Kate Tempest

Die wichtigste Stimme unserer Tage

Das britische Multitalent Kate Tempest bei einem Konzert in Barcelona 2015
Das britische Multitalent Kate Tempest bei einem Konzert in Barcelona 2015 © imago/ZUMA Press
Von Oliver Schwesig · 05.10.2016
Kate Tempest ist die derzeit wohl bedeutendste Poetin Englands. Ihr Thema ist die Einsamkeit der Großstadtmenschen in digitalen Zeiten. Über ihr neues Album "Let them eat chaos" hat Oliver Schwesig mit der Künstlerin gesprochen.
Ihr letztes Soloalbum "Everybody down" war 2014 für den renommierten Mercury Prize, den bedeutendsten britischen Musikpreis nominiert. Kate Tempest hat Bücher mit Gedichten und Kurzgeschichten veröffentlicht, hat in Großbritannien als Spoken Word Performerin einige Preise bekommen. Vor einem halben Jahr erschien ihr erster Roman "Worauf Du Dich verlassen kannst". Inzwischen kuratiert sie schon Festivals auf der Insel – und das alles mit gerade mal 30 Jahren.
In dieser Woche nun steht das neue Album von Kate Tempest in den Läden "Let them eat chaos". Kate Tempest entwirft auf der Platte sieben einsame Figuren, die alle zur selben Zeit in der Nacht aufwachen, in London im Jahr 2016. Klaustrophobisch, gehetzt, gentrifiziert.
Kate Tempest entpuppt sich wieder als scharfe Beobachterin und als große Humanistin unserer Zeit. Ein beeindruckendes Werk, findet Oliver Schwesig. Er hat sich mit Kate Tempest über ihr Album und das Handwerk einer rappenden Poetin im Jahr 2016 unterhalten.

Manuskript zum Beitrag:
"For language to live, for literature to live fully, these three parts need to be connected and blazing with equal intensity – the writer, the text and the reader."
Mit diesem Satz entlässt sie einen nach einer halben Stunde Interview. Kate Tempest spricht mit der Autorität und Erfahrung einer erfolgreichen Groß-Autorin, die gerade ihren zehnten Roman herausgebracht hat.
Und dass sie so klug und dringlich spricht, hat natürlich mit ihrer Kunst zu tun. Wenn Kate Tempest sich einmal warm gequatscht hat, dann redet sie so feurig und direkt wie sie in ihren Songs rappt.
Seit sie 16 ist, schleift Tempest an ihrer Sprachkunst. Jahrelang übte sie auf Poetry Slams, lernt, sich im männerdominierten Hip-Hop-Geschäft zu behaupten. Und sie schnappte auf, was vor ihrer Haustür im Süden Londons passierte.
Die Art und Weise wie Kate Tempest heute Elend und Alleinsein in der modernen Großstadt filtert; wie sie Figuren erfindet, in deren Leben kriecht, mit ihren Sehnsüchten und ihrer Trauer leidet; und wie sie das große Miteinander, ja, die Liebe beschwört - das alles macht sie zur wichtigsten Stimme Englands unserer Tage.

Ihre Figuren eint eine unglaubliche Erschöpfung

Thematisch bleibt Kate Tempest sich auf ihrem neuen Album "Let them eat chaos" treu. Konzeptionell gibt’s noch ´ne Schippe drauf. Wir befinden uns im modernen London. Sieben Charaktere bevölkern die Songs. Sieben Geschichten von Alleinsein und Liebessehnsucht. Da ist Alesha, die alleinerziehende Mutter, da ist Esther, die Sozialarbeiterin oder Bradley, der einsame PR-Manager. Sie alle vereint eine unglaubliche Erschöpfung. Von den Zuständen. Vom Leben. Kate Tempest lässt diese Figuren zu einem Zeitpunkt aufwachen: Nachts um 4:18 Uhr.Was ist das besondere an dieser Uhrzeit?
"Weil es nicht mehr Nacht ist und auch noch nicht Tag. Und diese paar Stunden vor Sonnenaufgang sind eine besondere Zeit in einer Stadt – du bist allein. Der Tag gehört noch nicht deinem Arbeitgeber. Und er gehört auch nicht mehr zur vergangenen Nacht. Ich wollte diese sieben Figuren zu diesem Zeitpunkt zusammen bringen und mich den Fragen auseinandersetzen, die sich einem bei dieser Idee stellen: Warum sind sie alle wach um diese Uhrzeit? Wie fühlt es sich an, zu diesem Zeitpunkt wach zu sein? Undsoweiter.
Wenn ich Deadlines habe und viel arbeite, ist das oft auch so: Ich komme von einem Konzert zurück, schlafe ein paar Stunden, wache auf kurz vor Sonnenaufgang schreibe etwas bis nach Sonnenaufgang und dann fängt der Tag mit den üblichen Dingen an, die man so macht. Für mich ist das eine besondere Zeit."
Wie ihr erstes Album und der erste Roman spielt auch "Let them eat chaos" im Süden Londons. Der Lieblings-Spielort der Geschichten von Kate Tempest.
"Ich bin der Meinung, dass, je genauer man seine Geschichte lokalisiert, umso so universeller kann sie werden. Ich kann am ehrlichsten schreiben über das, was ich kenne - das Zuhause. Ich kann Südlondon genau beschreiben. Ich verstehe es. Südlondon ist alles, was ich je gelernt habe. Wenn ich also eine Story lokalisierte, dann wähle ich nun mal den Ort, der mir am vertrautesten ist, der die meiste Schärfe hat und Wahrheit. Und ich hoffe, es wird damit auch eine Wahrheit für andere, die nicht aus Südlondon kommen, aber auch ein Zuhause haben."

Aus Liebesbeziehungen ist ein Wisch bei Tinder geworden

Womit wir beim wichtigsten Thema in Kate Tempests Musik wären. Die Suche nach Verbindung in unseren hektischen, gentrifizierten Zeiten. Die Poetin beklagt, dass wir heute technisch so verbunden sind wie noch nie zuvor und dennoch seien wir endlos weit voneinander entfernt. Aus den Liebesbeziehungen der Menschen ist ein Wisch bei Tinder geworden. Kate Tempest rappt dagegen an.
"Und wir finden also diese sieben Figuren in einem Moment der Einsamkeit wieder. Aber die Lösung kommt in Form eines Sturms. Als der losbricht, treten sie alle vor ihre Tür. Und kommen unter etwas Größerem zusammen - in ihrer Menschlichkeit. Ein Moment der Freude und Gemeinschaft ist das. Die Idee für mich war: Wenn wir anerkennen, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind, also mehr als die kleine Tunnelsicht auf unser Leben, dann können wir etwas Erlösung finden, etwas Gemeinschaft – was diesen Figuren ja fehlt und ihre Einsamkeit und fehlende Liebe erklärt."
"Let them eat chaos" ist ein Album, das viel vom Hörer abverlangt. Nicht eine Sekunde will man den Faden verlieren, so fesselnd ist der Vortrag, so spannend die Geschichte. Nichts für nebenbei. Parallel zur Platte erscheinen die Songtexte als Langform-Gedicht. Es lohnt sich mitzulesen, auch wenn es 45 A4 Seiten sind.
Die Musik schrieb der englische Produzenten Dan Carey. Seine Soundlandschaften stehen jetzt noch mehr im Dienst der Texte, als beim ersten Album. Dunkle Beats, Klangwabern und minimalistische Klänge. Alles andere als kompakte Songs.
So dass man den Eindruck bekommt, hier doch nicht vor einem Album zu stehen, sondern eher vor einem 45-seitigen vertonten Gedicht. Mehr noch: In dem Wechsel aus rezitativen Teilen und arienhaften Stücken könnte man die Struktur einer Oper erkennen. Genial! Deshalb geht "Let them eat chaos" als klassisches Album nun nicht mehr durch.
Nach einer dreiviertel Stunde angespannten Hörens sinkt man erschöpft zurück. Und auch ein bisschen erleuchtet. Der letzte Satz von Kate Tempest bleibt lange hängen. Ein passender Aufruf für unsere heutige Zeit und irgendwie auch die Zusammenfassung ihres Werks: Wacht auf und liebt euch mehr. (Wake up and love more)
Mehr zum Thema