Karl Deisseroth: „Der Stoff, aus dem Gefühle sind“
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Menschliche Schicksale und biologische Hintergründe
06:20 Minuten

Karl Deisseroth
Jürgen Neubauer
Der Stoff, aus dem Gefühle sind. Über den Ursprung menschlicher EmotionenBlessing, München 2021304 Seiten
24,00 Euro
Die menschliche Gefühlswelt gibt der Wissenschaft nach wie vor Rätsel auf. Um Emotionen besser zu verstehen, verknüpft der US-amerikanische Psychiater Karl Deisseroth persönliche Erfahrungen mit neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaft.
Besondere Begegnungen sind dafür verantwortlich, dass Karl Deisseroth die Entstehung der Gefühle im menschlichen Gehirn kennenlernen wollte. In seinem Leben und auch in diesem Buch treffen zwei Welten aufeinander. Im Labor untersucht er emotionale Zustände von Mäusen und entwickelt moderne Methoden für die Neurowissenschaft. Als Arzt in der ambulanten Psychiatrie trifft er Menschen, die extreme Emotionen durchleben oder deren Gefühlswelt aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Vorbild Oliver Sacks
Nicht sachlich und abgeklärt, sondern sehr emotional, manchmal geradezu poetisch, beschreibt er seine eigenen Gefühle, die diese bewegenden Lebensgeschichten in ihm auslösen. Die Art und Weise, wie Deisseroth seine Gesprächspartner gleichermaßen exakt und zugewandt beschreibt, erinnert an den Stil des Neurologen und Buchautors Oliver Sacks. Einige der beschriebenen Schicksale könnten auch aus dessen umfangreichem Werk stammen.
Ein 67-jähriger Mann entwickelt nach den Terrorangriffen am 11. September 2001 eine Manie. Aus einem zurückhaltenden Versicherungsangestellten wird ein lauter, engagierter Prediger. Seine Familie erkennt ihn nicht mehr wieder. Die neue Kompromisslosigkeit rüttelt auf, zerstört aber auch menschliche Beziehungen. Als Medikamente ihn „beruhigen“, verblasst dieser Teil seiner Persönlichkeit wieder.
Ferngesteuerte Gehirne
Sehr unvermittelt wechselt Karl Deisseroth von bewegenden Fallgeschichten in die rationale Welt der Laborforschung. Dabei steht oft die von ihm mitentwickelte Technik der Optogenetik im Vordergrund. Sie ermöglicht es, wenige Nervenzellen im Gehirn eines Versuchstiers gezielt zu aktivieren. Dazu erhalten die Nervenzellen einen Lichtrezeptor, der auf feine Laserstrahlen reagiert. Das Lichtsignal wird im Gehirn in ein Nervensignal umgewandelt. So lassen sich zum Beispiel friedliche Mäuse durch Lichtsignale in aggressive Monster verwandeln.
Deisseroth taucht tief ein in die Details der Hirnforschung, die er leider nicht immer verständlich erklärt. Unklar bleibt, wie persönliche Erfahrungen aus dem Alltagsleben und wissenschaftliche Erkenntnisse auf Zellniveau zusammenhängen.
So entstand ein Buch mit vielen bewegenden und informativen Geschichten, die den Ursprung menschlicher Emotionen aber nicht anschaulich erklären. Das liegt aber nicht nur an der Schreibweise des Autors. Der Stoff, aus dem Gefühle sind, bleibt trotz persönlicher Anteilnahme und kompetenter wissenschaftlicher Analyse nach wie vor rätselhaft.