Karl der Große tritt ab
Über 20 Jahre war Karl Kardinal Lehmann Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Nun tritt er aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt zurück und macht den Weg frei für einen Nachfolger.
Karl Kardinal Lehmann über seine Eltern und deren freiheitliche Erziehung:
"Das hat mich sehr geprägt. Ich habe immer Wert darauf gelegt, dass zum Beispiel jeder Bischof, wenn er sich öffentlich äußert, so reden kann, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Dass er seine Freiheit hat, selbst wenn es mich geärgert hat."
Karl Kardinal Lehmann über das Riesenschiff katholische Kirche:
"Es ist doch also sehr autoritätsbeladen. Hat mich schon irritiert."
Der Bischofsplatz in Mainz. Enge Gassen. Zweistöckige Hauser. Schwerer roter und gelber Stein. Kopfsteinpflaster. Wenig Menschen auf der Straße. Vom Domplatz herüber klingt Glockengeläut. Der Sitz des Bistums. Hier lebt und arbeitet Karl Kardinal Lehmann. Von hier aus regiert, moderiert der 71-Jährige seit 21 Jahren die katholische Kirche in Deutschland.
Im Erdgeschoss ein großer Raum. Drei große, grüne Topfpflanzen vor einem breiten Fenster. Von draußen die Glocken des nahen Doms. An der Wand in Öl einer der Vorgänger des Mainzer Bischofs Lehmann. Aus dem linksrheinischen Elsaß. Ein Sidebord, 50er-Jahre-Stil. Darauf die Büste von Papst Johannes XXIII.
"Also das war eine frühere Haushälterin, die die ersten drei, vier Jahre im Haus war. Die hat modelliert. Ich habe ja in Rom die ganze Zeit erlebt von ihm von 1958 bis 1963, Sommer vermutlich."
Er verhehlt nicht, dass er diesen Papst sehr mag. Auch noch nach so vielen Jahren. Karl Lehmann sitzt an einem runden Tisch. Etwas unruhig auf einem Holzstuhl. Die dunklen Haare sind in den 21 Jahren als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz grauer geworden. Die Augen sind wach. Der schwere Mann gestikuliert beim Sprechen und verfügt über ein phänomenales Gedächtnis. Seine Lieblingsworte sind Freiburg und Freiheit. Auf die kommt er immer wieder zurück und auf seine Eltern. Auch an diesem Nachmittag des Aschermittwochs.
"Mein Vater war im Krieg, im früheren Jugoslawien und kam im Sommer nach Hause. Meine Mutter stammte von einem Bauernhof und wir lebten auf einem Bauernhof. Ich bin am 8. April zum ersten Mal in die heilige Kommunion gegangen. Morgens um sieben Uhr mussten wir in die Kirche wegen der Bomber, die später in der Luft gewesen sind. Ich habe das alles noch in guter Erinnerung."
Der 71-Jährige schaut hinaus in den Garten, macht in diesem Moment keinen erschöpften Eindruck, obwohl er ja auf dringenden Rat seiner Ärzte nicht mehr Oberhirte der deutschen Katholiken sein wird. Mehr als zwei Jahrzehnte ist überhaupt noch niemand in der 160-jährigen Geschichte dieser Konferenz ihr Vorsitzender gewesen. Er beugt sich vor, stützt sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Eine typische Geste Lehmanns. Neigt den Kopf und erinnert sich an seine Berufswahl.
"Meinen Eltern habe ich vorher sowieso nichts gesagt, weil ich selber noch gar nicht klar war. Die haben mich in wunderbarer Freiheit gelassen, obwohl wir also streng religiös waren. Meine Mutter hat mir damals auch gesagt, wenn du das probieren willst, dann kannst du das, aber wenn du merkst, dass du das nicht kannst, dann kannst du auch nach Hause kommen."
Im Garten wehrt sich der Winter gegen den eindringenden Frühling. Heller Sonnenschein fällt auf die grauen, sandigen Farben. Lehmann, der an diesem Aschermittwoch in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt noch einiges vorhat, lehnt sich zurück, schiebt die randlose Brille hoch, neigt den Kopf nach rechts. Auch eine typische Geste von ihm. Redet einfach weiter über jene Zeit…
"Ich weiß noch gut, als ich dann gefragt worden bin 1957, ob ich in Rom weiter studieren wollte. Meine Eltern hatten kein Telefon. Briefe dauerten zu lange. Ich wollte auch nicht entscheiden, ohne die Eltern zu fragen. Also habe ich die damals seltene Erlaubnis bekommen, während des Semesters mal nach Hause zu fahren. Ich bin an einem Samstagabend nach Hause gekommen und meine Mutter sagte zu mir: 'Haben sie dich rausgeschmissen?' Dann habe ich auf der Treppe gesagt, ja, nach Rom."
Wenn Karl Lehmann lacht, tut er das aus vollem Hals. Das Gesicht öffnet sich. Die Augen lachen mit. Blicken schalkhaft. Der Mund ist weit geöffnet. Der Kopf etwas nach oben gestellt. Es ist ein kräftiges Lachen. Eines, das zu ihm gehört. Ihn bei den Menschen nicht nur seines Bistums so sympathisch macht.
Der 71-Jährige steht auf. Er muss in den Dom.
Der Mainzer Dom ist rot. Rostrot strahlt er im untergehenden Sonnenlicht. Er ist von außen gewaltig. Nicht hoch aufragend, elegant. Er ist klobig.
Die Priester, der Bischof, die Sängerinnen und Sänger, die Gemeindemitglieder eilen durch die engen Straßen der alten Mainzer Innenstadt über den Markt und den Liebfrauenplatz zum Gotteshaus. Sie folgen dem Klang der Glocken an diesem ersten Tag der 40-tägigen Fastenzeit.
Innen ist der Dom grau. Graue Bleifenster in beiden Seitenschiffen. Hohe, graue Steinsäulen begrenzen die Schiffe, graue Wände. Ein sandfarbener Steinfußboden. Hinter dem Altartisch drei hohe, schmale, farbige Bleiglasfenster. Die Stuhlreihen aus hellem Holz. Unbequem. Die Kirche füllt sich. Die Gläubigen warten auf ihren Bischof. Wie ist der das eigentlich geworden?
"Eines Tages bekomme ich am 3. Juli 1983 einen Telefonanruf vom damaligen Domkantor Hermann Berg. Ich dachte, was will denn der? Wir sind zum Cafe gefahren und haben begonnen, gegenseitig herum zu schnuppern. Und auf einmal hört er mit dem Kaffee trinken auf: Jetzt muss ich mal zur Sache kommen. Ich muss sie im Auftrag des Domkapitels und des Papstes fragen, ob sie bereit sind, die Wahl zum Bischof von Mainz anzunehmen?"
Dann sagt er noch, jetzt müsse er sich wirklich beeilen, schließlich müsse er den Gottesdienst abhalten, wendet sich nach links und meint noch rasch:
"Der Papst war in der Zwischenzeit in seiner polnischen Heimat und hat meine Wahl, wie ich später dann hörte, von Krakau aus bestätigt."
Die Kirche ist voll. Mit unterschiedlichen Menschen.
Reihe 25. Die junge Frau schaut versonnen. Sie ist Ende 20. Blond. Trägt eine grüne Lederjacke mit Fransen, blaue Jeans, helle Sportschuhe.
Reihe 23. Eine alte Frau. Allein. Gebeugt. Die Brille ein Kassengestell. Eine blaue Strickmütze. Hellblauer, gefütterter Anorak. Vor sich das rote Gebetbuch. Zwischen den Beinen eine Alditüte. Gefütterte, halbhohe Schuhe mit Reißverschluss. Noch immer kommen Frauen und Männer in die Kirche, beugen die Knie, bekreuzigen sich.
Reihe24. Ein älteres Ehepaar nimmt Platz. Beide ergraut. Er gebeugt. Sie aufrecht sitzend. Er im hellen, sie im dunklen Mantel. Sie trägt einen seidenen, er einen Wollschal. Beide schauen streng - sich nicht an.
Sie beten.
Der Gottesdienst beginnt mit dem Einzug des Kardinals mit zwei Priestern und vier schwarz-weiß gekleideten Ministranten. Lehmann hat sich rasch umgezogen. Lila Kappe, Lila Talar, breit bestickt. Kardinalsornat. Der Aschermittwochsgottesdienst. Sie verharren vor dem Altarraum zu den Klängen der Orgel, die langsam verklingt.
Karl Kardinal Lehmann geht zum Pult. Er geht gar nicht. Er hinkt. Eine Knieoperation
hat er immer wieder aufgeschoben. Keine Zeit. Nun muss er unters Messer. Demnächst, sagt er.
Lehmann spricht frei. Die jungen und alten Menschen hören ihm zu. Niemand nickt ein. Es sind viele junge Leute im Dom. Der Mann ist beliebt. Ein Menschenfischer.
Endlich ist es soweit. Langsam bewegt sich die Gemeinde nach vorne, verbeugt sich, bekommt das Kreuz und dann geht jeder wieder an seinen Platz zurück. Es ist sehr still geworden. Fast ergreifend und ein wenig unwirklich. Nichts ist hektisch. Nichts ist laut. Nichts ist grell. Es ist als suchen die Menschen an diesem Abend in der Kirche Schutz.
Dann gehen sie. Viele nach Hause. Andere in den Erbacher Hof. Das ist die Akademie des Bistums Mainz. Dort gibt es heute Abend ein Konzert in der Reihe Glaube und Kunst.
Karl Lehmann geht über den Platz und erinnert sich an die Zeit, als er aus seinem geliebten Freiburg weg muss. Nach Mainz umzieht. Hier Bischof wird.
"Ich weiß nicht, wie oft ich im Leben geheult habe. Aber geheult habe ich, als ich dann die Türen zugeschlossen habe. Ich bin dann mit meinem Pkw dem Möbelwagen hinterher gefahren. Da habe ich lange geheult. Nicht nur, weil ich meine Katzen ungern zurück ließ …"
35 Jahre ist er jetzt Bischof in Mainz. 1983 wird er gewählt. 21 Jahre Vorsitzender der Bischofskonferenz. 1987 wird er gewählt. Er geht auf seinen Bistumssitz zu. Das liegt in einem kleinen Hof. Sehr still. 60er Jahre Baustil. Beton, Holz und Glas.
Er erinnert sich an seine erste große Auslandsreise ein Jahr nach seiner Wahl, nach Kuba. Ich begleite ihn als ARD-Korrespondent dorthin. 20 Jahre ist das her.
"November 88. Also, da war dabei der Emil Stehle. Der Emil Stehle war für mich deshalb wichtig, weil, ich musste ja spanisch predigen und habe auf den Flügen immer Spanisch im Flugzeug geübt, weil man ja doch relativ viel flog."
Emil Stehle ist zu jener Zeit Chef der katholischen Hilfsorganisation Adveniat und Weihbischof der Stadt San Salvador in Equador. Er ist der Diplomat des Vatikans in Lateinamerika. Karl Lehmann bekommt ganz leuchtende Augen, als er sich an die Kubareise erinnert. Und an einen denkwürdigen Morgen in Santiago de Cuba:
"Haben sie eigentlich damals mitgekriegt, dass ich von Santiago aus nach Rom befohlen worden bin? Samstagmorgen, der Schorsch Hörster hat mich geweckt um halb sieben oder sieben und hat gesagt: Du musst sofort nach Rom. Bist du verrückt? Was soll ich jetzt in Rom? Der Papst will, dass du nach Rom kommst!"
Lehmann erzählt, dass die Geschichte ihn noch heute amüsiert. Er sitzt wieder auf seinem Stuhl an dem runden Tisch in diesem wohnzimmerartigen Raum mit Kerzen und Blumen und einer Plüsch-Sitzecke, faltet die Hände und stützt sich wieder auf den Knien ab.
"In Rom kam ich zum Papst. Direkt, sofort danach. Ich habe höflich gewartet, bis er gesessen ist, oder er saß schon und hat mir gesagt: Ich will bei Ihnen einen Bischof aus dem kommunistischen Gebiet haben: Meissner, nach Köln. Darüber habe ich viel nachgedacht und viel gebetet. Dabei sollen sie mir helfen. Es war also klar, dass darüber nicht mehr viel diskutiert wird."
Da ist es wieder, dieses befreiende Kardinalslachen. Auch wenn die Angelegenheit, an die er sich erinnert, so unkompliziert nicht ist. Die Kölner wollen Meissner nicht wählen. Papst Paul will ihn ernennen. Das kann er. Lehmann soll das seinen deutschen Glaubensbrüdern mitteilen. Dem Papst erwidert er:
"Ich mache natürlich, was sie jetzt von mir erwarten. Aber, ich werde mit Sicherheit eine negative Antwort mit zurückbringen. Deswegen geben sie mir doch die Erlaubnis, dass ich noch einmal mit dem Domkapitel rede und die vielleicht doch mal wählen können. Oh! Und dann ging es lange hin und her!"
Der 71-Jährige erzählt mit Lust und er kann das auch. Die Menschen hören ihm gern zu. Natürlich vor allem dann, wenn es um den Vatikan, den Papst und die anderen Akteure geht. In seinen Augen blitzt der Schalk, als er die Geschichte weiter erzählt.
"Dann kommt ein kleiner Staatsekretär, Casaroli. Sodano. Der war Substitut. Und Ratzinger. Die drei sind es schließlich und endlich. Der Sodano hat mich fast angeschrien und gesagt: Wenn sie zu denen gehen und die wählen, garantieren sie, dass die den Meissner wählen? Nein, Wahl ist Wahl. Zu 98 Prozent werden sie den Wunsch des heiligen Vaters erfüllen. Die zwei Prozent sind drin …"
"Schließlich hat der Papst zugestimmt. Da hat mir Ratzinger sehr geholfen, als dann der Sodano doch nicht wollte. Habe mich schon gewundert, dass der dem Papst solange Widerstand leisten konnte. Schließlich hat der Papst mit einer unnachahmlichen Geste die ganzen Akten über den Tisch zu Sodano rüber bewegt und gesagt, so, das machen sie fertig. Dann hat der wieder angefangen.
Dann habe ich also gesagt, Heiliger Vater, ich meine, sie hätten entschieden. Und dann hat Ratzinger eingegriffen und hat gesagt, ja, der Heilige Vater hat entschieden. Da war die Geschichte vom Tisch."
Karl Lehmann ist nicht nur ein Menschenfischer. Überall wird er freundlich, voller Zuneigung begrüßt. Auch an diesem Abend auf dem Weg in den Erbacher Hof. Er ist auch ein Geschichtenerzähler. Und er weiß, dass die Geschichte seiner katholischen Kirche aus so unermesslich vielen Geschichten besteht. Viele erlebt er selbst.
Er bleibt stehen und kommt noch einmal auf Rom zurück, in das er 1957 zum Studium kommt.
"Genau ein Jahr später, nachdem ich kam. Ich habe also noch ein Jahr Pius XII. erlebt mit dieser unnahbaren Hoheit aber auch dieser Würde, die der Mann ausstrahlte. Wir hatten ja damals kein Radio während der Exerzitien. Nicht miteinander gesprochen. Nichts. Als Hugo Rahner zur Betrachtung über die Kirche kam, letzten halben Tag, sagte er, so, jetzt muss ich ihnen sagen, der Papst liegt im Sterben."
Fast 50 Jahre ist das her. Oktober 1958. Der Mann ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Er schmunzelt und schüttelt den Kopf …
"Ich stand auf dem Petersplatz und war schrecklich geknickt, weil die so einen Alten gewählt haben. Wir waren also wirklich tief enttäuscht nach Hause gegangen."
Ausgerechnet dieser Alte, Johannes der XXIII, beeindruckt Lehmann dann Zeit seines Lebens und darüber hinaus. Bevor er in den Erbacher Hof geht, sagt er dann noch einen Satz. Ganz kurz. Mit sehr klaren Augen.
"Mich hat die Kirche damals begeistert."
Der Saal ist groß und weiß. Auf dem Podium ein Klavier. Zwei weiß gedeckte Tische mit Blumengebinden. Vier lila Sessel. Die meisten Gäste kommen aus dem Gottesdienst die paar Schritte hierher. Wenig junge Menschen. Die meisten sind älter. Von der Decke hängt eine Art überdimensioniertes Metallgitter mit Glühbirnen herab. Vier Lautsprecher an den Wänden. Es wird voll. Höhepunkt des Abends ist das Konzert der 35 Jahre alten Pianistin Ragnar Schirner. Lehmann ist mit seinen beiden Weihbischöfen gekommen.
Chopin. Das Publikum ist begeistert. Der Kardinal auch. Er erhebt sich, geht auf die Pianistin zu, gratuliert ihr. Die junge, selbstbewusste Frau strahlt. Geht mit Freunden die enge Treppe hoch in den Saal. Dort gibt es Mainzer Käse, Baguettestangen, Wasser und Dornfelder-Rotwein. Der Kardinal bleibt noch unten. Unterhält sich mit diesem und jenem. Lehmann hört gerne Musik
"Da ich vor vielen Jahren gesagt habe, dass ich gerne Abba höre, bin ich total festgelegt auf Abba und habe auch deswegen gar nichts mehr zu sagen. Ha, Ha. Aber das stimmt natürlich nur bedingt. Ich höre gerne mal Abba zur Entspannung und auch mal die Beatles aber auch Haydn und Bach und die Italiener des 16. und 17. Jahrhunderts machen mir Riesenspaß."
Karl Lehmann ist auch nach all den Jahren in seinen hohen Ämtern ein lebensfroher Mensch. Er versteht zu genießen und zeigt das auch. Er hört an diesem Abend konzentriert seinen jeweiligen Gesprächspartnern zu. Neigt den Kopf nach rechts. Nickt, verschränkt die Arme und antwortet zwischendurch auf die Frage, ob er gerne Rotwein trinkt:
"Ja, da trinke ich also natürlich, nachdem ich jetzt insgesamt 28 Jahre in Mainz bin, da trinke ich gerne wie die Italiener sagen vino del paese, Wein des Landes. Aber vorzugsweise am Abend Rotwein aus dem Ahrtal oder aus Igelheim. Da haben wir hervorragenden Rotwein."
Der obere Saal ist gerammelt voll. Lange schmale Tische. Schmale Stühle. Brotkörbe. Schüsseln mit einer Art rötlichem Frischkäse. Dornfelder- und Wasserflaschen. In der Mitte der Tisch für Lehmann, die Pianistin und andere prominente Gäste. Später am Abend.
Der Kardinal sitzt am Tisch. Trinkt Rotwein. Hat den Kopf nach rechts geneigt. Hört der neben ihm sitzenden jungen Klavierspielerin zu. Die beiden lassen sich nicht stören. Reden und trinken. In diesem Moment ist Lehmann überhaupt kein Kardinal. Vielmehr ein doppelt so alter, freundlicher, charmanter Mann. Ragna Schirner lächelt ihn mit großen Augen an. Es ist spät geworden. Das stört die beiden nicht.
Die ersten gehen nach Hause. Aschermittwochabend. Karl Lehmanns letzter als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, die am Montag danach im Kloster Himmelpforten bei Würzburg stattfindet.
Karl Kardinal Lehmann kommt an diesem Morgen den kopfsteingepflasterten Weg entlang, betritt das Exerzitienhaus. Er zieht sein Bein nach, schmerzt es?
Es sind die letzten Tage. Seine letzten Tage als Vorsitzender der Bischofskonferenz. Und der Auftrieb ist groß. 69 Mitglieder sind gekommen. Alle. 200 Journalisten etwa. Ein Drittel der Arbeit Lehmanns ist Öffentlichkeitsarbeit. Und: Lehmann steht in seiner Amtszeit manchen harten Konflikt durch. Auch mit dem Vatikan und dem Papst.
"Ich habe seit einigen Monaten eine für mich sehr wichtige Bestätigung gefunden. Ich hatte ja bis ein Jahr vor der Kardinalsernennung wegen der Schwangerenkonfliktberatung mit Johannes Paul II. und mit dem heutigen Papst keine so ganz leichte Tour. Aber ich habe immer die Erfahrung gemacht, es wird mir nicht übel genommen, dass ich etwas verteidige."
Es herrscht ein ziemlicher Rummel, Fotografen, Kameraleute, Reporter. Lehmann mittendrin, geht in Richtung Fahrstuhl. Schaut nachdenklich, stellt sich leicht vorgebeugt hin. Erzählt die Geschichte seiner letzten Begegnung mit Papst Johannes Paul II. linker und rechter Hand während dessen Pontifikats, Kardinal Dzywizc. Der erzählt Lehmann, wie es dazu gekommen ist, dass er Kardinal wird.
"Ich bin vor ein paar Monaten in Krakau gewesen … und dann hat mich Kardinal Dzywizc abgeholt. Als ich mit ihm Auto fuhr, hat er gesagt, endlich treffe ich sie mal allein und kann ihnen etwas sagen, was ich Ihnen schon länger sagen wollte. Sie wissen gar nicht, wie sehr sie Johannes Paul II. geschätzt hat. Das haben sie wahrscheinlich nie erfahren. Zweitens will ich ihnen sagen, ist es allein und nur allein seine persönliche Entscheidung gewesen. Das wollte ich ihnen einmal sagen. Das habe ich noch nie jemandem erzählt."
Der restaurierte Kreuzgang des im Krieg von alliierten Bomben schwer beschädigten Klosters Himmelpforten ist ein Ort der Ruhe. Der Gang führt zum Konferenzsaal. Lehmann ist auf dem Weg dorthin. Will Konferenz ein letztes Mal leiten, bevor er am 18. Februar zurücktritt und das Amt an seinen Freiburger Nachfolger Robert Zollitsch übergibt. Warum ausgerechnet der 18.Februar? Lehmann bleibt stehen.
"Ich wollte die Vollversammlung selber zu Ende machen. Aber es war mir schon immer klar, dass Kardinal Wetter am 18.2. 80 Jahre alt ist. Er war als Professor mein Vorgänger in Mainz. Es war dann etwas schwierig in einer Kampfabstimmung gegen Friedrich Wetter um den Vorsitz der Bischofskonferenz, bei der ich 1987 gewählt worden bin. Aber das hat das gute Verhältnis schließlich und endlich nicht getrübt. Er ist jetzt 40 Jahre Bischof. Das wird nicht mehr so schnell vorkommen."
Dann geht er. Der große Karl. Ganz in schwarz. Mit seiner schwarzen Aktentasche. Nach vorne gebeugt. Hinkend. Sehr ruhig. Sehr fröhlich. Der Menschenfischer. Der Geschichtenerzähler.
"Das hat mich sehr geprägt. Ich habe immer Wert darauf gelegt, dass zum Beispiel jeder Bischof, wenn er sich öffentlich äußert, so reden kann, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Dass er seine Freiheit hat, selbst wenn es mich geärgert hat."
Karl Kardinal Lehmann über das Riesenschiff katholische Kirche:
"Es ist doch also sehr autoritätsbeladen. Hat mich schon irritiert."
Der Bischofsplatz in Mainz. Enge Gassen. Zweistöckige Hauser. Schwerer roter und gelber Stein. Kopfsteinpflaster. Wenig Menschen auf der Straße. Vom Domplatz herüber klingt Glockengeläut. Der Sitz des Bistums. Hier lebt und arbeitet Karl Kardinal Lehmann. Von hier aus regiert, moderiert der 71-Jährige seit 21 Jahren die katholische Kirche in Deutschland.
Im Erdgeschoss ein großer Raum. Drei große, grüne Topfpflanzen vor einem breiten Fenster. Von draußen die Glocken des nahen Doms. An der Wand in Öl einer der Vorgänger des Mainzer Bischofs Lehmann. Aus dem linksrheinischen Elsaß. Ein Sidebord, 50er-Jahre-Stil. Darauf die Büste von Papst Johannes XXIII.
"Also das war eine frühere Haushälterin, die die ersten drei, vier Jahre im Haus war. Die hat modelliert. Ich habe ja in Rom die ganze Zeit erlebt von ihm von 1958 bis 1963, Sommer vermutlich."
Er verhehlt nicht, dass er diesen Papst sehr mag. Auch noch nach so vielen Jahren. Karl Lehmann sitzt an einem runden Tisch. Etwas unruhig auf einem Holzstuhl. Die dunklen Haare sind in den 21 Jahren als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz grauer geworden. Die Augen sind wach. Der schwere Mann gestikuliert beim Sprechen und verfügt über ein phänomenales Gedächtnis. Seine Lieblingsworte sind Freiburg und Freiheit. Auf die kommt er immer wieder zurück und auf seine Eltern. Auch an diesem Nachmittag des Aschermittwochs.
"Mein Vater war im Krieg, im früheren Jugoslawien und kam im Sommer nach Hause. Meine Mutter stammte von einem Bauernhof und wir lebten auf einem Bauernhof. Ich bin am 8. April zum ersten Mal in die heilige Kommunion gegangen. Morgens um sieben Uhr mussten wir in die Kirche wegen der Bomber, die später in der Luft gewesen sind. Ich habe das alles noch in guter Erinnerung."
Der 71-Jährige schaut hinaus in den Garten, macht in diesem Moment keinen erschöpften Eindruck, obwohl er ja auf dringenden Rat seiner Ärzte nicht mehr Oberhirte der deutschen Katholiken sein wird. Mehr als zwei Jahrzehnte ist überhaupt noch niemand in der 160-jährigen Geschichte dieser Konferenz ihr Vorsitzender gewesen. Er beugt sich vor, stützt sich mit beiden Händen auf den Knien ab. Eine typische Geste Lehmanns. Neigt den Kopf und erinnert sich an seine Berufswahl.
"Meinen Eltern habe ich vorher sowieso nichts gesagt, weil ich selber noch gar nicht klar war. Die haben mich in wunderbarer Freiheit gelassen, obwohl wir also streng religiös waren. Meine Mutter hat mir damals auch gesagt, wenn du das probieren willst, dann kannst du das, aber wenn du merkst, dass du das nicht kannst, dann kannst du auch nach Hause kommen."
Im Garten wehrt sich der Winter gegen den eindringenden Frühling. Heller Sonnenschein fällt auf die grauen, sandigen Farben. Lehmann, der an diesem Aschermittwoch in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt noch einiges vorhat, lehnt sich zurück, schiebt die randlose Brille hoch, neigt den Kopf nach rechts. Auch eine typische Geste von ihm. Redet einfach weiter über jene Zeit…
"Ich weiß noch gut, als ich dann gefragt worden bin 1957, ob ich in Rom weiter studieren wollte. Meine Eltern hatten kein Telefon. Briefe dauerten zu lange. Ich wollte auch nicht entscheiden, ohne die Eltern zu fragen. Also habe ich die damals seltene Erlaubnis bekommen, während des Semesters mal nach Hause zu fahren. Ich bin an einem Samstagabend nach Hause gekommen und meine Mutter sagte zu mir: 'Haben sie dich rausgeschmissen?' Dann habe ich auf der Treppe gesagt, ja, nach Rom."
Wenn Karl Lehmann lacht, tut er das aus vollem Hals. Das Gesicht öffnet sich. Die Augen lachen mit. Blicken schalkhaft. Der Mund ist weit geöffnet. Der Kopf etwas nach oben gestellt. Es ist ein kräftiges Lachen. Eines, das zu ihm gehört. Ihn bei den Menschen nicht nur seines Bistums so sympathisch macht.
Der 71-Jährige steht auf. Er muss in den Dom.
Der Mainzer Dom ist rot. Rostrot strahlt er im untergehenden Sonnenlicht. Er ist von außen gewaltig. Nicht hoch aufragend, elegant. Er ist klobig.
Die Priester, der Bischof, die Sängerinnen und Sänger, die Gemeindemitglieder eilen durch die engen Straßen der alten Mainzer Innenstadt über den Markt und den Liebfrauenplatz zum Gotteshaus. Sie folgen dem Klang der Glocken an diesem ersten Tag der 40-tägigen Fastenzeit.
Innen ist der Dom grau. Graue Bleifenster in beiden Seitenschiffen. Hohe, graue Steinsäulen begrenzen die Schiffe, graue Wände. Ein sandfarbener Steinfußboden. Hinter dem Altartisch drei hohe, schmale, farbige Bleiglasfenster. Die Stuhlreihen aus hellem Holz. Unbequem. Die Kirche füllt sich. Die Gläubigen warten auf ihren Bischof. Wie ist der das eigentlich geworden?
"Eines Tages bekomme ich am 3. Juli 1983 einen Telefonanruf vom damaligen Domkantor Hermann Berg. Ich dachte, was will denn der? Wir sind zum Cafe gefahren und haben begonnen, gegenseitig herum zu schnuppern. Und auf einmal hört er mit dem Kaffee trinken auf: Jetzt muss ich mal zur Sache kommen. Ich muss sie im Auftrag des Domkapitels und des Papstes fragen, ob sie bereit sind, die Wahl zum Bischof von Mainz anzunehmen?"
Dann sagt er noch, jetzt müsse er sich wirklich beeilen, schließlich müsse er den Gottesdienst abhalten, wendet sich nach links und meint noch rasch:
"Der Papst war in der Zwischenzeit in seiner polnischen Heimat und hat meine Wahl, wie ich später dann hörte, von Krakau aus bestätigt."
Die Kirche ist voll. Mit unterschiedlichen Menschen.
Reihe 25. Die junge Frau schaut versonnen. Sie ist Ende 20. Blond. Trägt eine grüne Lederjacke mit Fransen, blaue Jeans, helle Sportschuhe.
Reihe 23. Eine alte Frau. Allein. Gebeugt. Die Brille ein Kassengestell. Eine blaue Strickmütze. Hellblauer, gefütterter Anorak. Vor sich das rote Gebetbuch. Zwischen den Beinen eine Alditüte. Gefütterte, halbhohe Schuhe mit Reißverschluss. Noch immer kommen Frauen und Männer in die Kirche, beugen die Knie, bekreuzigen sich.
Reihe24. Ein älteres Ehepaar nimmt Platz. Beide ergraut. Er gebeugt. Sie aufrecht sitzend. Er im hellen, sie im dunklen Mantel. Sie trägt einen seidenen, er einen Wollschal. Beide schauen streng - sich nicht an.
Sie beten.
Der Gottesdienst beginnt mit dem Einzug des Kardinals mit zwei Priestern und vier schwarz-weiß gekleideten Ministranten. Lehmann hat sich rasch umgezogen. Lila Kappe, Lila Talar, breit bestickt. Kardinalsornat. Der Aschermittwochsgottesdienst. Sie verharren vor dem Altarraum zu den Klängen der Orgel, die langsam verklingt.
Karl Kardinal Lehmann geht zum Pult. Er geht gar nicht. Er hinkt. Eine Knieoperation
hat er immer wieder aufgeschoben. Keine Zeit. Nun muss er unters Messer. Demnächst, sagt er.
Lehmann spricht frei. Die jungen und alten Menschen hören ihm zu. Niemand nickt ein. Es sind viele junge Leute im Dom. Der Mann ist beliebt. Ein Menschenfischer.
Endlich ist es soweit. Langsam bewegt sich die Gemeinde nach vorne, verbeugt sich, bekommt das Kreuz und dann geht jeder wieder an seinen Platz zurück. Es ist sehr still geworden. Fast ergreifend und ein wenig unwirklich. Nichts ist hektisch. Nichts ist laut. Nichts ist grell. Es ist als suchen die Menschen an diesem Abend in der Kirche Schutz.
Dann gehen sie. Viele nach Hause. Andere in den Erbacher Hof. Das ist die Akademie des Bistums Mainz. Dort gibt es heute Abend ein Konzert in der Reihe Glaube und Kunst.
Karl Lehmann geht über den Platz und erinnert sich an die Zeit, als er aus seinem geliebten Freiburg weg muss. Nach Mainz umzieht. Hier Bischof wird.
"Ich weiß nicht, wie oft ich im Leben geheult habe. Aber geheult habe ich, als ich dann die Türen zugeschlossen habe. Ich bin dann mit meinem Pkw dem Möbelwagen hinterher gefahren. Da habe ich lange geheult. Nicht nur, weil ich meine Katzen ungern zurück ließ …"
35 Jahre ist er jetzt Bischof in Mainz. 1983 wird er gewählt. 21 Jahre Vorsitzender der Bischofskonferenz. 1987 wird er gewählt. Er geht auf seinen Bistumssitz zu. Das liegt in einem kleinen Hof. Sehr still. 60er Jahre Baustil. Beton, Holz und Glas.
Er erinnert sich an seine erste große Auslandsreise ein Jahr nach seiner Wahl, nach Kuba. Ich begleite ihn als ARD-Korrespondent dorthin. 20 Jahre ist das her.
"November 88. Also, da war dabei der Emil Stehle. Der Emil Stehle war für mich deshalb wichtig, weil, ich musste ja spanisch predigen und habe auf den Flügen immer Spanisch im Flugzeug geübt, weil man ja doch relativ viel flog."
Emil Stehle ist zu jener Zeit Chef der katholischen Hilfsorganisation Adveniat und Weihbischof der Stadt San Salvador in Equador. Er ist der Diplomat des Vatikans in Lateinamerika. Karl Lehmann bekommt ganz leuchtende Augen, als er sich an die Kubareise erinnert. Und an einen denkwürdigen Morgen in Santiago de Cuba:
"Haben sie eigentlich damals mitgekriegt, dass ich von Santiago aus nach Rom befohlen worden bin? Samstagmorgen, der Schorsch Hörster hat mich geweckt um halb sieben oder sieben und hat gesagt: Du musst sofort nach Rom. Bist du verrückt? Was soll ich jetzt in Rom? Der Papst will, dass du nach Rom kommst!"
Lehmann erzählt, dass die Geschichte ihn noch heute amüsiert. Er sitzt wieder auf seinem Stuhl an dem runden Tisch in diesem wohnzimmerartigen Raum mit Kerzen und Blumen und einer Plüsch-Sitzecke, faltet die Hände und stützt sich wieder auf den Knien ab.
"In Rom kam ich zum Papst. Direkt, sofort danach. Ich habe höflich gewartet, bis er gesessen ist, oder er saß schon und hat mir gesagt: Ich will bei Ihnen einen Bischof aus dem kommunistischen Gebiet haben: Meissner, nach Köln. Darüber habe ich viel nachgedacht und viel gebetet. Dabei sollen sie mir helfen. Es war also klar, dass darüber nicht mehr viel diskutiert wird."
Da ist es wieder, dieses befreiende Kardinalslachen. Auch wenn die Angelegenheit, an die er sich erinnert, so unkompliziert nicht ist. Die Kölner wollen Meissner nicht wählen. Papst Paul will ihn ernennen. Das kann er. Lehmann soll das seinen deutschen Glaubensbrüdern mitteilen. Dem Papst erwidert er:
"Ich mache natürlich, was sie jetzt von mir erwarten. Aber, ich werde mit Sicherheit eine negative Antwort mit zurückbringen. Deswegen geben sie mir doch die Erlaubnis, dass ich noch einmal mit dem Domkapitel rede und die vielleicht doch mal wählen können. Oh! Und dann ging es lange hin und her!"
Der 71-Jährige erzählt mit Lust und er kann das auch. Die Menschen hören ihm gern zu. Natürlich vor allem dann, wenn es um den Vatikan, den Papst und die anderen Akteure geht. In seinen Augen blitzt der Schalk, als er die Geschichte weiter erzählt.
"Dann kommt ein kleiner Staatsekretär, Casaroli. Sodano. Der war Substitut. Und Ratzinger. Die drei sind es schließlich und endlich. Der Sodano hat mich fast angeschrien und gesagt: Wenn sie zu denen gehen und die wählen, garantieren sie, dass die den Meissner wählen? Nein, Wahl ist Wahl. Zu 98 Prozent werden sie den Wunsch des heiligen Vaters erfüllen. Die zwei Prozent sind drin …"
"Schließlich hat der Papst zugestimmt. Da hat mir Ratzinger sehr geholfen, als dann der Sodano doch nicht wollte. Habe mich schon gewundert, dass der dem Papst solange Widerstand leisten konnte. Schließlich hat der Papst mit einer unnachahmlichen Geste die ganzen Akten über den Tisch zu Sodano rüber bewegt und gesagt, so, das machen sie fertig. Dann hat der wieder angefangen.
Dann habe ich also gesagt, Heiliger Vater, ich meine, sie hätten entschieden. Und dann hat Ratzinger eingegriffen und hat gesagt, ja, der Heilige Vater hat entschieden. Da war die Geschichte vom Tisch."
Karl Lehmann ist nicht nur ein Menschenfischer. Überall wird er freundlich, voller Zuneigung begrüßt. Auch an diesem Abend auf dem Weg in den Erbacher Hof. Er ist auch ein Geschichtenerzähler. Und er weiß, dass die Geschichte seiner katholischen Kirche aus so unermesslich vielen Geschichten besteht. Viele erlebt er selbst.
Er bleibt stehen und kommt noch einmal auf Rom zurück, in das er 1957 zum Studium kommt.
"Genau ein Jahr später, nachdem ich kam. Ich habe also noch ein Jahr Pius XII. erlebt mit dieser unnahbaren Hoheit aber auch dieser Würde, die der Mann ausstrahlte. Wir hatten ja damals kein Radio während der Exerzitien. Nicht miteinander gesprochen. Nichts. Als Hugo Rahner zur Betrachtung über die Kirche kam, letzten halben Tag, sagte er, so, jetzt muss ich ihnen sagen, der Papst liegt im Sterben."
Fast 50 Jahre ist das her. Oktober 1958. Der Mann ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Er schmunzelt und schüttelt den Kopf …
"Ich stand auf dem Petersplatz und war schrecklich geknickt, weil die so einen Alten gewählt haben. Wir waren also wirklich tief enttäuscht nach Hause gegangen."
Ausgerechnet dieser Alte, Johannes der XXIII, beeindruckt Lehmann dann Zeit seines Lebens und darüber hinaus. Bevor er in den Erbacher Hof geht, sagt er dann noch einen Satz. Ganz kurz. Mit sehr klaren Augen.
"Mich hat die Kirche damals begeistert."
Der Saal ist groß und weiß. Auf dem Podium ein Klavier. Zwei weiß gedeckte Tische mit Blumengebinden. Vier lila Sessel. Die meisten Gäste kommen aus dem Gottesdienst die paar Schritte hierher. Wenig junge Menschen. Die meisten sind älter. Von der Decke hängt eine Art überdimensioniertes Metallgitter mit Glühbirnen herab. Vier Lautsprecher an den Wänden. Es wird voll. Höhepunkt des Abends ist das Konzert der 35 Jahre alten Pianistin Ragnar Schirner. Lehmann ist mit seinen beiden Weihbischöfen gekommen.
Chopin. Das Publikum ist begeistert. Der Kardinal auch. Er erhebt sich, geht auf die Pianistin zu, gratuliert ihr. Die junge, selbstbewusste Frau strahlt. Geht mit Freunden die enge Treppe hoch in den Saal. Dort gibt es Mainzer Käse, Baguettestangen, Wasser und Dornfelder-Rotwein. Der Kardinal bleibt noch unten. Unterhält sich mit diesem und jenem. Lehmann hört gerne Musik
"Da ich vor vielen Jahren gesagt habe, dass ich gerne Abba höre, bin ich total festgelegt auf Abba und habe auch deswegen gar nichts mehr zu sagen. Ha, Ha. Aber das stimmt natürlich nur bedingt. Ich höre gerne mal Abba zur Entspannung und auch mal die Beatles aber auch Haydn und Bach und die Italiener des 16. und 17. Jahrhunderts machen mir Riesenspaß."
Karl Lehmann ist auch nach all den Jahren in seinen hohen Ämtern ein lebensfroher Mensch. Er versteht zu genießen und zeigt das auch. Er hört an diesem Abend konzentriert seinen jeweiligen Gesprächspartnern zu. Neigt den Kopf nach rechts. Nickt, verschränkt die Arme und antwortet zwischendurch auf die Frage, ob er gerne Rotwein trinkt:
"Ja, da trinke ich also natürlich, nachdem ich jetzt insgesamt 28 Jahre in Mainz bin, da trinke ich gerne wie die Italiener sagen vino del paese, Wein des Landes. Aber vorzugsweise am Abend Rotwein aus dem Ahrtal oder aus Igelheim. Da haben wir hervorragenden Rotwein."
Der obere Saal ist gerammelt voll. Lange schmale Tische. Schmale Stühle. Brotkörbe. Schüsseln mit einer Art rötlichem Frischkäse. Dornfelder- und Wasserflaschen. In der Mitte der Tisch für Lehmann, die Pianistin und andere prominente Gäste. Später am Abend.
Der Kardinal sitzt am Tisch. Trinkt Rotwein. Hat den Kopf nach rechts geneigt. Hört der neben ihm sitzenden jungen Klavierspielerin zu. Die beiden lassen sich nicht stören. Reden und trinken. In diesem Moment ist Lehmann überhaupt kein Kardinal. Vielmehr ein doppelt so alter, freundlicher, charmanter Mann. Ragna Schirner lächelt ihn mit großen Augen an. Es ist spät geworden. Das stört die beiden nicht.
Die ersten gehen nach Hause. Aschermittwochabend. Karl Lehmanns letzter als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, die am Montag danach im Kloster Himmelpforten bei Würzburg stattfindet.
Karl Kardinal Lehmann kommt an diesem Morgen den kopfsteingepflasterten Weg entlang, betritt das Exerzitienhaus. Er zieht sein Bein nach, schmerzt es?
Es sind die letzten Tage. Seine letzten Tage als Vorsitzender der Bischofskonferenz. Und der Auftrieb ist groß. 69 Mitglieder sind gekommen. Alle. 200 Journalisten etwa. Ein Drittel der Arbeit Lehmanns ist Öffentlichkeitsarbeit. Und: Lehmann steht in seiner Amtszeit manchen harten Konflikt durch. Auch mit dem Vatikan und dem Papst.
"Ich habe seit einigen Monaten eine für mich sehr wichtige Bestätigung gefunden. Ich hatte ja bis ein Jahr vor der Kardinalsernennung wegen der Schwangerenkonfliktberatung mit Johannes Paul II. und mit dem heutigen Papst keine so ganz leichte Tour. Aber ich habe immer die Erfahrung gemacht, es wird mir nicht übel genommen, dass ich etwas verteidige."
Es herrscht ein ziemlicher Rummel, Fotografen, Kameraleute, Reporter. Lehmann mittendrin, geht in Richtung Fahrstuhl. Schaut nachdenklich, stellt sich leicht vorgebeugt hin. Erzählt die Geschichte seiner letzten Begegnung mit Papst Johannes Paul II. linker und rechter Hand während dessen Pontifikats, Kardinal Dzywizc. Der erzählt Lehmann, wie es dazu gekommen ist, dass er Kardinal wird.
"Ich bin vor ein paar Monaten in Krakau gewesen … und dann hat mich Kardinal Dzywizc abgeholt. Als ich mit ihm Auto fuhr, hat er gesagt, endlich treffe ich sie mal allein und kann ihnen etwas sagen, was ich Ihnen schon länger sagen wollte. Sie wissen gar nicht, wie sehr sie Johannes Paul II. geschätzt hat. Das haben sie wahrscheinlich nie erfahren. Zweitens will ich ihnen sagen, ist es allein und nur allein seine persönliche Entscheidung gewesen. Das wollte ich ihnen einmal sagen. Das habe ich noch nie jemandem erzählt."
Der restaurierte Kreuzgang des im Krieg von alliierten Bomben schwer beschädigten Klosters Himmelpforten ist ein Ort der Ruhe. Der Gang führt zum Konferenzsaal. Lehmann ist auf dem Weg dorthin. Will Konferenz ein letztes Mal leiten, bevor er am 18. Februar zurücktritt und das Amt an seinen Freiburger Nachfolger Robert Zollitsch übergibt. Warum ausgerechnet der 18.Februar? Lehmann bleibt stehen.
"Ich wollte die Vollversammlung selber zu Ende machen. Aber es war mir schon immer klar, dass Kardinal Wetter am 18.2. 80 Jahre alt ist. Er war als Professor mein Vorgänger in Mainz. Es war dann etwas schwierig in einer Kampfabstimmung gegen Friedrich Wetter um den Vorsitz der Bischofskonferenz, bei der ich 1987 gewählt worden bin. Aber das hat das gute Verhältnis schließlich und endlich nicht getrübt. Er ist jetzt 40 Jahre Bischof. Das wird nicht mehr so schnell vorkommen."
Dann geht er. Der große Karl. Ganz in schwarz. Mit seiner schwarzen Aktentasche. Nach vorne gebeugt. Hinkend. Sehr ruhig. Sehr fröhlich. Der Menschenfischer. Der Geschichtenerzähler.