Kapitale Marktwirtschaft

Von Sibylle Hoffmann |
Nein. Wir müssen nicht weinen. Dieter Schormann führt noch bis November die Ferbersche Universitätsbuchhandlung in Gießen – die größte unabhängige Buchhandlung in Hessen, ein Traditionsgeschäft seit fast 200 Jahren.
Dann allerdings ist’s aus. Er finde keinen Nachfolger, sagt der Sechzigjährige und fügt hinzu: Das sei kein Wunder. Denn 80 Meter von seinem Geschäft entfernt eröffne jetzt der Branchenriese Thalia ebenfalls eine Buchhandlung. Thalia gehört zum Parfümeriekonzern Douglas und wartet mit „Wellnessideen“ und all den „potenten Marketingstrategien“ auf, mit denen Geschäftsgiganten die mittelständischen Betriebe gerne umrennen.

Man wundert sich darüber nicht. Man ist es ja schon gewohnt. Man ist ja auch selbst schuld. Denn als Kunden kaufen wir gerne in Mega-Stores. Wie im Supermarkt schieben wir uns auch in Buchläden an Regalen und Auslagen vorbei, fingern hier und blättern dort – möglichst ungestört von irgendwelchem „Personal“.

Dass altgediente professionelle Buchhändler wie Dieter Schormann und seine 36 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich in der Mega-Store-Welle „neu orientieren“ müssen, ist vor allem interessant, weil Dieter Schormann Vorsteher des Deutschen Börsenvereins ist, also Sprachrohr für Verlage und Buchhändler. Lange hat er den Konzentrationsprozess in der Branche schon beobachtet und gehofft und gedacht, er sei zu Ende. Ohne je einzugreifen, zu mucken oder zu mosern, hat der Vorsteher dem Treiben zugesehen. Nun trifft ihn also der Schlag, der auch Bouvier in Köln, Schmorl und von Seefeld in Hannover, Kiepert in Berlin und viele andere zuvor getroffen hat.

Das ist eben die kapitale Marktwirtschaft: Die alten Schlachtschiffe gehen unter, neue Verbände ziehen auf: Die heißen auf dem Buchmarkt Thalia und Weltbildplus. Thalia, die Muse mit der Douglas-Duftkampfhaube, zieht von Norden nach Süden und pflanzt über hundert großräumige Filialen. Weltbildplus arbeitet sich von Süden nord- und ostwärts. Weltbildplus – ein joint venture des Buchhändlers Hugendubel mit dem Weltbildverlag – legt das engste Geschäftsnetz der Branche aus. Jede Filiale seiner kleinen gelben Buch- und Kramläden ist nicht weiter als fünf Kilometer vom nächsten Wohnhaus entfernt.
Nein, wir sollten nicht weinen, wenn doch so viele Menschen in diesen uniformen Stores shoppen mögen. So, wie sie mit den Werbeprospekten in der Hand ins Kaufhaus oder zu Aldi gehen, so kommen sie in die Mega-Buchstores mit der Bestsellerliste und mit den Empfehlungen der prominenten Buchkritiker im Kopf. Sie sind voll und ganz auf Linie.

Diese zeitgenössischen Shopper meiden altmodische Buchhandlungen mit stoppelbärtigen Buchhändlern, die ihnen – womöglich in löcherigen Wollpullovern – auf die Pelle rücken, Empfehlungen aussprechen, kurz: auf den Geist gehen. Ein Wunder überhaupt, dass sich die Book-Shopper vom Computer weg bewegen. Sie könnten genauso gut im Internet stöbern und sich dort das Angesagte bestellen.

Sie könnten im Internet sogar ihre eigenen Texte publizieren: Manuskripte schreiben und völlig unlektoriert als website, weblog oder book-on-demand in der WWW-Welt ausstellen. Aber das tun sie nicht. Noch nicht.

Das macht uns froh, und wir jammern nicht! Bücher sind glücklicherweise noch immer handfeste und geldwerte Waren. Und Handelsgiganten sind ganz normale Kaufleute. Ihre Megastores leben weiter von Mode und Masse. Von Ramsch und Rummel. Sie sind der Mainstream. Sie reißen mit.

Dazu die triumphalen Anzeigen, blasenblubbernden Kritiken und krakeelenden Buchreports, die uns einbläuen, was wir wollen sollen. Die sagen, was andere sagen und was wir dann auch lieber sagen. Wir sind nämlich die Bescheidwisser. Wir kaufen, was angesagt ist. Wir, die Insider.

Der stoppelbärtige Buchhändler im löcherigen Wollpullover ist der Outsider. Er sieht in der Ware Buch tatsächlich noch ein wahres Werk. Er hält auch dem fremden Geist die Tür auf und bietet Titel an, für die sonst keiner wirbt. Er stellt Bücher aus, die kleine Verlage in Miniauflagen publizieren. Solche Bücher kaufen Mega-Stores gar nicht erst ein, weil sie nicht trendy sind. Der stoppelbärtige Buchhändler aber pflegt das Abseitige. Das, was nicht im großen Gelärm ausgeläutet wird. Er ist ein komischer Kauz. Er hat einen eigenen Geschmack. Er ist ein Individuum der alten Schule.

So komisch kauzig ist Dieter Schormann nicht. Der einst unabhängige Buchhändler und zwei Dutzend seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heuern jetzt bei der Buchhandelskette Thalia an. Schormann wird die Bereiche Marketing und Public Relations leiten.

Hurra also! Der Mainstream hat auch ihn mitgerissen.


Dr. Sibylle Hoffmann wurde 1951 in Berlin ( West ) geboren, studierte Soziologie und Philosophie in Marburg und unterrichtete Sozialpädagogik. In dem Buch „Ich schaff das schon“ veröffentlichte sie Protokolle von jugendlichen Müttern. Sie arbeitet als Autorin für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.