Karthasis am Schluss

Von Christian Gampert |
Warum Peter Stein diese "Dämonen" unbedingt inszenieren musste, und warum die Aufführung zwölf Stunden zu dauern hat, blieb bei der Premiere im deutschsprachigen Raum weitgehend im Dunkeln.
Erst in den letzten beiden Stunden, als es ans Sterben geht, macht Peter Stein den Knoten zu – bei den Wiener Festwochen brachte das Publikum den Künstlern trotzdem Ovationen.

Peter Stein geht gern große Umwege, um dann doch noch zum Punkt zu kommen. Vielleicht hat das mit seiner Abneigung gegen die übergroße Beschleunigung der westlichen Gesellschaften zu tun, der er seine Philosophie der Langsamkeit, des Zeit-Habens entgegensetzt. Wer tausend Seiten Dostojewski lesen will, sollte drei, vier Tage freihaben, ohne äußere Verpflichtungen. Für Steins Theaterversion braucht es immerhin noch zwölf Stunden. Während einen der Roman mit seinen vielen Konkurrenz-Episoden, Liebesgeschichten und philosophischen Debatten tief beunruhigt, weil man die inneren Bewegungen der Figuren im verschachtelter Prosa schonungslos vorgeführt bekommt, lässt einen die notgedrungen veräußerlichte, lineare und auf eher kurze Dialog-Sätze gebrachte Theaterversion streckenweise eher unberührt: hoch differenziertes, aber sehr konventionelles Theater. Man kann sich in Steins Roman-Version fast wohnlich einrichten – bis auf die letzten zwei Stunden, als es ans Sterben geht, als die gesellschaftliche Diskussion dann blutig endet.

Stein hat den Roman mit italienischen Schauspielern, auf Italienisch und in Italien inszeniert – wir sehen den russischen Selbstzweifel, die depressive russische Seele also durch das Brennglas südländischer Spielfreude. Der Regisseur hat dieses Nach-Außen-Spielen allerdings weitgehend gezähmt zu einer naturalistischen Verhaltenheit – die großartige Maddalena Crippa, die als Generalswitwe Warwara Petrowna die Fäden zusammenhält, ist das Zentrum einer Welt des Stillstands und der Melancholie. Bei ihr logiert (und sie begehrt), seit vielen Jahren, der erfolglose, lebensunfähige Intellektuelle Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, ein Utopist und Weltverbesserer mit sozialistischen Ideen, aber eben auch ein selbstmitleidiger Schwätzer und Spätaufsteher – Elia Schilton macht daraus einen liebenswerten, weltfremden Spintisierer, Karl Marx als gescheiterte Existenz von nebenan. Sein Sohn Pjotr (der giftige Alessandro Averone), den er als Kind verließ, kommt zu ihm zurück als die Inkarnation des Bösen, ein Intrigant, ein Satan, der sich in sozialrevolutionäre Kreise begibt und dort, aus purer Lust an der Zerstörung, dem Terrorismus und dem politischen Mord das Wort redet.
Dieser Konflikt zwischen der Generation der Väter und der Söhne ist es, was Peter Stein in der Hauptsache interessiert haben mag – denn hier spiegelt sich natürlich der Zwist zwischen den möglicherweise naiven 68igern der ersten Stunde, denen das Schöne und die Kunst noch heilig waren, und ihren terroristischen Nachfahren von der RAF (und, weitergedacht, den islamischen Zellen von heute), die sich zur Gewalt legitimiert sehen.

Dazwischen jede Menge sozial-utopistischer Diskussionen und vergeblicher Liebesgeschichten, in deren Mittelpunkt Nikolaj Stawrogin steht, der aus dem Ausland heimgekehrte Sohn der Witwe Warwara Petrowna – ein zynischer, frühexistentialistischer Dandy, dem die Frauen zufliegen, der aber nicht lieben kann, einer, der genau weiß, dass er sich für das Gute entscheiden könnte, der aber vom Bösen magisch angezogen ist. Er verführt und vergewaltigt ein Kind, das sich daraufhin umbringt, er heiratet, um sich selbst zu bestrafen, eine Verrückte (die in ihrer Verlorenheit hinreißend gespielt wird von Pia Lanciotti), er demütigt die Mitglieder des sozialistischen Clubs, die er alle für spießige Traumtänzer hält. Der famose Ivan Alovisio als Stawrogin ist die dunkelste, die ambivalenteste Figur in diesem Dostojewski-Kosmos, einer, der ständig sein Leben wegwirft.

"Die Dämonen" basieren auf einer Stelle aus dem Lukas-Evangelium: Jesus treibt einem Besessenen die bösen Geister aus, die fahren in eine Schweineherde - und die stürzt sich in einen Abgrund. Dostojewski, der immer wieder ein gläubiger Christ sein wollte, spiegelt dieses Gleichnis auf sein geliebtes, bedrohtes Russland: die depressive russische Seele vor dem Abgrund, gepeinigt von Seuchen und politischen Auseinandersetzungen, in Versuchung geführt von Sexus und Amoral. Hier geht es noch um Christentum oder Sozialismus, um Selbstüberschätzung und Größenwahn, um die Frage, ob Gott existiert.

Augenscheinlich existiert er nicht – er lässt all diese zweifelnden Menschen in ihrer zaristischen russischen Vorhölle, in der es im Lauf der Inszenierung immer dunkler wird. Peter Stein beschränkt sich runde 10 Stunden darauf, die trübe Handlung des Romans auszupinseln, depressiv machende Liebesabenteuer, dumme Männer-Duelle, ideologische Auseinandersetzungen – bisweilen unterbrochen von Commedia-Einschüben wie dem betrunkenen Lebjadkin oder dem Einführungsfest des neuen Gouverneurs, der eine allegorische "literarische Quadrille" erdulden muss. Aber obwohl Stein manche Szenen mit dem milden Lächeln der Ironie inszeniert hat, etwa die verkappte Liebesbeziehung zwischen dem alternden Intellektuellen Stepan Trofimowitsch und seinem adligen Hausdrachen Warwara Petrowna, und obwohl er die Verzweiflung der erotisch missbrauchten jüngeren Frauen bisweilen deklamatorisch hochdreht, bleibt das Ganze museales Theater, bühnentechnisch mit ganz wenigen, reduzierten, armen Mitteln, aber eben wie in der Vitrine.

Bis auf den Schluss. In den letzten zwei Stunden erzählt Stein in einer großartigen Parallelführung das Ende des (fast psychotisch abgedrifteten) Nihilisten Kirillow (ganz in sich gekehrt: Fausto Russo Alesi), der sich erschießt, um die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen, der aber noch in seinem Suizid von den Terroristen missbraucht wird; und gleichzeitig die Geburt eines Kindes: der Christ Schatow (auch er ruhig und trotzig: Rosario Lisma) erlebt eine späte Freude, als seine Frau zu ihm zurückkehrt, allerdings schwanger von einem anderen, von Stawrogin – und Schatow in einem Anfall von Großmut und Glück das Kind adoptiert, um gleich darauf von den Terroristen umgebracht zu werden.
Leben und Tod, Geburt und Selbstmord, die Gleichzeitigkeit von Glück und Unglück, die Vergeblichkeit des Menschenlebens – runde zehn Stunden voller Salongespräche hat man gewartet, bevor die letzten Fragen dann auch existenziell inszeniert werden. Aber wir wollen nicht klagen: Auch bei den Griechen, die ebenfalls volle Tage im Theater verbrachten, kam die Katharsis ganz am Schluss. Peter Stein findet am Ende (und vielleicht auch: sehr kalkuliert erst am Ende!) tief pessimistische Bilder voller Düsternis und Verzweiflung, die uns auf uns selbst zurückweisen.