Kathedralen

Die Stararchitekten aus dem Mittelalter

Blick auf den Kölner Dom
Blick auf den Kölner Dom © dpa / picture alliance / Horst Ossinger
Von Thomas Senne  · 30.11.2014
Von Straßburg über Köln bis Freiburg: Dieser bibliophil gestaltete Prachtband führt seine Leser zu den gotischen Kathedralen im Rheinland - und verdeutlicht das erstaunliche Talent der mittelalterlichen Baumeister.
Auf dem Weg zu einem Wahrzeichen - dem Domturm von Frankfurt am Main. Er ruht auf einem Quadrat, verwandelt sich im dritten Geschoss in ein Achteck und endet schließlich in einer Schalenkuppel mit bekrönender Fiale, einem schlanken Ziertürmchen. Entstanden ist das spätmittelalterliche Bauwerk um 1415. Eine Grundrisszeichnung des Stadtwerkmeisters Madern Gerthener konnte jetzt als eine frühe Planungsstufe des Turms identifiziert werden. Neben anderen alten Architekturrissen, Fotografien und modernen digitalen Modellen ist die auf Pergament ausgeführte Zeichnung im opulenten Band "Architektur der Gotik - Rheinlande" abgedruckt. Er enthält auch wichtige neue Erkenntnisse, Entwürfe und Rekonstruktionen zu anderen gotischen Kirchen im rheinischen Gebiet von Straßburg über Köln bis Freiburg. Verfasst wurde der großformatige Foliant von dem Karlsruher Architekturhistoriker Johann Josef Böker und seinen Mitarbeitern.
"Ich hatte in den letzten Jahren die Gelegenheit, mit einem Team von sehr engagierten Mitarbeitern einen Gesamtkatalog der gotischen Baurisse herzustellen, also aller mittelalterlichen Architekturzeichnungen, die erhalten sind. Bisher hat man mit ihnen wenig anfangen können, aber es hatte sich dabei herausgestellt, dass, wenn man die Pläne ernst nimmt, wenn man sie genauso liest, wie sie gedacht gewesen waren, es sich dabei wirklich um eine ganz neue, andere Sprache handelt, die mit unserem Architekturdarstellungsvermögen wenig zu tun hat, dass man dabei auf sehr spannende Zusammenhänge stoßen kann und Projekte rekonstruieren kann, die bisher einfach nicht bekannt gewesen waren."
Architektur zu Ehren Gottes
Während heute Hunderte von Zeichnungen für ein Großprojekt erforderlich sind, genügten den europaweit agierenden mittelalterlichen Baumeistern für die Errichtung eines Kirchturmes oft nur ein Grundriss und ein daraus entwickelter Aufriss. Ein Beleg für das Können dieser Architekten.
"Anders als wir heute denken, war das Mittelalter eine Zeit, in der ein ganz großer Wissenstransfer stattgefunden hat. Also die Idee des Bauhüttengeheimnisses, das nicht hinausgetragen werden durfte, hat sich nach unseren Forschungen nicht bestätigt. Was wir zum einen gefunden haben, sind Architekturzeichnungen von einer Baustelle, die sich im Besitz einer anderen befunden haben. Da gab es offizielle Austausche. Man hat offiziell nachgefragt, nach Turmzeichnungen vor allem. Aber es gab dann auch die kleinen Diebstähle von Zeichnungen. Neue Meister, die woanders hingekommen sind, haben sich aus dem Planbestand ihrer alten Hütte bedient, um vorzuzeigen, was sie dort gesehen haben."
Zwar verglichen manche Zeitgenossen damals die Errichtung gotischer Kathedralen auch mit dem Turmbau von Babel. Die meisten aber betrachteten diese Kirchen als Stein gewordene theologische Vorstellungen zur Ehre Gottes, versehen mit einer Lichtmetaphorik.
"Es ist diese Lichtarchitektur, die symbolisch eine große Rolle spielt. Es ist das Gotteslicht, das durch die Fenster dringen kann, ohne dabei die Substanz zu verändern. Und es entsteht neben dieser weltlichen Außenseite des Gebäudes im Inneren der Gebäude ein großes theologisches Gefüge von Architektur, die als Vermittlung dienen soll zur Gotteserkenntnis, zur Erfahrung eines göttlichen, eines nicht irdischen Lichtes, einer anderen Wirklichkeit."
Der bibliophil gestaltete Prachtband macht deutlich, wie stark führende Baumeister gotischen Kathedralen, Münstern oder Domen ihren Stempel aufgedrückt haben. Es handelte sich um Stararchitekten, wie wir heute sagen würden. Oft betreuten sie gleichzeitig mehrere Bauhütten nebeneinander. Besondere Strahlkraft besaßen vor allem die Straßburger Bauhütte und ihr langjähriger Leiter, den schon Goethe in höchsten Tönen gelobt hatte: Erwin von Steinbach. Über dessen Wirken präsentiert Johann Josef Böker in seiner von editorischer Sorgfalt geprägten Publikation ebenfalls neueste Forschungsergebnisse.
"So wie ich es im Studium gelernt habe, war Erwin von Steinbach einfach eine fiktive Persönlichkeit, erfunden – hat man fast immer gesagt – von Goethe und im 19. Jahrhundert im Sinne des Geniekults aufgewertet, während das 20. Jahrhundert äußerst skeptisch gegenüber solchen Genieüberhöhungen gewesen ist und am Ende sogar die Person von Erwin von Steinbach in Frage gestellt hat. Es stellt sich aber heraus: Die Person Erwin von Steinbach ist wirklich eine historische Persönlichkeit. Wir wissen über ihn, wir wissen über seine Familienverhältnisse sehr viel. Wir haben sein Todesdatum. Wir haben seine Grabinschrift im Münsterhof, d.h., wir wissen genau, dass er 50 Jahre, grob gesagt, leitender Baumeister der Hütte von Straßburg war. Wir müssen von dort aus einfach historisch sagen: Alles, was in diesen 50 Jahren gebaut worden ist, ist von Erwin von Steinbach geplant gewesen und von ihm umgesetzt worden."
Pflichtlektüre für Kirchenhistoriker
Bei den Recherchen zu ihrem Buch stießen die Wissenschaftler auf einen doppelseitigen Riss, der dokumentiert, dass Erwin von Steinbach auch bei der Errichtung des Freiburger Münsters maßgeblich beteiligt war. Heute befindet sich dieser sogenannte "Nürnberger Riss", ein etwa 2,30 Meter mal 32 Zentimeter großes Pergament, im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg – in einem gut gesicherten Depot, das als Alarmzone besonders gekennzeichnet ist, sagt die Leiterin des dortigen Kupferstichkabinetts, Yasmin Doosry.
"Wir sind im zweiten Depot der grafischen Sammlung. In diesem zweiten Depot bewahren wir gerahmte Objekte auf, die wir nicht in unserem normalen Ordnungssystem unterbringen können, weil sie zu groß sind."
Und dann beseitigen mehrere Restauratoren im Germanischen Nationalmuseum vorsichtig die Verpackung des gerahmten Nürnberger Risses. Darunter auch Yvonne Hilpert. Sie hatte das ursprünglich gewellte Pergament fachgemäß geglättet und mit einem eleganten Passepartout versehen.
"Der Riss zeigt auf der Vorderseite den Münsterturm des Freiburger Münsters, einmal im Aufriss und unterhalb den Grundriss."
Auf der Rückseite aber enthält das Pergament Entwürfe für die Kirche von Breisach, jedoch auch eine ausradierte Grundrisszeichnung des Planes von der Westfassade des Straßburger Münsters. Ein verworfenes Blatt, aber ein Beweis dafür, dass hier Erwin von Steinbach seine Finger mit im Spiel gehabt hatte.
Während das Original wieder fein säuberlich verpackt anschließend im Depot verstaut, aber wegen seiner Lichtempfindlichkeit nur noch selten gezeigt wird, kann der Leser den Riss auf ganzseitigen Abbildungen in dem voluminösen Gotik-Band in aller Ruhe betrachten - so lange er möchte. Für interessierte Laien und Liebhaber der Gotik ist dieses Buch mit seinen 384 Seiten eine wahre Fundgrube. Für Theologen, Bibliothekare oder Kirchenhistoriker aber Pflichtlektüre: unentbehrliches Grundlagenmaterial für die weitere Forschung und den wissenschaftlichen Diskurs über rheinische Kirchen der Gotik. Prädikat: besonders wertvoll.