Wo die Mehrheit verloren ist
56.000 Menschen sind im vergangenen Jahr in Österreich aus der katholischen Kirche ausgetreten. Im einst kirchentreuen Österreich sind nur noch knapp 60 Prozent der Bevölkerung katholisch. Und mancherorts, wie im Wiener Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus, stellen sie nicht länger die Mehrheit.
Rudolfsheim-Fünfhaus, Meiselstraße, 15. Gemeindebezirk, höchster Ausländeranteil Österreichs. Die Pfarre Rudolfsheim. Der Backsteinbau der Pfarrkirche steht wie ein Solitär aus einer anderen Zeit inmitten eines verkehrsberuhigten Platzes, der mit funktionalen Wohnblöcken umstellt ist. Die Kirche selbst ist an diesem Sonntag relativ gut gefüllt. Um die Hundert Menschen sitzen in dicke Jacken und Mäntel gehüllt auf den harten Bänken. Das ist nicht immer so. Der Kirche gehen die Mitglieder aus. Ganz oben im Pfarrheim: das Arbeitszimmer von Pfarrer Martin Rupprecht.
"Ja, vor drei Tagen erst kam ein E-Mail, ein Mann hat sich eine Wohnung hier angeschaut neben der Kirche und lässt fragen, wie oft hier die Glocken läuten und das ist für ihn ein Kriterium, ob er die Wohnung auch nehmen kann oder ob er sagt, es ist zu oft oder zu laut."
Gott befahl die Gründung einer Gemeinde
Rupprechts Kirche ist in die Defensive geraten. Katholiken gibt es im 15. Bezirk nur noch 30 %. Vor 40 Jahren waren es noch 85 %. Rupprecht hat in der Türkei gelebt, er hat die christlich-islamische Begegnungsstelle in Wien gegründet, er kennt die Situation der Katholiken in Asien und Afrika. Und im 15. Bezirk.
"Also, hier ist ein demographischer Umbruch, bei dem natürlich die Öffentlichkeit argumentieren könnte: Ja, ihr seid nur mehr eine Minderheit von 30 %, warum müssen jetzt die Einrichtungen alle beeinträchtigen?! Aber hier ist doch noch ein Verständnis da, dass wir eine prägende Kraft hier sind und ich hoffe, dass der Rückgang nicht so schnell geht und wenn es eine Änderung gibt oder falls mal eine Glocke abgeschafft werden muss, dass ich das nicht mehr erleben muss."
Rupprecht bekommt anonyme Briefe, in denen die Absender ihm vorwerfen, sich dem islamischen Glauben anzubiedern. Andere fordern ihn auf, dafür zu sorgen, dass in der Umgebung der Kirche keine Jugendlichen mehr abhängen. Oder sie beschweren sich über das Glockenläuten. Nicht einfach, all das unter einen Hut zu bringen. In Sichtweite des Pfarrheims hat eine evangelikale Glaubensgemeinschaft ihren Sitz. Die hätten wir früher als Sekte bekämpft, sagt der Pfarrer. Er freue sich schon auf den Tag, wo ein Supermarkt in eine seiner Kirchen einziehe, sagt er etwas resigniert. Dann würden die Leute endlich mitbekommen, wie weit es schon gekommen sei.
"Foursquare. JHU" steht auf dem Schild der Freikirche. "Jesus heilt uns, hört uns, hilft uns", bedeutet die Abkürzung. Aus dem Innern der Versammlungsräume ertönt Lobgesang. Hier ist es warm, jeder Besucher, auch Fremde werden mit Handschlag begrüßt. Im Nebenraum steht ein kaltes Büfett, es geht familiär zu. Die Missionare David Yang und Anna Kim stammen aus Südkorea. Sie ist vor 25 Jahren als Krankenschwester nach Wien gekommen.
"Vor drei Jahren hat Gott uns klar gesagt: Ihr müsst für die Österreicher eine Gemeinde gründen, dann haben wir gehorcht (lacht). Am Anfang war es für uns sehr schwer, dem Willen Gottes zu gehorchen. Aber wir haben gedacht: OK, wenn es dein Wille ist, werden wir anfangen, auch nur mit unserer Familie."
Hunderte rumänisch-orthodoxe Gläubige
An die 50 Gläubige sind an diesem Sonntag gekommen. Zwei Stunden lang wird Gott gepriesen, dann kommt der familiäre Teil. Anna Kim kennt die katholische Liturgie, wie sie sagt. Pfarrer Rupprecht ist ihr nicht bekannt. Zu JHU kämen auch Menschen, die die katholische Kirche verlassen hätten, sagt sie, Menschen, die die Wahrheit suchten. So wie es scheint, werden die Versammlungsräume bald zu klein sein.
Ein paar Straßen weiter, in der Pouthongasse 16a, drängen sich Hunderte rumänisch-orthodoxe Gläubige in der ehemals katholischen Kirche St. Antonius. Weihrauchgeruch durchzieht den großen Kirchenbau. Alle Bänke sind dicht besetzt, auch in den Seitenflügeln harren die Menschen geduldig aus. Der Metropolit aus Deutschland ist für diesen Tag angereist und predigt sehr lange. St. Antonius wurde 2013 an die stark wachsende rumänisch-orthodoxe Gemeinde verkauft. Zu den katholischen Messen kamen oft nur mehr 20, 30 Christen, sagt Pfarrer Martin Rupprecht. Dann wurden die Pfarren neu zugeschnitten, einige Gemeinden zusammengelegt. Im Zuge der Umstrukturierung wurde sogar eine Kirche an die Serbisch-Orthodoxen verschenkt. Bischofsvikar Nicolae Dura hat den Bau so übernommen, wie er war. Lediglich eine Ikonenwand im Altarbereich ist hinzugekommen.
"Vor zwei Jahren haben wir bemerkt: Es sind immer mehr Rumänen in der Kirche, unsere Kirche ist sehr klein geworden. Und jetzt haben wir bemerkt: Immer ist wenig Platz, gab es Situationen, wo die Gläubigen noch vor der Kirche auf diesem Platz gestanden sind, und dann haben wir wieder mit katholischer Kirche gesprochen und diese Kirche war fast frei und so haben wir diese Kirche vor zwei Jahren auch übernommen. Durch einen christlichen Preis, würd ich auch sagen (lacht)."
Bei der orthodoxen Liturgie ist das zu erleben, was Pfarrer Martin Rupprecht Glaubensfrische nennt. In seiner Kirche lasse die manchmal zu wünschen übrig. Ebenso akzeptierten die Menschen seine natürliche Autorität nicht mehr so, wie er das aus seiner Heimat, der Oberpfalz, kenne. Aber Gott habe ihn nun mal nach Wien geschickt, sagt er. Hier hat er seine Aufgabe. Hier wird er auch bleiben.
"Es gibt viele Kräfte, die die Kirche abschaffen wollen, die sich freuen, wenn etwas verschwindet, das ist natürlich eine kurzfristige Sicht, weil das christliche Kulturerbe in Europa schlechthin auch tragend ist für das Miteinander, für das Gemeinwesen, für die politische Kultur. Da würde dann glaube ich auch die Gesellschaft zerbrechen."