Karlheinz N. aus Ludwigshafen

Alltagsaufzeichnungen als Geschichte einer Stadt

Umzugskisten in einem leeren Zimmer am 31.05.2007 in Frankfurt am Main
Bei der Auflösung der Wohnung des Ertrunkenen wurden tausende Seiten Aufzeichnungen gefunden. © picture-alliance / dpa / Heiko Wolfraum
Von Matthias Kußmann · 03.02.2016
Vor einigen Jahren entrümpelte Billy Hutter in Ludwigshafen die Wohnung des Laborangestellten Karlheinz N., der auf ungeklärte Weise im Rhein ertrunken war. In den vollgestopften Räumen fand Hutter tausende Seiten Aufzeichnungen. Karlheinz, Jahrgang 1929, hatte sein Leben von der Schulzeit an Jahrzehnte lang ebenso akribisch wie nüchtern dokumentiert.
Egal ob Ausflug mit den Eltern im "Opelauto", Luftangriff auf Ludwigshafen, "Pickel am Kopf" oder Bordellbesuch, alles scheint ihm gleich wichtig gewesen zu sein. Was er hinterließ, das sind Notizen zu einer Biografie, zu seiner Biografie, und zur Beschreibung der Geschichte seiner Stadt. Ludwigshafen – vom Krieg über das Wirtschaftswunder bis in die Gegenwart. Matthias Kußmann hat sich auf die Spuren von Karlheinz N. in Ludwigshafen begeben.

Billy Hutter: "Die Einlasskarte Nr. 316 in den Luftschutzbunker 99, Werksabschnitt 14, Raum 3. Die Platznummer ist nicht angegeben ... Was hat der Mensch wohl gemacht, wenn er seine Eintrittskarte nicht dabei gehabt hat bei einem Fliegerangriff? Musste wohl draußen bleiben ... "
Vor einigen Jahren entrümpelte Billy Hutter in Ludwigshafen die Wohnung des Laborangestellten Karlheinz N., der auf ungeklärte Weise im Rhein ertrunken war. In den vollgestopften Räumen fand Hutter tausende Seiten Aufzeichnungen. Karlheinz, Jahrgang 1929, hatte sein Leben von der Schulzeit an Jahrzehnte lang ebenso akribisch wie nüchtern dokumentiert. Egal ob Ausflug mit den Eltern im "Opelauto", Luftangriff auf Ludwigshafen, "Pickel am Kopf" oder Bordellbesuch, alles scheint ihm gleich wichtig gewesen zu sein. Was er hinterließ, dies sind Notizen zu einer Biografie, zu seiner Biografie, und zur Beschreibung der Geschichte seiner Stadt. Ludwigshafen – vom Krieg über das Wirtschaftswunder bis in die Gegenwart. Matthias Kußmann hat sich auf die Spuren von Karlheinz N . Ludwigshafen begeben.
Ludwigshafen, zwischen Bahnhof und Zentrum. In der kleinen, ein wenig schäbigen Seilerstraße gibt es ein Heimatmuseum – wohlgemerkt ein Heimatmuseum, nicht das offizielle Heimatmuseum der Stadt, das würde wohl anders aussehen. Hausnummer 26, ein ehemaliger Laden mit alten Gasöfen, abgetretenem PVC-Boden, Sperrmüllmöbeln. Keine Kasse, keine Garderobe, keine geregelten Öffnungszeiten. Alles wirkt improvisiert. Exponate liegen auf Tischen oder sind einfach an die Wand gepinnt.
Ein Künstler als Heimatmuseum-Betreiber
"Hier auf der Postkarte ist noch das alte BASF-Hochhaus zu sehen. War so bisschen Wahrzeichen der Stadt, das höchste Bürogebäude Westdeutschlands Mitte der 50er-Jahre – vor einem Jahr ersatzlos abgerissen, derzeit Bauplatz. Naja, es wird eh viel abgerissen bei uns in der Stadt ... "
Sagt der Ludwigshafener Autor und Künstler Billy Hutter:
"Als Heimatmuseum-Betreiber darf ich das ja sagen, dass man nicht traditionsbewusst ist. Es gibt hier tolle Gebäude aus den 50er, 60ern, die haben so ein bisschen den Charme der Stadt ausgemacht. Ich denke, in einer größeren Großstadt als der unsren würde man versuchen, die zu erhalten. Gerade in diesem Jahr ist ein ganz tolles Kaufhof-Gebäude, kreisrund, mitten in der Stadt, platt gemacht worden. Das hätt sich unheimlich für Kultur geeignet oder für die Stadtbücherei. Aber die Stadt ist stark verschuldet, kann sich keine Experimente leisten."
Vor einigen Jahren hat Hutter das ungewöhnliche Heimatmuseum mit zwei Freunden gegründet. Sie betreiben Ludwigshafener Geschichtsschreibung von unten, kritisch und finanziell unabhängig von der Stadt. Sie interessieren sich für den städtischen Alltag, sammeln Dinge, die in einem offiziellen Museum wohl keinen Platz fänden – wie dieses vergilbte Kärtchen aus dem Zweiten Weltkrieg:
"Die Einlasskarte Nr. 316 in den Luftschutzbunker 99, Werksabschnitt 14, Raum 3. Die Platznummer ist nicht angegeben ... Was hat der Mensch wohl gemacht, wenn er seine Eintrittskarte nicht dabei gehabt hat bei einem Fliegerangriff? Musste wohl draußen bleiben ... "
Billy Hutter ist nicht nur Autor und Künstler, sondern auch Entrümpler. Anfang der 90er-Jahre räumte er in Ludwigshafen die Wohnung von Karlheinz Naksch, Jahrgang '29. Ein Laborant bei der BASF, der auf ungeklärte Weise im Rhein ertrank. Hutter begann im Keller, der bis zur Decke mit Kartons gefüllt war:
"Der Entrümpler ist so ein bisschen Schatzsucher: Find ich da eine tolle Antiquität oder ein altes Spielzeugauto? Da gab's unheimlich viele Pakete, Schuhkartons, außen rum Packpapier, zugeknotet. Ich mach das auf und in dem Schuhkarton ist noch mal ein Schuhkarton und noch mal ein Schuhkarton und letztlich gar nichts – also nur ein paar rostige Nägel, manchmal ein Stück Holz oder ein altes Wäscheseil. Warum tut der Mensch das?"
In der Wohnung die nächste Überraschung. In einem Zimmer fanden sich hunderte Seiten mit Aufzeichnungen. Karlheinz Naksch hatte sein Leben seit der Schulzeit akribisch dokumentiert, in Stichworten, ohne jede Emotion. Ausflüge, Einkäufe, die Bombardierung Ludwigshafens im Krieg, Arzttermine und -diagnosen; die erste Tennis-Stunde, Wohnungswechsel, auch mal Bordellbesuche – alles scheint gleich wichtig gewesen zu sein. Und es gibt schier endlose, etwas zwanghafte To-do-Listen:
"Mit Papa Geld verrechnen, Briefmarken und Kalender verrechnen, 2 x rote Folienbeutel verrechnen, Schokolade verrechnen, "Chemie für Labor und Arbeitsplatz" verrechnen, Aktentasche waschen, Handschuhe stopfen, Pullover, Jackenkragen putzen, Knopf in Hose nähen, nach "Kreislaufschäden"-Film erkundigen, Baden, Mutti verschiedene Lappen waschen lassen, Taschentuch waschen."
Chronik eines äußerlich ereignislosen Lebens
Im Ganzen ergeben die Aufzeichnungen die Chronik eines äußerlich ereignislosen Lebens in Ludwigshafen – ein Stück Alltags- und Stadtgeschichte: Karlheinz Normalverbraucher. Dem Entrümpler und Museumsmacher Hutter war sofort klar: Dieser Nachlass würde nicht in den Häcksler wandern, auch wenn das meiste materiell wertlos war. Etwa die vielen Regenmäntel:
"Es waren bestimmt 30 Stück erhalten, noch in der Einkaufstüte drin, mit Preiszettel. Naja, ein Spleen. Aber wir haben alle unsere Spleens. Mein größter Spleen ist ja, mich 25 Jahre mit Karlheinz zu beschäftigen."
Was so weit führte, dass Billy Hutter irgendwann erwog, dessen ehemalige Wohnung zu mieten, "Je suis Karlheinz", sozusagen. Seine Frau und Tochter wussten, es zu verhindern. Aber Hutter ließ dieser Karlheinz mit seinem langweiligen Leben nicht mehr los: Ein kleiner Angestellter bei der BASF, der noch mit 50 bei den Eltern wohnte, keine Freunde hatte, wohl auch nie eine Freundin. Keine größeren Reisen, kaum Sex, keine Drogen, kein Rock ´n´ Roll. Mit seiner Schwester zerstritt er sich früh, hatte sonst keine Angehörigen.
Das einzige, was ihn offenbar interessierte, waren Ausflüge und Kurzurlaube, meist in die Region – immer am Wochenende, zusammen mit den Eltern und, ganz wichtig, mit "unserem Opelauto":
"Dienstag, 15. Mai 1951: erste Wiederzulassung unseres Opelautos nach Kriegsende in Schwabach für 5 Monate. – Sonntag, 20. Mai 1951: erste Autofahrt nach Kriegsende zusammen mit Eltern über Mannheim, zum Teil Autobahn, Bensheim nach Lindenfels (Kaffee, Bergbesichtigung und im Kurpark), unterwegs vorher Picknick (Mittagessen); dann zurück über Waldmichelbach, Hirschhorn, Heidelberg."
Karlheinz war ein Sonderling. Einer, der von Ausflügen bis zu zehn Postkarten mit demselben Motiv mitbrachte und daheim hortete – weil der Ausflug doch so schön war. Karten, die ihm nicht mehr gefielen, packte er in Tüten, auf die er groß "Wegwerfen!" schrieb, um sie dann, in Kartons weiterverpackt, ebenfalls zu horten. Ein Lebensinhalt: Notizen machen, Ausflüge machen, Dinge verpacken ...
Billy Hutter: "Ja. Andre Leute gucken 10 Stunden am Tag TV. Auch nicht besser."
Im August 1951 notiert Karlheinz eine Fahrt nach Oberbayern:
"Autofahrt über Berchtesgaden auf Obersalzberg (Mittagessen); Besichtigung von Hitlers Gutshof, Hitlers Berghof, Göring- und Bormann-Häuser, Kasernen und Hitlers Gästehaus; in Berchtesgaden Kaffee und Abendessen."
Karlheinz kauft eine Ansichtskarte mit Blick auf die Alpen. Schöne Aussicht, das war´s. Keine weiteren Fragen. Politik und Geschichte, gar die jüngste Terror-Geschichte seines Landes, interessieren ihn nicht.
Billy Hutter: "Ja, genau so ist es. War nicht seine Sache."
Doch damit ist Karlheinz ein typischer Vertreter der westdeutschen Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit.
Autos fahren  in Ludwigshafen über die Hochstraße. Das marode Bauwerk soll abgerissen und anschließend entweder wieder aufgebaut oder ebenerdig weitergeführt werden.
Autos fahren  in Ludwigshafen über die Hochstraße.© picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Billy Hutter: "Diese Generation hat ein unheimlich geregeltes Leben geführt. Der 8-Stunden-Tag, morgens geht's zur Arbeit, gegen Abend nach Haus, es wird gegessen, es wird ferngesehen, die Wochenenden sind verplant mit den Ausflügen in die Pfalz. Das Auto, die Wichtigkeit des Autos, 'neues Auto gekauft'. Diese frühen Urlaube – wer kann es sich leisten, in Urlaub zu fahren, wer bleibt zu Hause? Die Familie konnte es sich leisten. Diese bürgerliche Schicht zeichnet sich durch etwas sehr Unpolitisches aus: kein Interesse an dem, was in der Welt passiert, nur das Interesse, das eigene Reich geordnet zu haben, es sich gut gehen zu lassen."
Die wichtigen Dinge sind in der Ausstellung
Einen Teil von Karlheinz´ Nachlass hat Billy Hutter inzwischen entsorgt, er wollte dann doch nicht jede Socke und Zahnbürste aufheben. Aber wichtige Dinge hat er behalten, und die Aufzeichnungen. Eine Auswahl befindet sich nun im Heimatmuseum:
"Jetzt sind wir hier in dem Raum, den wir auch als Karlheinz-Museum bezeichnen."
Der Raum ist gut gefüllt. Man sieht Tagebücher und Notizhefte, Fotos des Opelautos, der Eltern und der Guten Stube – mit Weihnachtsbaum, viel Lametta, Bambi und Cognakschwenkern. Es gibt ein Lebkuchenherz, noch originalverpackt, den Koffer, mit dem Karlheinz seine kleinen Reisen machte. Ein paar Pornohefte, die er sinnigerweise in einer Metzgertüte aufhob, Aufschrift: "Frisch aus erster Hand". Und es gibt den Tennisschläger, mit dem er immerhin zwei Trainingsstunden absolvierte; vielleicht versuchte er ja doch, mal was andres zu machen als die Eltern, und schaffte es nicht. Seltsam traurige Spuren eines vergangenen Lebens.
"Donnerstag, 15. Mai 1973. Bei Zahnarzt Bardens. Alleine im Ebertpark."
Karlheinz wird am 24. Juni 1929 in Ludwigshafen geboren, einer Industriestadt, die Mitte des 19. Jahrhunderts am Reißbrett entworfen wurde. Später siedelte sich dort die BASF an, einer der schon damals weltgrößten Chemiekonzerne, der Ludwigshafen bis heute prägt. Die Werke, Arbeiter- und Angestellten-Siedlungen sind auf Quadratkilometern eine Stadt in der Stadt; Zehntausende arbeiten dort, in vielen Familien ist es Tradition.
Billy Hutter: "Gegen die BASF lässt sich von unsrer Stadt aus wenig sagen. Die sind so dominant, so viele Menschen sind von ihnen abhängig, dass es da auch kaum ein kritisches Bewusstsein gibt. Ich vergleich das gerne mit Bayer im Ruhrgebiet, die liegen da in diesem Konglomerat von Städten, da wird alles schon viel kritischer beobachtet. Wenn da ne neue Produktionsanlage gebaut wird, gibt´s da schon Leute, Wissenschaftler, Aktivisten, die da mal drauf gucken. Bei uns hat man den Eindruck: Das Werk macht, was es will, wir müssen dann gucken, wie wir mit klarkommen."
Karlheinz´ Vater ist Chemiker bei der BASF – ein Pedant mit ausgeprägter Neigung, Notizen zu machen ... Als sein Sohn geboren wird, vermisst er den Säugling sofort nach allen Regeln der Kunst und schreibt die Ergebnisse in sein Merkbuch. Ob er mit seinem Produkt zufrieden war?
"Dienstag, 28. Dezember 1954. Abends im Keller, Ludwigshafen, Leuschnerstr. 19: Papa schlägt mich mit Stock."
Da ist Karlheinz schon 23. Er bemüht sich jahrzehntelang, dem Vater zu gefallen. Auch er macht Notizen, liebt das Opelauto und studiert nach dem Abitur Chemie – allerdings erfolglos. Aber er wird Chemielaborant, natürlich bei der BASF in Ludwigshafen. 30 Jahre wird er dort arbeiten. Ob es ihm gefällt? Kein Wort davon in seinen Aufzeichnungen. – Von Billy Hutters Heimatmuseum ist es nicht weit zu dem Viertel, in dem Karlheinz aufgewachsen ist und später gelebt hat. Wir gehen los bei grauem Himmel, Wind und Regen, "typisches Ludwigshafen-Wetter", sagt Hutter:
"Jetzt kommen wir an die Hohenzollern-Blöcke. Hier hat Karlheinz die ersten zehn Jahre seines Lebens verbracht."
Die Wohnsiedlung wurde in den 20er-Jahren für höhere Angestellte der BASF errichtet. Inzwischen privatisiert, werden die Wohnungen, die etwas heruntergekommen waren, saniert und teuer verkauft und vermietet.
Billy Hutter: "Hier im Eckhaus hat er gewohnt. Und wenn wir jetzt vor zur Hohenzollernstraße gehen, dann können wir auch gleich das Geburtshaus des ehemaligen Bundeskanzlers sehen."
Ein Lob der Heimat von Altkanzler Kohl
Kanzler, Ludwigshafen. Das kann nur einer sein:
"Ich kann Ihnen versichern, ich hab in meinem Leben noch andere, schönere Städte erlebt, dazu gehört nicht viel Fantasie. Aber es ist unverwechselbar für mich meine Heimatstadt!"
Wo Helmut Kohl recht hat, hat er recht. Ludwigshafen ist nicht schön, es wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Was an historischen Bauten stehen blieb, riss man später größtenteils ab, um eine neue, "moderne" Stadt zu planen, mit viel Beton und breiten Stadtautobahnen. Teile davon sind heute so marode, dass sie wieder abgerissen werden müssen:
Billy Hutter: "Neben uns sehen wir die Hochstraße Nord, die den Autoverkehr über die Stadt hinweg nach Mannheim lenkt. Ludwigshafen gilt ja als Stadt der Hochstraßen, das modernste Hochstraßensystem Europas wurde diese Betonkonstruktion damals genannt. Zweifelsohne eine katastrophale Fehlplanung, schon von der Ästhetik her – abscheulich."
In Karlheinz´ Notizen heißt es ständig "bei uns in Ludwigshafen" oder "unsre Wohnung in Ludwigshafen". Offenbar hat er sich mit der Stadt identifiziert. Doch über die Abriss- und Bausünden der 70er, 80er-Jahre beklagt er sich nie: Womit er nicht allein ist. Bis heute gab und gibt es in Ludwigshafen keine großen Proteste gegen städtebauliche Veränderungen. – Karlheinz und Helmut Kohl waren übrigens etwa gleich alt und wuchsen an derselben Straßenecke auf. Heute braust hier der Verkehr, doch in den 30er-Jahren war es ein ruhiges Eck, wo die Kinder auf der Straße spielten.
Billy Hutter: "Zweifelsohne haben die sich auch gekannt, wie sich halt zehnjährige Jungs so kennen, die in die gleiche Schule gehen oder zum gleichen Bäcker einkaufen. Der eine ist halt ne weltbekannte Person, der hat´s zu was gebracht. Und Karlheinz, der eigentlich die gleiche Ausgangsposition hatte, der ist Karlheinz geblieben."
1939 zog die Familie in die nahe Leuschnerstraße, wieder in einen Wohnblock der BASF. Dort erlebte Karlheinz auch die erste schwierige Nachkriegszeit – und, wie man davon profitieren konnte:
"Da gibt's einen ganz tollen Schulaufsatz. Melodramatisch beschreibt er da, wie sich in der Innenstadt Schwarzmarkthändler in Ruinen treffen. Da kommt ein Kunde, ein armer Mann, der muss sich denen ausliefern, damit er seine Familie ernähren kann. Lustigerweise scheint sich seine Familie selbst ganz intensiv am Schwarzmarkt beteiligt zu haben. Da hatten die Unmengen von Eiern im Haus, 192 Eier, schreibt er irgendwann auf, die eingehandelt worden sind in ganz komplizierten Tauschverfahren. Da sind Vater und Sohn wohl zu den fränkischen Verwandten gefahren und haben Raps gekauft oder erhalten. Der Vater hat dann den Raps in der BASF zu Öl gepresst, das Öl haben sie gegen Wein getauscht und den Wein haben sie dann wieder gegen andre Lebensmittel eingetauscht. Also gehungert scheinen sie nicht zu haben."
Blick auf eine TDI-Anlage (Toluylendiisocyanat) des Chemie-Konzerns BASF. Die BASF hat Teile der neuen TDI-Anlage vorgestellt, welche bis jetzt die größte Investition der BASF am Standort in Ludwigshafen ist. Foto: BASF SE/Hans-Juergen Doelger/dpa (zu dpa/lrs «BASF bringt größte Einzelinvestition auf den Weg - neue TDI-Anlage» vom 15.06.2015 - ACHTUNG Verwendung nur für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung über die BASF und nur mit vollständiger Quellen-Angabe: "BASF SE/Hans-Juergen Doelger/dpa")
Eine Anlage des Chemie-Konzerns BASF in Ludwigshafen.© dpa / BASF SE / Hans-Juergen Doelger
Ein langer Rechtsstreit führt zur Tragödie
Wir sind vor der Wittelsbachstraße 82 angekommen, auch dies ein Haus der BASF – ein stattlicher 50er-Jahrebau, aber, wir sind in Ludwigshafen, von Verkehr umtost. Hier lebte Karlheinz seit 1957 mit den Eltern im vierten Obergeschoss. Der Vater starb 1977, die Mutter ein paar Jahre später.
Billy Hutter: "Es muss eine ganz große Einsamkeit gewesen sein in den letzten Jahren."
Und hier bahnte sich die Tragödie an, die zuletzt vielleicht sogar zu seinem Tod führte. Karlheinz spekulierte mit dem Geld der Eltern an der Börse und verlor einiges. Seine Schwester verklagte ihn, er hätte das Erbe verzockt, es ging wohl um 50.000 Mark. Daraus folgte ein jahrelanger Rechtsstreit. Das wird Karlheinz´ fast schon zwanghaft geordnetes Leben erschüttert haben – bis dann das Schlimmste geschah.
Billy Hutter: "Das große Drama in Karlheinz´ letzten Jahren war wohl, dass er aus der Wohnung raus musste."
"Mein Zimmer in unserer Wohnung bei uns in Ludwigshafen ... "
Billy Hutter: "Im Normalfall ist es so, dass nur der Betriebsangehörige und seine Ehefrau das Recht haben, in der Werkswohnung zu leben. Mir schien es immer so, als wäre er so mit dieser Wohnung verstrickt gewesen, aufgrund der Fülle seiner Dinge, die er besaß, dass er sich nicht vorstellen konnte raus zu gehen, irgendwo andershin, noch kleiner, Ein-Zimmer-Wohnung. Und wohin mit den ganzen Sachen der Eltern?"
Ende November 1990 stirbt Karlheinz Naksch.
Billy Hutter: "Man hat ihn tot im Rhein gefunden. Irgendwas muss ihn da schon hingetrieben haben."
Jetzt hat Billy Hutter einen vorläufigen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit diesem seltsamen Mann gezogen. In seinem Buch "Karlheinz", das im Berliner Metrolit-Verlag erschien, erzählt er dessen Leben –und spricht auch von sich, der ebenfalls nie aus Ludwigshafen weggekommen ist:
"Ich bin in letzter Zeit zu dem Schluss gekommen, dass ich den Karlheinz doch für mich benutzt habe, um meine Sachen zu erzählen, um über mich nachzudenken, über diese Stadt. Dass es mir gar nicht so um die Person selbst ging. Und nebenbei: Man kann noch so viele Sachen von einer fremden Person besitzen – wer die Person war, das ist mir auch klar geworden, hab ich nicht verstanden, wie er gedacht hat, was er gefühlt hat."
"Speisen, die gut schmecken: Spaghetti, Hackbraten, Fleischküchle, Sauerkraut, Spinat, Apfelstrudel, Grießauflauf mit Äpfeln, Reispudding, Grießklöße mit Dörrobst, Faschingskrapfen, runde Apfelschnitten, Frankfurter Würstchen."
Ludwigshafen ist die Schwesterstadt von Mannheim, sie liegen nebeneinander, nur vom Rhein getrennt. Mannheim die schicke, mit reicher Kulturszene, Ludwigshafen die triste. Karlheinz ist durchaus ihr Repräsentant, was nicht abwertend gemeint ist. Am Ende seines Buchs schlägt Billy Hutter vor, am Rhein ein kolossales Karlheinz-Denkmal aufzustellen, das "Denkmal des unbekannten Laboranten". Aus farbigem Polyester – gesponsert von der BASF.
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