Kate Elizabeth Russell: "Meine dunkle Vanessa"

Eine Geschichte von Schmerz und Manipulation

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Buchcover "Meine dunkle Vanessa" von Kate Elizabeth Russell vor einem grafischen Hintergrund
In Kate Elizabeth Russells "Meine dunkle Vanessa" erzählt die mittlerweile erwachsene Romanheldin von einem Herbst vor 17 Jahren. © Verlag C. Bertelsmann / Deutschlandradio
Von Sonja Hartl · 25.08.2020
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Ein weiblicher Gegenentwurf zu Nabokovs "Lolita": Kate Elizabeth Russells "Meine dunkle Vanessa" ist ein brisanter, sehr gegenwärtiger Roman für die MeToo-Debatte - über eine 15-jährige Schülerin und einen 42-jährigen Englischlehrer.
Es ist ein dunkelrotes Ahornblatt, mit dem Jacob Strane die Haare von Vanessa Wye vergleicht. Sie spürt, wie ihr Herz daraufhin schneller schlägt, sie glaubt, sie sei verliebt. Vanessa ist 15 Jahre alt, Strane ist ihr 42-jähriger Englischlehrer an ihrem Internat in Maine.
Es entspinnt sich – ja, was genau? Eine Liebesgeschichte oder die Geschichte fortwährender sexualisierter Gewalt? Um diese Deutung ringt die mittlerweile erwachsene Vanessa im Jahr 2017, wenn sie in Kate Elizabeth Russells "Meine dunkle Vanessa" von diesem Herbst vor 17 Jahren erzählt.

In einem Narrativ gefangen

Russell macht es ihren Leserinnen und Lesern mit ihrem Debüt alles andere als einfach. Der Roman beginnt 2017, als sich Strane zum wiederholten Male Vorwürfen ausgesetzt sieht, dass er eine Schülerin belästigt habe. Er nimmt Kontakt zu Vanessa auf und lässt sich von ihr bestätigen, dass sie niemals gegen ihn aussagen würde. Auch sie glaubt diese Vorwürfe nicht.
Viel zu gefangen ist sie weiterhin in dem Narrativ, das er vor 17 Jahren für die damals einsame, unsichere 15-Jährige mit der Hilfe von Gedichten von Sylvia Plath, Mark Frost und immer wieder Vladimir Nabokov errichtet hat: Vanessa ist besonders, sie ist so verführerisch, dass er ihr nicht widerstehen konnte. Sie sei die Einzige für ihn – und noch heute ist sie überzeugt, sie ist zumindest die Einzige, mit der er jemals Sex hatte.

Schmerzhafte Schilderungen

An diesen Glauben klammert sich die erwachsene Vanessa. Sie will sich nicht eingestehen, dass sie manipuliert wurde. Und so stehen in diesem Buch schmerzhafte Schilderungen sexualisierter Gewalt, die im Nachhinein von Vanessa umgedeutet oder verdrängt werden. Sie klammert sich verzweifelt an die Überzeugung, sie sei kein bemitleidenswertes Opfer, sie habe es selbst gewollt.
Doch beim Lesen durchschaut man diese Manipulation, man durchschaut Stranes Worte, erkennt das dahinterliegende Denken und glaubt zu keiner Sekunde, dass es tatsächlich eine Liebesgeschichte ist.
"Meine dunkle Vanessa" erinnert an fraglos an Nabokovs "Lolita", aber der Roman wechselt nicht einfach die Perspektive von dem erwachsenen Mann zu dem jungen Mädchen. Vielmehr zeigt er, welche Gefahr von der romantischen Verklärung der sexualisierten Gewalt in "Lolita" ausgeht, wie mächtig das nur langsam ins Wackeln geratene Bild von der jugendlich-verführerischen Nymphe ist.

Eigene Erlebnisse der Autorin

Als das Buch im Frühjahr 2020 in den USA erschienen ist, wurde Kate Elizabeth Russell vorgeworfen, sie habe sich an den Memoiren der mexikanisch-amerikanischen Autorin Wendy Ortiz bedient – sie würde das Leid einer anderen Autorin zu ihrem Vorteil nutzen.
Im Zuge des öffentlichen Drucks gab Russell schließlich zu, dass entgegen der Vorbemerkung in dem Roman eigene Erlebnisse zu "Meine dunkle Vanessa" geführt haben.
Bei allen berechtigten Wünschen und Forderungen nach Authentizität in der Literatur: Man muss ein Trauma nicht erlebt haben, um darüber einen Roman zu schreiben. Und vor allem muss man weder beweisen noch öffentlich darüber sprechen, dass man traumatisiert wurde.

Kate Elizabeth Russell: Meine dunkle Vanessa
Übersetzt von Ulrike Thiesmeyer
Verlag C. Bertelsmann, München 2020
448 Seiten, 20 Euro

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