"Neues" Kasachstan

Tokajews Rezept zum Machterhalt

23:10 Minuten
Tokajew  steht vor einer blauen Wand und lächelt.
Kassym-Schomart Tokajew ist seit 2019 Präsident Kasachstans und will sich am 20. November für sieben weitere Jahre wählen lassen. © Sputnik/dpa
Von Edda Schlager · 16.11.2022
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Das größte Land Zentralasiens soll sich laut Präsident Tokajew reformieren. „Neues Kasachstan“ heißt das Paket, das die Todesstrafe abschafft, das Parlament stärken und Vetternwirtschaft erschweren soll. Dazu Distanz zu Putin. Am Sonntag ist Wahltag.
Auf der dritten Etage in einem Bürohaus in Almaty laufen die Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen in Kasachstan am 20. November auf vollen Touren. Hier liegt das Hauptquartier der Bürgerinitiative „Wahrer Dienst am Volk“. Gründerin Togzhan Kozhaly steht vor einer schwarzen Wandtafel und zeigt auf die Anzahl der Wahlbeobachter, die sich aktuell registriert haben:
"In Astana heute 26, in Almaty auch 26. Morgen werden da schon 200, 300 Leute stehen."
Die 50-Jährige ist eigentlich Unternehmerin. Die Bürgerinitiative zur unabhängigen Wahlbeobachtung finanziere sie aus eigenen Mitteln. Allerdings fehle es ihr und den Mitstreitern an Zeit.
Die Kasachin Togzhan Kozhaly zeigt lächelnd auf eine Tafel. Dort sind mit Kreide in einer Tabelle die Zahlen der Wahlbeobachter für einzelne Städte notiert.
Togzhan Kozhaly hat in Kasachstan eine Bürgerinitiative zur Wahlbeobachtung gegründet. An einer Tafel zählt sie die Zahl der heute registrierten Wahlbeobachter: "Wahlbeobachtung ist auch eine Form des Protests."© Deutschlandradio / Edda Schlager
Denn der amtierende Präsident Kassym-Schomart Tokajew hatte die Präsidentschaftswahl von 2024 kurzerhand vorgezogen. Der konkrete Termin wurde erst vor einem Monat bekannt gegeben. Und erst vor zwei Wochen änderte die Regierung das Gesetz, das den Zulassungsprozess für Wahlbeobachter definiert. Unter diesen Umständen sei es fast unmöglich, alle Formalien rechtzeitig zu erfüllen, so Kozhaly. Für sie ist klar: Die Regierung will unabhängige Wahlbeobachtung verhindern.

Bei Wahlen fürchten sie immer die Wahlbeobachter. Ich weiß nicht, warum. Tokajew gewinnt ja sowieso. Warum legt man den Beobachtern künstlich Steine in den Weg? In den Protokollen wird stehen, dass Tokajew gewonnen hat, nicht irgendein anderer, das wird ja alles offiziell festgehalten. Warum also macht man den Beobachtern solche Probleme?

Wahlbeobachterin Togzhan Kozhaly

Auf Facebook, Instagram, Telegram und WhatsApp wirbt die Bürgerinitiative um potenzielle Wahlbeobachter. Rund 12.000 Wahlbezirke hat Kasachstan. Doppelt so viele Wahlbeobachter müsste sie eigentlich organisieren, so Kozhaly, damit diese sich am Wahltag pro Wahllokal auch abwechseln könnten.
„Völlig unrealistisch“, sagt sie selbst, „und viel zu teuer“. Pro Beobachter müssten mehrere Seiten Papiere ausgedruckt und gestempelt werden. Kozhaly geht deshalb von nur 1000 Wahlbeobachtern aus, die sie gewinnen könne. Doch obwohl das nur ein Tropfen auf den heißen Stein sei, ist sie von der Notwendigkeit ihrer Arbeit überzeugt.
„Sehen Sie, die Leute haben Angst, an Demonstrationen teilzunehmen. Aber Wahlbeobachtung ist eine legale Methode, seine Position als Bürger zu zeigen. Dafür kann man nicht bestraft werden, fürs Demonstrieren schon. Wahlbeobachtung ist auch eine Form des Protests, und man sieht, wie die Regierung arbeitet.“

Kasachstans "blutiger Januar" mit 238 Toten

Mit den Präsidentschaftswahlen will der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew tatsächlich weitere Proteste auf den Straßen verhindern. Denn Kasachstan hat ein turbulentes Jahr hinter sich.
Ab dem 2. Januar protestieren Menschen in Kasachstan gegen die Verdopplung der Preise für Autogas – was viele im Land zum Fahren nutzen. Aber die Regierung will das Gas nicht mehr subventionieren, liberalisiert den Markt.
In der kasachischen Wirtschaftsmetropole Almaty sieht man bewaffnete Sicherheitskräfte auf der Straße, um gegen die Proteste vorzugehen.
In der kasachischen Wirtschaftsmetropole Almaty gehen am 6. Januar 2022 bewaffnete Sicherheitskräfte auf der Straße gegen die Protestierenden vor.© imago images/ITAR-TASS
Nach ein paar Tagen fordern Zehntausende auf den Straßen auch politische Teilhabe. Dann kippt das Ganze, wird gewalttätig. Wie Recherchen lokaler Menschenrechtsgruppen später nahelegen, instrumentalisieren gewalttätige Akteure aus dem Umfeld von Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew und Teile des staatlichen Sicherheitsapparats die friedlichen Proteste, um das Land zu destabilisieren und Präsident Tokajew zu schwächen.
Der ruft Truppen des von Russland angeführten Militärbündnisses OVKS zu Hilfe, die innerhalb von Stunden in Kasachstan sind, Tokajew selbst erteilt den Schießbefehl gegen jeden Verdächtigen.
Regierungsangaben zufolge kommen im „Blutigen Januar“ – wie jene Tage in Kasachstan genannt werden – 238 Menschen ums Leben, über 4500 werden verletzt, mehr als 10.000 verhaftet. Nach rund einer Woche sind Proteste und Ausschreitungen beendet, Präsident Tokajew sitzt wieder fest im Sattel. Im Nachgang der Ereignisse sterben mindestens acht Inhaftierte im Gewahrsam staatlicher Behörden durch Folter, Dutzende erleiden teils schwerste Verletzungen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fordert bis heute eine unabhängige Untersuchung, wie Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien, unterstreicht:
„Ein großes Stück, was uns fehlt zum Verständnis, ist die Zeit zwischen dem 4. und 6. Januar, und was in den Haftanstalten passiert ist. Warum wurden Menschen auf den Straßen erschossen, wenn sie keine akute Gefahr für die Sicherheitskräfte waren. Das ist eine ganz wichtige Frage, die von niemandem beantwortet wird.“
Eine detaillierte Analyse der Ereignisse im Januar hat die kasachische Regierung bis heute nicht veröffentlicht. Internationale Untersuchungen lehnte Kasachstan ab.

Verfassungsreform soll Parlament stärken

Was viele Opfer und Angehörige bis heute einfordern, ist die rechtsstaatlich saubere Strafverfolgung derer, die Menschenleben auf dem Gewissen haben. Erst jüngst erließ Präsident Tokajew eine Amnestie für diejenigen, die sich im Rahmen der Januar-Ereignisse – berechtigt oder unberechtigt – mit Strafanzeigen konfrontiert sahen. Denn, so meinen Kritiker, verschont würden so auch Sicherheitskräfte, die unschuldige Demonstranten erschossen hatten.
Präsident Tokajew verkaufte die Amnestie als Teil eines Reformpakets, das er als Reaktion auf die Ereignisse im Januar initiiert hat. „Neues Kasachstan“, so der Name des Programms, das Kasachstan politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich erneuern und demokratisieren soll. Tokajew skizzierte es im März so:
„Wir werden dafür sorgen, dass die verfassungsmäßigen Rechte eines jeden Bürgers gewahrt bleiben. Wir werden eine neue politische Kultur schaffen, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft beruht. Wichtige Entscheidungen werden offen und unter Beteiligung der Bürger getroffen, denn der Staat wird auf die Stimme jedes einzelnen Bürgers hören. Fleißige Arbeit, fortschrittliches Wissen und gute Praktiken sollen hoch geschätzt werden. Ich würde das neue Kasachstan gerne als ein solches Land sehen.“
Erster Schritt zur Umsetzung des Programms war ein Referendum für eine Verfassungsreform am 5. Juni. Durch die Änderungen soll die Regierungsform künftig keine „superpräsidiale“ mehr sein, sondern eine präsidiale mit starkem Parlament.
Der Präsident darf künftig keiner Partei mehr angehören und wird, zugunsten des Parlaments, weniger Machtbefugnisse haben. Auch enge Verwandte des Präsidenten sollen künftig keine politischen Machtpositionen mehr besetzen dürfen. Zudem wird die Todesstrafe abgeschafft.
Gut drei Viertel der Wähler stimmten, offiziellen Zahlen zufolge, für die Verfassungsänderungen.

Präsident verlängerte die Amtszeit auf sieben Jahre

Doch das Misstrauen gegenüber Tokajews Reformversprechen ist groß. Der Journalist Lukpan Alhmedyarov, der im äußersten Nordwesten des Landes in der Stadt Oral lebt und einen eigenen YouTube-Kanal betreibt, äußert offen Kritik.
„Ich kann das nicht als politische Reformen ansehen, das ähnelt eher Betrug, einer Manipulation der gesellschaftlichen Meinung. Wenn wir uns an das Referendum erinnern, dann sehen wir, mit welchen kolossalen Wahlrechtsverletzungen das einherging.“
So wurde Wahlbeobachtern der Zugang zu Wahllokalen verwehrt, teils lagen Stimmzettel schon vor der Abstimmung in Wahlurnen.
Der kasachische Journalist Lukpan Akhmedyarov hat schwarze Haare, trägt eine Jeansjacke und schaut in die Kamera.
Der kasachische Journalist Lukpan Akhmedyarov betreibt einen YouTube-Kanal und nennt die Amtszeitverlängerung des Präsidenten auf sieben Jahre "eine Verhöhnung, pure Diktatur".© Deutschlandradio / Edda Schlager
Einen weiteren Punkt kritisiert Akhmedyarov. Tokajew hatte erst drei Monate nach dem Verfassungsreferendum vorgeschlagen, die Amtszeit des Präsidenten zu verlängern, die Gesamtzahl möglicher Amtszeiten auf nur eine zu beschränken. Sogenannte „Vorschläge“ des Präsidenten gelten im autoritären Kasachstan allerdings als verbindlich.
Beide Kammern des kasachischen Parlaments winkten diese weitere Änderung Mitte September innerhalb einer Lesung durch. Die Verfassung wurde nochmals – diesmal ohne Einbezug der Öffentlichkeit – geändert, erklärt Journalist Alhmedyarov:

Tokajew führte, ohne irgendein Referendum, ohne öffentliche Abstimmung, durch einen rein persönlichen Beschluss die allerwichtigste Änderung der Verfassung ein, ohne die Bevölkerung zu befragen. Ab jetzt gibt es für Präsidenten keine zwei Amtszeiten mehr, nur noch eine über sieben Jahre. Das ist eine Verhöhnung, pure Diktatur.

Journalist Lukpan Akhmedyarov

Denn der heute 69-jährige Tokajew sichere sich so bis 2029 die uneingeschränkte Macht, so Akhmedayarov.
Tokajew war 2019 gewählt worden, nachdem sein langjähriger Vorgänger Nursultan Nasarbajew überraschend zurückgetreten war. Der hatte Tokajew nur als Marionetten-Präsidenten vorgesehen, zog im Hintergrund weiter die Fäden.
Aber als Tokajew nach dem „Blutigen Januar“ weiterhin im Sattel blieb, emanzipierte er sich von Nasarbajew. Er bereinigte den Staatsapparat nach und nach von Familienmitgliedern und Vertrauten Nasarbajews. Schritte, die Tokajew nach 30-jähriger von Korruption geprägter Herrschaft Nasarbajews hohes Ansehen bei der Bevölkerung bescherte – auch wenn der alte Präsident weiterhin straffrei bleibt, weil dessen Immunität auch von Tokajew nicht infrage gestellt wird.

Distanz zu Putins Angriff auf die Ukraine

Populär ist der Ex-Präsident Nasarbajew aber nicht mehr. Genauso wenig wie der alte Partner Russland nach dessen Einmarsch in die Ukraine. An der Grenze zu Kasachstan geht es seit der russischen Mobilmachung sehr lebhaft zu. Eine große Zahl russischer Kriegsdienstverweigerer kam ins Land.
In Syrym, rund 60 Kilometer von Journalist Akhmedyarovs Heimatstadt Oral entfernt an der Grenze zu Russland, stauten sich bis vor Kurzem noch tagelang Autos und Lkw. Akhmedyarov dokumentierte auf seinem YouTube-Kanal den Ansturm.
„Normalerweise überqueren pro Jahr rund 20.000 bis 30.000 Menschen diese Grenze hier. Aber jetzt kommen pro Tag 2000, nachdem Russland die Mobilmachung bekannt gegeben hat.“
Rund 200.000 russische Staatsbürger sind nach der Mobilmachung in Russland am 21. September nach Kasachstan geflohen. Kasachstan schickte die Russen nicht zurück und behielt damit die Position bei, die das Land seit Beginn des Ukraine-Kriegs eingenommen hatte:
Es verurteilt den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nicht ausdrücklich, erkennt aber die durch Russland besetzten Gebiete in der Ukraine nicht an und geht politisch vorsichtig auf Distanz zu seinem wichtigsten Wirtschaftspartner Russland.
Nach den Ereignissen im Januar, als Putin Tokajew mit militärischer Hilfe quasi vor dem Sturz bewahrte, überraschte diese Position Kasachstans viele Beobachter. Doch Journalist Akhmedyarov warnt vor Illusionen.
„Wenn Tokajew so redet, versucht er, auf zwei Stühlen gleichzeitig zu sitzen. Er versteht sehr wohl, dass seine Macht davon abhängt, wie lange Putin an der Macht bleiben wird. Sollte Tokajew Putin aber nicht unterstützen und eigenständige Politik betreiben, dann hieße das, Tokajew müsste den Weg der Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft einschlagen, den Weg realer politischer Reformen. Aber das macht er nicht.“

Gesteigertes Nationalbewusstsein der Kasachen

Wie umstritten Tokajews autoritäres innenpolitisches Auftreten auch sein mag, dass er vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs Russland die Stirn bietet, hat im Vielvölkerstaat Kasachstan mit seinen rund 120 hier lebenden Ethnien und 19 Millionen Einwohnern zu größerem Nationalbewusstsein geführt. Viele fürchten eine russische Aggression, wie sie der Ukraine widerfahren ist, bangen um die territoriale Integrität Kasachstans, die von Russland wiederholt infrage gestellt wurde.
Der Politologe Temur Umarov von der US-amerikanischen Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden erklärt, warum Tokajew genau deshalb jetzt vorzeitige Wahlen abhalten lässt.
„Tokajew nutzt den Moment, in dem er sehr populär ist in der kasachischen Gesellschaft. Ich denke, er war nie so populär wie jetzt. Vor dem Januar 2022 galt er als das Schoßhündchen von Nasarbajew. Danach hieß es, er schulde Putin etwas, weil der ihn gerettet hatte. Aber durch den Ukraine-Krieg – und Tokajewwar sehr klar bezüglich seiner Position, Putin nicht zu unterstützen – scheinen die Leute erst jetzt zu glauben, dass Tokajew wirklich unabhängig ist, dass er ein Politiker ist, der nicht danach schaut, was andere machen, und sich nicht darum kümmert, was er irgendjemandem schulden könnte."
Neben Tokajew wurden weitere fünf Kandidaten zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen. Kaum einer von ihnen ist öffentlich überhaupt bekannt, oppositionelle Positionen präsentiert keiner. Jedem ist klar, die Gegenkandidaten sind reine Staffage, die Wahl ist vorab bereits entschieden. Viele werden deshalb gar nicht erst abstimmen gehen. Ein Fehler, sagt Togzhan Kozhaly von der privaten Wahlbeobachtungsinitiative.
„Leider hat man unsere Opposition über viele Jahre dazu gebracht, dass sie meint, es lohne sich nicht, an Wahlen teilzunehmen. Dass man sie besser boykottiert oder ignoriert. Aber genau das spielt den Herrschenden in die Hand, denn dann gewinnen sie. Boykott hilft dem Autoritarismus, immer.“

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