Karolin Klüppel: "Mädchenland"

Wenn Töchter der Stolz der Familie sind

Mädchen vom Stamm der Khasi tragen bei Feiern im Dorf Mawphlang im indischen Bundesstaat Meghalaya am 25.10.2013 traditionelle Kleidung.
Mädchen vom Stamm der Khasi tragen bei Feiern im Dorf Mawphlang im indischen Bundesstaat Meghalaya traditionelle Kleidung. © picture alliance / dpa /EPA
Von Ulrike Jährling · 19.10.2016
Eine weltweite Seltenheit: Bei einem Volksstamm im indischen Bundesstaat Meghalaya haben Frauen mehr Rechte als Männer. Für ihren Bildband "Mädchenland" hat die Fotografin Karolin Klüppel selbstbewusste junge Vertreterinnen der Khasi-Kultur porträtiert.
Karolin Klüppel: "Sie waren einfach so neugierig! Sie konnten überhaupt keinen Abstand waren. Vom ersten Tag an wurde ich in meinem Zimmer besucht, morgens wurde an meine Scheibe geklopft, abends wollten sie nicht gehen – für sie war es eine willkommene Abwechslung zum Dorfalltag."
Sind es sonst in Indien eher die Jungen, die männlichen Touristen ein mutiges "Hello, Sir" entgegenwerfen, sind es in der Kultur der Khasi die Mädchen, die selbstbewusst auftreten. Der Volkstamm der Khasi hat sich über Jahrhunderte die matrilineare Gesellschaftsform erhalten. Im Gegensatz zum Matriarchat wirken die Frauen nicht in der Politik mit, aber sie bestimmen die Erbfolge, geben also ihren Namen bei der Heirat weiter. Die jüngste Tochter, die "Kaddhu", erbt den Grundbesitz der Familie und ihr frei gewählter Ehemann zieht ins Haus der Schwiegermutter ein. Der ganze Stolz der Familie sind: die Mädchen. In ihren Fotos erhebt sie Karolin Klüppel zum Symbol für die matrilineare Kultur.
"Das ist die Yasmin. Das war die älteste Tochter von der Nachbarin von mir."
Das Foto zeigt ein kleines Khasi-Mädchen in leuchtend türkisem Kleid. Barfuß auf braunem Steinfußboden, in den Armen einen großen Hahn. Braune Federn, roter Kamm.
"Sie hat es eben geliebt, in der Dämmerung Hühner zu fangen (lacht). Die hat dann immer ein Huhn gefangen, das unter einen Bambuskorb gesteckt und am nächsten Morgen wieder freigelassen. Und dann hab ich mir einfach ein Bild mit ihr überlegt, das diese Tollkühnheit auch widerspiegelt und hab ihr dann den Hahn in den Arm gedrückt – also die Mutter hat mir natürlich geholfen
Zum anderen ist es natürlich toll, dieses Bild zu haben, weil in der Naturreligion der Khasi, an die noch einige Khasi glauben, nicht alle – die meisten sind zum Christentum konvertiert – da wird der Hahn verehrt. Also er ist auch ein Symbol der Khasi-Kultur."

Selbstsichere Mädchen mit Verantwortung

Das Bild erzählt viel über die Herangehensweise der Fotografin. Sie wohnte bei einer Khasi-Familie, quasi mit Familienanschluss, im Dorf Mawlynnong mit gerade mal 92 Häusern. Ihre Gastgeberin schimpfte oft vehement auf den Ehemann, ansonsten aber sei die Matrilinearität im Dorf nicht unbedingt sichtbar gewesen, sagt Karolin Klüppel. Am ehesten im Auftreten der Töchter: selbstsicher, sich ihrer Stellung bewusst und oft schon früh Verantwortung übernehmend. Dies wolle sie in ihren Bildern zeigen. Dokumentarisch sind ihre Fotos aber selten – Karolin Klüppel komponiert, addiert ihre eigenen Ideen dazu.
Auf einem Felsen am Ufer liegt ein Mädchen auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, die Arme abgespreizt, die nackten Beine etwas nach unten baumelnd. Die Füße tauchen ins Wasser.
"Das Bild hab ich inszeniert und zwar in Hinblick auf die Venus von Botticelli. Ich fand dieses 'Aus-dem-Wasser-Ragende' sehr schön."
Schon wieder Botticelli. Sogar in Indien?
"Das ist natürlich mein westliches Kunstverständnis, das ich da auch mit verarbeite. Es ist jetzt keine neutrale Wiedergabe der Khasi-Kultur, auf keinen Fall."

Begeisterte Reaktionen und Unverständnis

Zur Kultur der Khasi gehört es, Betelnüsse zur Hochzeit auszutauschen. Einen Zweig mit den orangenen Früchten auf dem Kopf eines Mädchens zu drapieren, deren schwarze Bluse Farbtupfer in genau dem gleichen leuchtenden Orange besitzt - das ist eine farbverliebte Komposition der Fotografin.
Karolin Klüppels Fotos waren schon auf vielen Ausstellungen zu sehen, in Indien, China, Frankreich, Großbritannien, der Türkei und Deutschland. Oft gab es enthusiastische Resonanzen, manchmal aber auch Unverständnis. Insbesondere bei diesem Bild: Ein Mädchen blickt aus einem Spiegel heraus selbstbewusst in die Kamera. Die Lippen sind geschminkt. Pink.
"Ich wurde oft danach gefragt: 'Ja, hm, das Bild sticht da so heraus, sie wirkt so lolitahaft, warum ist das so?' Da fühlte ich mich so als müsse ich mich jetzt rechtfertigen. Aber ich habe sie an dem Nachmittag so mit der Perlenkette und dem Lippenstift aufgefunden und dachte, hey, wir müssen jetzt sofort ein Foto machen.
Ja, ich hatte immer das besondere Gefühl bei den Khasi, dass Weiblichkeit ausschließlich mit positiven Werten besetzt war, dass es nie negativ sein kann."

Die Jungen komplett draußen gelassen

Insgesamt zehn Monate verbrachte Karolin Klüppel bei den Khasi in Mawlynnong. Ihr Buch "Mädchenland" lässt die Jungen komplett draußen. Ein Sinnbild:
"Die Jungs und Männer in der Khasi-Kultur rücken ein Stück weit in den Hintergrund. Das ist natürlich nicht unbedingt gut. Es ist nie gut, wenn ein Geschlecht bevorzugt wird in einer Gesellschaft. Und auch in den Khasi-Familien gibt es Probleme, die daher rühren, dass die Männer benachteiligt sind."
Das Buch "Mädchenland" schaut nur in die eine Richtung. Es feiert die leuchtenden Kostbarkeiten der Khasi-Familien – eben die Töchter - und gewährt uns Einblicke in ihren Alltag. Einblicke von sehr märchenhafter Ästhetik. Zu märchenhaft! Denn in Bezug auf die matrilineare Kultur beginnt man, den journalistischen Kontext zu vermissen.

Karolin Klüppel: "Mädchenland"
Hatje Cantz Verlag, Berlin 2016
92 Seiten, 38 Abbildungen, 34 Euro

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