Kantonesisch darf nicht sterben

Von Astrid Freyeisen |
China mit seinen über 1,3 Milliarden Menschen ist eher ein Kontinent als ein Land - dies zeigt schon die Vielfalt der Sprachen. In der südlichen Provinz Guangdong fürchten nun die Menschen, dass ihre Sprache Kantonesisch bald vom Mandarin verdrängt werden könnte.
Ein Taxifahrer hört Autoradio im südchinesischen Guangzhou. Selbst für viele Einwohner der Industriemetropole ist Kantonesisch eine Fremdsprache.

"Ich zog vor 30 Jahren nach Guangzhou, und als ich herkam, verstand ich kein einziges Wort. Heute gehts einigermaßen, aber fließend sprechen kann ich nicht. Anfangs konnte ich niemanden nach dem Weg fragen, keiner verstand Mandarin. Heute sprechen zumindest die jungen Leute Mandarin."

Aber nicht nur. In Guangzhou gingen am Wochenende über 1000 meist junge Leute auf die Straße: Sie protestierten gegen Pläne der kommunistischen Partei, in lokalen Fernsehstationen von Kantonesisch auf Mandarin umzusteigen. Shi Qisheng, Sprachwissenschaftler der Universität Guangzhou beobachtet solche Manöver schon länger:

"Guangzhou ist Dialekten gegenüber toleranter als etwa Shanghai. Kantonesisch ist in Radio und Fernsehen noch erlaubt. Die meisten Stationen senden in Kantonesisch, ebenso die im benachbarten Hongkong. Die Zentralregierung hat versucht, die Zahl der Programme mit Dialekt zu verringern. Das geht schon seit Jahren so, aber ich habe das Gefühl, Peking hat aufgegeben. In Shanghai oder Fujian nimmt man solche Anweisungen ernst."

Die Regierung in Guangzhou entschuldigt sich mit den zahllosen Kontakten zu Hongkongern, die kein Mandarin verstehen. Peking ist überzeugt, dass Mandarin ein wichtiges Instrument für die Einheit des Landes ist. Muttersprache ist es für knapp 800 Millionen Chinesen.

Zum Vergleich: Etwa 60 Millionen wachsen mit Kantonesisch auf, 74 Millionen mit Dialekten der Wu-Gruppe, zu der auch der in Shanghai gehört. Doch die Unterschiede verschwimmen, wie eine kurze Umfrage auf dem Campus der Universität Guangzhou zeigt. Eine Dozentin sagt über ihr Kleinkind, das in Guangzhou geboren wurde:

"Er kann kein Kantonesisch. Die Kindergärtnerinnen sprechen Mandarin, und wir Eltern zu Hause auch. Aber er wird es schon noch lernen. Meine Freunde unterhalten sich alle in Mandarin, das ist unsere Landessprache. Warum sollte man etwas anderes lernen? Die meisten Dialekte sind unnötig.

Wenn mein Kind kein Kantonesisch können würde, fände ich das unpraktisch. Sprachkultur ist mir nicht so wichtig. Mir geht’s um die Bequemlichkeit."

Linguist Shi Qisheng hält zwar Mandarin für die Klammer aller Chinesen. Aber den Reichtum der Dialekte für die letzte Verbindung zu jenen Tausenden von Jahren Geschichte, auf die die Chinesen so stolz sind:

"Um die chinesische Sprache zu erforschen, sind Dialekte unerlässlich. Die einzigen noch lebendigen Elemente des Altchinesischen existieren nur noch in Dialekten – wie alte Fossile."

Ohne sie gehen die letzten Beweise verloren. So hatte etwa die Sprache, in der die Gedichte der mittelalterlichen Tang-Dynastie geschrieben wurden, viele Reime. Sie haben nur im Kantonesischen überlebt. Hören Sie mal hin:

Professor Shi liebt das Kantonesische. Er lächelt darüber, wenn Nordchinesen seinen Dialekt als Vogelgezwitscher verspotten. Das Thema ist heiß. So heiß, dass Guangzhous KP-Chef Wang Yang angeblich gesagt haben soll, in seiner Generation dürfe Kantonesisch nicht sterben. Was die 1000 jungen Demonstranten ebenfalls hoffen.