Karl Marx und Kevin Kühnert

Fürchtet euch, der Umsturz kommt!

04:23 Minuten
Eine Street-Art-Karikatur an einer Wand zeigt Karl Marx als Flaschensammler, der in einem Mülleimer wühlt.
Karl Marx und sein Gespenst des Kommunismus taucht immer wieder auf - hier auf einer Häuserwand. © picture alliance / dpa / chromorange
Eine Kolumne von Arno Orzessek · 29.05.2019
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Karl Marx' "Gespenst des Kommunismus" geistert bis zum heutigen Tag als Drohkulisse durch die kapitalistische Ordnung der Dinge, zum Beispiel wenn Kevin Kühnert die Kollektivierung großer Konzerne fordert. Aber ist es wirklich ein so bedrohliches Gespenst?
Um die Pointe vorwegzunehmen: Das berühmteste Gespenst der politischen Geschichte, "das Gespenst des Kommunismus", war gar kein Gespenst. Und sein Erfinder hat auch nie etwas anderes behauptet.
Aber der Reihe nach: Im November 1847 traf sich in London der Bund der Kommunisten, eine revolutionär-sozialistische Vereinigung mit internationalen Ambitionen. Man beschloss dort: Das neue politische Programm des Bundes soll der Philosoph Karl Marx schreiben, auch bekannt als Herausgeber der "Neuen Rheinischen Zeitung".
Zurück in Brüssel, griff Marx zu den Vorarbeiten seines Freundes Friedrich Engels, der seinerseits vom Frühsozialisten Moses Hess abgekupfert hatte, und lief zu intellektueller Hochform auf.
Der Abgabetermin verstrich, Marx wurde zur Eile ermahnt. Aber als der Text fertig war, stand außer Frage: Die Gründlichkeit hatte sich gelohnt.

Eine scharfe Ansage an die industrialisierte Welt

Das "Kommunistische Manifest" diente dem Bund als neues Programm – aber es war weit mehr, nämlich eine scharfe Ansage an die industrialisierte Welt und die Profiteure des Kapitalismus.
Sie lautete: Alles, was mit politischer Herrschaft, den Eigentumsverhältnissen und den Methoden des Wirtschaftens zu tun hat, muss sich ändern. Und es wird sich ändern. Denn die siegreiche Revolution des Proletariats, der welthistorische Umsturz, er kommt gewiss.
Im Einzelnen ist das Manifest natürlich viel komplexer, komplizierter und vor allem anmaßender. Unverhohlen kündigte Marx an: Was die Kommunisten vorhätten, das könne nur erreicht werden "durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung."

Ein rhetorisches Meisterwerk

Inhaltlich ungeheuer tiefsinnig, drohend, ist das Manifest auch ein rhetorisches Meisterwerk. Und der berühmteste Clou ist der Auftritt des Gespenstes.
Sarkastisch behauptet Marx, ein Gespenst gehe um in Europa – "das Gespenst des Kommunismus" – und alle alten Mächte vom Papst bis zum "deutschen Polizisten" würden dieses Gespenst jagen.
Aber Gespenster, das musste Marx nicht groß betonen, gibt es nur in der Fantasie. Indem er ihnen Gespensterjagd unterstellt, macht Marx die Hüter der bestehenden Ordnung lächerlich, um drei Zeilen später selbstbewusst und ironiefrei auf Klartext umzuschalten: "Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt."
Marx gibt den Klassenfeinden also zu verstehen: Der Kommunismus, der euch gespenstisch vorkommen mag, ist längst blanke Wirklichkeit – und sein Werk wird es sein, Eure Herrschaft abzuschaffen.
Das "Kommunistische Manifest" erschien in kleiner Auflage pünktlich zu den revolutionären Ereignissen von 1848/49. Wie viele Menschen es damals in ihrem Kampf beseelt hat, weiß man nicht.
Fest steht indessen: Im großen Ganzen siegten 1849 in Europa nicht die Revolutionäre, sondern die Reaktionäre. Zugleich wurde das Manifest immer berühmter, am berühmtesten aber, neben dem Aufruf an die "Proletarier aller Länder" zum Schluss: der Gespenster-Satz am Anfang.

Kevin Kühnert und das Gespenst

Das Gespenst des Kommunismus war als rhetorische Figur ein für alle Mal in der Welt, weil Karl Marx es hineingeboren hatte. Und seither geistert es als Drohkulisse durch die kapitalistische Ordnung der Dinge - bis zum heutigen Tag.

Wenn Kevin Kühnert die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung großer Konzerne fordert, wenn er beispielhaft die Enteignung von BMW in Erwägung zieht, dann wird das Gespenst des Kommunismus wieder lebendig. Und wieder verkündet es: Ich bin gar kein Gespenst! Ich bin vielmehr die Kraft, die alles umstürzen kann, was Euch, den Herrschenden, lieb und teuer ist.
Was war damals die Antwort auf das gespenstische Treiben? Es war die SPD. Die Sozialdemokraten halfen tüchtig mit, die Angst vor dem Schreckgespenst zu vertreiben. Heute müssten sich nach Lage der Dinge wohl die Grünen um diese Aufgabe kümmern.
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