die Menschenverachtung der Bischöfe und Äbte im Umgang mit kriminellen Priestern, gepaart mit dem flächendeckenden Unterdrückungsapparat für Missliebige und Abweichler, fügten sich zu einem schockierenden Steckbrief der Kirche zusammen. Für die Gläubigen Irlands fiel eine Welt zusammen.
Die Dokumentarfilmerin Mary Raftery, die den Skandal der Arbeitsheime enthüllt hatte, sagte: "Für die irische Bevölkerung, die feststellen musste, dass nahezu alles, woran sie geglaubt hatte, verschwunden ist, war das sehr hart, als sie das Unrecht der Bischöfe und die Abgründe, in die diese fielen, erkannte."

Der neue Wille, selber zu denken

Raftery spricht von einer Gesellschaft, die ihre Entscheidungen über Recht und Unrecht an die Kirche delegiert hatte: Das Gewissen sei an eine Gruppe von Männern ausgelagert worden, von denen heute klar sei, dass sie in groteskem Ausmaß unqualifiziert war, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen.
Und so ist die irische Gesellschaft, im schmerzhaften Prozess, gültige Werte zu finden, ein klein wenig protestantischer geworden. Das eigene Gewissen ist die neue Richtschnur.
Im Benediktinerinnenkloster Kylemore in Connemara wird das Antiphon gesungen. Die Äbtissin, Máire Hickey, ist eine aufmerksame und aufgeklärte Beobachterin der irischen Gesellschaft.
Sie diagnostiziert eine neue Willigkeit, selber zu denken: Die Leute fragten sich, wie Irland an diesen Punkt gekommen sei, und bildeten sich eine eigene Meinung. Die Äbtissin begrüßt das und wünschte sich nichts anderes.

Früher unvorstellbarer Bewusstseinswandel

So hat sich eine Kluft zwischen der Kirche des Klerus und dem Glauben gebildet.
Margaret Keaveney führte einst einen kleinen Laden, um ihre Kinder aufzuziehen, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte: Sie gehe weiter zur Messe, aber sie meine, sie sei glücklicher, seit das, was nie hinterfragt wurde, nun offengelegt werde. Da habe es allzu viel Heuchelei gegeben.
Tommie O'Connor, ein Landwirt im Ruhestand, beklagt die frühere Allmacht der Priester und ist empört, dass die Kirche Missbrauchsopfer mit Kollektengeldern entschädigte. Aber: Von der Geburt an wurde er von der Kirche und den Eltern über die Kirche unterrichtet. Diesen Glauben habe er nie verloren.
Die letzten Jahrzehnte haben zu einem früher unvorstellbaren Bewusstseinswandel geführt. Die irische katholische Kirche hat ihre moralische Autorität verspielt, aber Irland ist durch die Aufarbeitung dieser traumatischen Erfahrungen ehrlicher mit sich selbst geworden.
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