Karriere einer Pfarrerstochter

Von Susanne Mack · 26.10.2005
"Pfarrers Kinder und Müllers Vieh gedeihen selten oder nie." Es scheint, als sei Anja Würzberg angetreten, um diesen Spruch zu widerlegen. Die Autorin selbst ist eine Pfarrerstochter und sehr wohl "gediehen". Sie hat studiert, dann Karriere gemacht als Fernsehmoderatorin und in diesem Beruf eine ganze Menge interessanter Leute getroffen, die - ebenfalls Pfarrerskinder – auch Karriere gemacht haben in Wirtschaft und Politik, beim Film und beim Fernsehen.
Darunter Altbundespräsident Johannes Rau, der Vorsitzende des Aufsichtsrates der Commerzbank Martin Kohlhaussen und Hans W. Geißendörfer, geistiger Vater und Produzent der ARD-Erfolgsserie "Lindenstraße". Die schreibende Zunft ist auch gut vertreten: durch den Schriftsteller Klaus Harpprecht zum Beispiel und Elisabeth Niejahr, Wirtschaftsjournalistin bei der "Zeit".

Anja Würzberg fragt sich selbst , und sie fragt ihre Protagonisten: Gibt es das wirklich, dieses "besondere Aroma" des protestantischen Pfarrhauses? Und vielleicht ein paar Fähigkeiten, die man als Kind in einer Pfarrersfamilie eher erlernt als anderswo? Ein Klima, dass Menschen befähigt, selbstverantwortlich zu arbeiten und Verantwortung für andere zu übernehmen?

Und tatsächlich: Obwohl die Autorin sehr persönliche Gespräche geführt hat und diese Gespräche auch einzeln in ihrem Buch wieder gibt: Da sind ein paar Spuren der Erziehung, die ziehen sich durch sämtliche Biographien.

Alle Pfarreskinder berichten, ihr Elternhaus sei ein öffentlicher Raum gewesen.
"Wildfremde Menschen kommen und schütten dir ihr Herz aus", sagt Elisabeth Niejahr, und "Mein Vater war immer Pastor. Auch in der Nacht und im Urlaub". Ständig ist Besuch im Haus. Man hört Geschichten über Liebe und Tod, Hass und Versöhnung, Verzweiflung und Hoffnung, ist als Kind schon nah dran an den grundsätzlichen Fragen des Lebens. - Wer weiß, ob es die "Lindenstraße" je gegeben hätte, wäre ihr Autor und Produzent Hans W. Geißendörfer nicht in einem Pfarrhaus groß geworden. Geißendörfer schöpft bis heute aus dem Fundus der Geschichten und Gestalten, die seine Kindheit prägten.

In einem protestantischen Pfarrhaus vertraut man auf die Kraft des Wortes und der Musik. Alle sind mit Bach aufgewachsen und haben gelernt, mit Büchern umzugehen. Und vor allem mit Sprache. "Du wärest auch ein guter Prediger geworden" bemerkt der Vater von Johannes Rau, nachdem er einen Auftritt seines Sohnes vor rheinischen Landwirten erlebt hat. Martin Kohlhaussen war lange Zeit Pressesprecher bei der Commerzbank, bevor er den Vorsitz des Aufsichtsrates übernommen hat. "Man darf nicht alle innerbetrieblichen Konflikte nach außen tragen, manchmal muss man wie eine Wagenburg sein": Das findet Michael Kohlhausen wichtig, privat und auch im Beruf. Entsprechend ist auch sein persönliches Portrait in diesem Buch ausgefallen: klingt ein bisschen so, als hätte es sein Pressesprecher verfasst.

Ein lesenswertes Buch - obwohl dem Leser manches verschwiegen wird, das er doch gern gewusst hätte. Zum Beispiel , was es für Diskussionen in der Commerzbank gegeben hat nach Kohlhaussens Auftritt beim Evangelischen Kirchentag in Frankfurt. Kohlhaussen hatte verkündet, man dürfe die Apartheid in Südafrika zwar für schlecht befinden, aber nicht finanziell boykottieren. Die Kirchen haben dann alle ihre Konten bei dieser Bank gekündigt. Oder: Warum haben sich die Eltern von Elisabeth Niejahr eigentlich getrennt? Scheidung eines Pfarrerehepaares mit drei Kindern in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein: Das muss doch ein mittelschwerer Skandal gewesen sein.

Ganz grundsätzlich hätte der Leser auch gern gewusst: Gibt es denn heute keine Pfarrerskinder mehr, die richtig "gegen den Stachel löcken"? Wie einst Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse oder Gudrun Ensslin ? Deren Lebensgeschichten kommen am Ende des Buches übrigens auch zur Sprache. Da gibt es einen interessanten Abschnitt "Historische Pfarrerskinder".
Dafür erfährt man ganz nebenbei, dass Klaus Harpprecht nach der Veröffentlichung seiner hoch gelobten Thomas-Mann-Biographie in eine "veritable Depression" verfallen ist und jahrelang nicht schreiben konnte. Und dass Johannes Rau immer als "pilstrinkender, bibelfester Junggeselle" gehandelt wurde, der mit dem weiblichen Geschlecht nicht viel anfangen kann - bis er mit einundfünfzig Jahren plötzlich geheiratet hat. Gefragt, ob es vor dieser Ehe wirklich keine Frauen gab in seinem Leben, sagt Rau: "Einige Beziehungen sind zum Glück nicht öffentlich geworden. Solange meine Frau es weiß und ich es weiß, ist das gut."


Anja Würzberg: "Ich: Pfarrerskind. Vom Leben in der heiligen Familienfirma." Lutherisches Verlagshaus. Hannover 2005. 220 Seiten. 19,90 Euro.