Karl-Heinz Göttert: „Massen in Bewegung“

Streifzug durch die Geschichte bewegter Massen

07:38 Minuten
Karl-Heinz Göttert: „Massen in Bewegung. Über Menschenzüge“
© Die Andere Bibliothek

Karl-Heinz Göttert

Massen in Bewegung. Über Menschenzüge Die Andere Bibliothek , Berlin 2023

436 Seiten

44,00 Euro

Von Arno Orzessek · 23.01.2023
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Von antiken Festzügen über christliche Prozessionen und nationalsozialistische Umzüge bis hin zu Fridays for Future: Seit Jahrtausenden bewegen sich Menschen in Massen. Karl-Heinz Göttert widmet dem Phänomen ein großartig bebildertes Buch.
Hinweis an alle, die sich mit dem Phänomen "Masse" schon auskennen: Lesen Sie zunächst den Epilog! Dort erklärt Karl-Heinz Göttert, warum er in seinem neuen Buch "Massen in Bewegung" an den intellektuellen Höhen und Tiefen maßgeblicher Werke wie Le Bons "Psychologie der Massen", Freuds "Massenpsychologie und Ich-Analyse" und Canettis "Masse und Macht" gleichsam vorbeigeschrieben hat.
Göttert beruft sich auf Judith Butler, der die körperliche Dimension der Masse wichtiger ist als die psychologische. Der Rhetorikexperte betont, dass Körper auf ihre Weise "sprechen" und "handeln" können – umso wirksamer, wenn sie sich zur Masse verdichten. Sein Buch ist der Versuch, „eine Art Evolution des gemeinsamen Gehens zu verfolgen“.

Das Einlasstor in Stonehenge

Im Prolog beleuchtet Göttert die „Woman Suffrage Procession of 1913“ in Washington, die im Kampf ums Frauenwahlrecht wichtig war. Danach beginnt ein chronologischer Streifzug durch die Geschichte bewegter Massen, und zwar in Stonehenge.
Dort wurde eine Art Einlasstor entdeckt, auf das eine breite Straße zuführt. Göttert spekuliert, dass sie für Prozessionen gebaut wurde, und zählt sie wie andere vorchristliche Wege in Babylon und Ägypten zu den „heiligen Straßen“.
Da bleibt manches vage, auch sprachlich muss sich Göttert noch eingrooven. Im antiken Griechenland jedoch wird der Stoff griffig und der staatstragende, vergemeinschaftende Sinn unterschiedlicher Prozessionen klar, etwa beim Panathenäenfestzug. Ptolemäus II. wiederum legte mit der „Großen Prozession“ in Alexandria (vermutlich 274 v. Chr.) die Messlatte für Umzugsprotz und -pomp derart hoch, dass erst die ausgefeilten römischen Triumphzüge drüber sprangen.

Venedig als „Stadt der Prozessionen“

Es liegt im Wesen des Streifzugs, dass vieles nur gestreift wird. Experten für spezielle Aspekte mögen hier und da aufstöhnen. Aber klar: Das ist der Preis für den Jahrtausende umspannenden Überblick. Wie Rom das griechische Umzugserbe aufgreift, variiert, umformt, und wie später das Christentum nach anfänglicher Verteufelung der Umzugstradition zur eifrigen Prozessionsreligion wird – Göttert breitet es zügig, aber gut nachvollziehbar aus.
Außerdem er streut detailreiche Einzelbetrachtungen ein, etwa zu Venedig als „Stadt der Prozessionen“ inklusive Karneval. Ob mittelalterliche Herrschereinzüge, die neuartigen Feste der Französischen Revolution, die politischen Feste im vornationalen Deutschland. Erst die Masse gibt ihnen Gewicht, so wie umgekehrt die Masse durch sie formiert wird – zu gänzlich verschiedenen Zwecken.

Gemeinsames Gehen wird zur Demonstration

Abstraktere Bestimmungen und Gedankengänge kommen vor, doch im Zentrum steht die konkrete Besichtigung der Erscheinungen von Masse – unterstützt von einer großartigen Bebilderung. In der Weimarer Republik wird gemeinsames Gehen endgültig zur Demonstration, unter Hitler zum strikt regulierten säkularen Kult, 1968 (wie später bei Pegida) zum Angriff aufs verhasste System, 1989 zur friedlichen Revolution. Göttert mündet in die Gegenwart ein, auch Greta Thunberg tritt noch auf.
„Massen in Bewegung. Über Menschenzüge“ ist ein Buch zum niveauvollen Schmökern, das vieles bietet, jedoch keine philosophische Tiefe. Dafür aber ein bedenkenswertes Resümee: „Wenn es etwas Überzeitliches, eine Universalie beim gemeinschaftlichen Gehen geben sollte, dann die: dass 'Überzeugung', 'Wahrheit' immer auch etwas mit der Zahl derer zu tun hat, die sie vorbringen oder vertreten.“
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