Katalonien-Konflikt

"Befürworter des Verbleibs wurden als Verräter gebrandmarkt"

Ein Mann hält in einer Menschenmenge ein Plakat mit der Aufschrift "Stolz, Katalane und Spanier zu sein" in die Höhe.
Demonstration für die Einheit Spaniens in Barcelona. © dpa/Nicolas Carvalho Ochoa
Walther Bernecker im Gespräch mit Dieter Kassel  · 10.10.2017
Am Abend will der Chef der Regionalregierung in Barcelona eine Grundsatzerklärung abgeben. Der Spanien-Experte Walther Bernecker ist skeptisch, ob Carles Puigdemont es wagen wird, die Unabhängigkeit Kataloniens zu verkünden. Er sieht mit Sorge, wie gespalten die Bevölkerung in dieser Frage ist.
Die Bürgermeisterin von Barcelona hatte im Katalonien-Konflikt zu Entspannung aufgerufen. Auch der Spanien-Experte Walther Bernecker hofft, dass der Chef der Regionalregierung in Barcelona, Carles Puigdemont, es nicht auf den Bruch mit der spanischen Zentralregierung ankommen lässt. "An vielen Beispielen lässt sich aufzeigen, dass die heutige katalanische Gesellschaft sehr gespalten ist", sagte Bernecker im Deutschlandfunk Kultur. "Das ist eines der negativen Ergebnisse dieses gesamten Prozesses, ein Ergebnis übrigens, das weit über den heutigen Tag hinausreichen wird und das sicherlich ein Novum in dieser Art in der katalanischen Geschichte darstellt." Die Entwicklung habe bereits einen Weg genommen, der sehr schädlich für die Katalanen, aber auch für das Verhältnis Katalonien–Spanien sei. (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wenn man ein chronischer Optimist ist, dann kann man allein die Tatsache, dass der Chef der Regionalregierung in Barcelona, Carles Puigdemont, heute um 18 Uhr seine Grundsatzerklärung abgeben will, dann kann man das schon positiv werten, denn eigentlich wollte er das ja schon gestern tun und hat darauf verzichtet, auch wenn er vielleicht nie zugeben würde, dass er das getan hat, weil die spanische Zentralregierung gestern eine ganze Sitzung des Regionalparlaments ausdrücklich verboten hatte.
Wie dem auch sei, heute um 18 Uhr soll es die große Erklärung von Puigdemont geben, und nun ist natürlich die Frage, was wird er erklären, und was wird seine Erklärung bedeuten. Darüber wollen wir jetzt sprechen mit Walther Bernecker, er ist einer der größten Spanienexperten Deutschlands und war bis zu seiner Emeritierung Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg am Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, und zwar Professor für Auslandswissenschaft. Herr Bernecker, schönen guten Morgen!
Walther Bernecker: Guten Morgen!
Kassel: Was erwarten Sie denn für dieser Erklärung heute um 18 Uhr, was wird er, Ihrer Meinung nach, voraussichtlich sagen?
Bernecker: Nun, die Spannung ist ja groß. Er selber hat sich bisher nicht eindeutig dazu geäußert, aber seine Umgebung, etwa der sogenannte Außenminister Kataloniens, Romeva, und viele andere haben angedeutet, er kann eigentlich nur die Unabhängigkeit erklären. Alles andere wäre ein Gesichtsverlust, alles andere wäre ein Rückschritt in diesem Kampf um die Unabhängigkeit. Nun bin ich mir allerdings nicht ganz sicher, ob er so platt, ganz einfach sagen wird, heute erklärt sich Katalonien von Spanien unabhängig.
Meine Vermutung geht eher dahin, aufgrund der Erfahrungen der letzten Tage, aufgrund eines Referendumsergebnisses, das man sehr vieldeutig eigentlich interpretieren kann, dass er schon über die Unabhängigkeit sprechen, dass er diese auch ankündigen wird, dass er sie aber nicht in einer dezidierten und sofortigen Form aussprechen wird, sondern dass er sich in der einen oder anderen Weise noch etwas für die Zukunft vorbehält. Vielleicht könnte man sagen, so eine Art dilatorische Unabhängigkeitserklärung, nicht zurücktreten, aber auch nicht den ganz entscheidenden Schritt wagen, denn das würde bedeuten, dass heute der definitive Bruch mit Spanien erfolgte, und dazu scheint mir die Stimmung auch in seiner eigenen Regierung noch nicht ganz überzeugend zu sein.

Geteilte Öffentlichkeit

Kassel: Das ist ja auch wirklich interessant, was wir da in den letzten zwei, drei Tagen erlebt haben: Zuerst die großen Demonstrationen gegen eine Unabhängigkeit, in Barcelona, in Katalonien selber am Sonntag, und gestern dann noch eine klare Äußerung der Bürgermeisterin von Barcelona, die auch vor einer solchen Unabhängigkeitserklärung abrät und davor warnt. Das zeigt doch, dass auch die Politik und die ganze Gesellschaft da sehr zerstritten, sehr gespalten ist.
Bernecker: Also die Bürgermeisterin von Barcelona war ja ohnehin von Anfang an sehr ambivalent dieser ganzen Sache gegenüber. Bis ganz zuletzt hat sie offengelassen, ob sie überhaupt Urnen aufstellen lassen wird in kommunalen Einrichtungen, und eine ganz klare Aussage zugunsten der Unabhängigkeit hat sie nie gemacht, und das gilt selbstverständlich für die katalanische Gesellschaft. Es ging ja eigentlich immer um das Recht zu entscheiden, das heißt, grundsätzlich darum, ich möchte meine Meinung offiziell kundtun.
In den letzten Tagen hatten sich auch die Gegner der Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien zu Tausenden auf die Straße begeben.
In den letzten Tagen hatten sich auch die Gegner der Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien zu Tausenden auf die Straße begeben. © imago / Zuma Press
Aber das heißt nicht, dass alle die, die auf die Straße gehen, auch Kämpfer für die Unabhängigkeit sind. An vielen Beispielen lässt sich aufzeigen, dass die heutige katalanische Gesellschaft sehr gespalten ist. Das ist eines der negativen Ergebnisse dieses gesamten Prozesses, ein Ergebnis übrigens, das weit über den heutigen Tag hinausreichen wird und dass sicherlich ein Novum in dieser Art in der katalanischen Geschichte darstellt. Hier, muss man sagen, hat die Entwicklung einen Weg genommen, der sehr schädlich für die Katalanen, aber auch für das Verhältnis Katalonien–Spanien ist.
Kassel: Wenn Sie von vielen Beispielen für diese Spaltung reden, haben Sie vielleicht eins parat, das wirklich ein gesellschaftliches Beispiel ist, nicht direkt was mit Politik und Wirtschaft zu tun hat?
Bernecker: Gesellschaftlich-ökonomisch könnte man sagen, beispielsweise wenn innerhalb von ganz bestimmten Organisationen – ich denke zum Beispiel an den Unternehmerverband – sehr klare, unterschiedliche Positionen zu dieser Frage sind. Größere Unternehmen haben größte Bedenken, was in Katalonien vor sich geht, sie drohen mit Abgang, sie sind zum Teil schon abgegangen. Kleine und mittlere Unternehmen, die zum Beispiel mehr nur auf den katalanischen Markt hin orientiert sind, die wiederum wollen bleiben. Das hat auch dazu geführt, dass es hier nicht nur um ökonomische Fragen geht, sondern auch um gesellschaftliche, weil hier Kollegen, Freunde unterschiedliche Positionen vertreten, und das geht bis ins Private hinein, wie mir aus vielen Quellen referiert worden ist.

Als Verräter gebrandmarkt

Kassel: Aber egal, was heute um 18 Uhr verkündet wird im Regionalparlament, werden sich diese Gräben wieder zuschütten lassen?
Bernecker: Nicht so schnell, denn sie sind sehr aggressiv geworden in letzter Zeit. Man hat sich gegenseitig beleidigt. Die Befürworter eines Verbleibs bei Spanien, so haben mir mehrere erzählt, trauen sich gar nicht mehr so richtig, in der Öffentlichkeit ihre Meinung zu sagen, nur noch, wenn sie in großer Masse auftreten, wie das am letzten Sonntag etwa der Fall ist.
Also hier hat sich eine deutliche Veränderung in der katalanischen Gesellschaft, man kann sagen: eine Verschlechterung ergeben, und sicherlich wird die Zeit wiederum Wunden heilen, aber es wird dauern. Vor allem, man steht sich jetzt gegenüber in einer Frage, die bei vielen eben keine rationale, sondern eine höchst emotionale Frage ist. Befürworter des Verbleibs bei Spanien wurden schon von ihren Nachbarn als Verräter gebrandmarkt. So etwas bleibt tief im Herzen der Menschen und lässt sich nicht ohne Weiteres wieder beiseiteschieben.
Kassel: Halten Sie es eigentlich für richtig, dass sich die Europäische Union in diesem Konflikt weitestgehend zurückhält?
Bernecker: Die Europäische Union ist in dieser Frage eigentlich nur dann der Ansprechpartner, wenn es eine reale Chance gibt, dass sie zwischen beiden Seiten vermitteln kann. Puigdemont möchte das natürlich, um seine verfassungsrechtlich bisher nicht haltbare Position aufzuwerten, weil dann eine übergeordnete Instanz vermitteln würde.
Die spanische Regierung, die der eigentliche Ansprechpartner für diese Frage ist, hat keine Anfrage an die Europäische Union gestellt. Deswegen fühlt sie sich in diesem Augenblick gar nicht zuständig. Sie müsste sich direkt aufdrängeln. Das tut sie natürlich nicht. Im Augenblick halte ich es für richtig, dass sie nicht interveniert weiter, aber das kann sich durchaus noch ändern, wenn von beiden Seiten so großes Interesse an einer Verständigung besteht, dass auch Spanien, sprich Ministerpräsident Rajoy, über seinen Schatten springt und sagt, ich akzeptiere die katalanische Seite als gleichberechtigte und gleichwertige Verhandlungspartnerin, und dann bin ich auch bereit, die Europäische Union als Moderatorin anzurufen.
Kassel: Walther Bernecker, emeritierter Professor für Auslandswissenschaft am Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg, über den Konflikt Spanien und Katalonien wenige Stunden – na ja, ungefähr zehn Stunden vor der Erklärung des Chefs der Regionalregierung, Carles Puigdemont, in Barcelona. Professor Bernecker, vielen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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