Kanadisches Naturwunder

Die 1000 Inseln im Sankt Lorenzstrom

Das Biosphärenreservat 1000 Islands nahe Ontario, Kanada
Über tausend Inseln und Inselchen umfasst das Gebiet - viele davon befinden sich in Privatbesitz. © imago
Von Thomas Gerlach · 06.01.2015
Das "Thousand Island"-Dressing kennt in Nordamerika fast jeder, aber nur wenige wissen, dass der Name von einem Naturwunder in der Grenzregion zwischen den USA und Kanada stammt. Über 1000 Inseln und Inselchen liegen hier im Sankt Lorenzstrom. Und sie ziehen Besucher aus aller Welt an.
Denise Grisewood hat gut Lachen; mit ihrem Job ist die weltoffene Kanadierin mehr als nur zufrieden – entsprechende Fragen bejaht sie spontan:
"Ich hab’ das beste Büro auf der Welt. Ehrlich. Jeden Tag was Neues und ich treff‘ so viele Menschen. Von allem etwas. Das ist großartig. Wirklich."
Denise Grisewood überragt andere Arbeitnehmer um 125 Meter. Ihr Arbeitsplatz ist das sogenannte Skydeck auf Hill Island – ein Aussichtsturm mit Rundumsicht auf die faszinierende Inselwelt des Sankt Lorenzstromes und Denise ist die Empfangsdame am oberen Ende des Fahrstuhls. Plauscht mit den Besuchern, erklärt unermüdlich, was nötig ist, deutet hinaus ins Land und immer hört sie zu, stets freundlich und aufmerksam. Heidi und Konrad Linckh hatten sich bei einer Amerikareise in diese Landschaft verliebt und deshalb 2013 den Aussichtsturm gekauft. Wir schauen über die Brüstung der obersten Plattform in die Abendsonne, deren goldene Strahlen das Wasser spiegelt:
"Wie fliegen ohne Motor, hat jemand mal gesagt. Können etwa 40 Kilometer weit blicken, heute ist es etwas dunstig. Die letzte Kette am Horizont ist Wolf-Island, zugleich die größte und der Übergang vom Ontariosee in den Sankt Lorenzfluss. Wir gucken hier auf ein leicht eingesunkenes Mini-Gebirge, entstanden in der letzten Eiszeit vor 10 000 Jahren."
Kanadier und US-Amerikaner sind hier direkte Nachbarn
Den Satz mit dem schönsten Büro der Welt hat so ähnlich auch Dave Kouri geäußert – er betrachtet die Inselwelt von noch höherer Warte als Denise und Konrad: Dave ist Hubschrauberpilot und Chef einer Firma, die Rundflüge anbietet:
"Ab Sonnenaufgang sind wir in der Luft – so lange es hell ist. Sieben Tage die Woche, das ganze Jahr über. Wir haben Passagiere aus der ganzen Welt: Deutsche, Belgier, Israelis, Franzosen aus Paris wie Quebec, aber nur wenige Amerikaner. Seit 9/11, den Terroranschlägen, ist unser US-Markt deutlich eingebrochen."
Dabei sind Kanadier und US-Amerikaner hier am Oberlauf des Sankt Lorenzstromes Nachbarn – die einen auf dem linken, die anderen auf dem rechten Ufer. Brücken beidseits von Hill-Island, wo der Aussichtsturm aufragt, ermöglichen die weit und breit einzige Straßenverbindung zwischen beiden Staaten.
Gegen starken kanadischen Widerstand haben die USA nach 9/11 Reisepässe beim Grenzübertritt durchgesetzt, was viele Amerikaner daheim bleiben lässt, ein Pass ist ihnen zu teuer.
"Früher sind wir einfach rübergefahren und der Zoll war kein Problem. Es war fast eine offene Grenze. Und wenn wir hier sonntags kein Bier bekamen, haben wir eben in Clayton im Bundesstaat New York eine Kiste gekauft."
Der Strom ist eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt
Neil McCarney ist der Generaldirektor der "Gananoque Boat Line", die fünf Ausflugsdampfer betreibt. Gananoque ist eine Kleinstadt in der Provinz Ontario und nennt sich Kanadas Tor zu den 1000 Inseln. Das Städtchen mit seinen gut 5000 Einwohnern, mit seinen alten Häusern, den Parks und vielen Kirchtürmen ist ebenso gepflegt wie charmant. Bürgermeisterin Erika Demchuck lobt es zu Recht:
"Ich lebe schon fast 35 Jahre hier – also ein Gutteil meines Lebens. Ich habe es nie bereut, sondern immer sehr genossen: Gananoque ist eine wunderbare Stadt: Das Juwel am Sankt Lorenzstrom. Besser geht’s gar nicht. Ursprünglich kam ich aus Ontarios Norden."
Unten am Großen Strom haben sie sogar ein sehr beliebtes Theater und es hat, was nicht viele Theater besitzen: einen eigenen Bootsanleger.
"Gananoque wurde auf 42 verschiedene Weisen buchstabiert. Das hing mit den Indianern zusammen, die früher hier durchzogen. Sie benutzten Beschreibungen als Namen wie "der große Baum am Fluss". Gananoque könnte "Wasser über Felsen" heißen oder "Ort guter Gesundheit", denn hier fanden sie Nahrung im Überfluss."
...erklärt Linda Mainse vom lokalen Museum direkt am Ufer des großen Stroms, der zugleich eine der wichtigsten Wasserstraßen unserer Erde ist. Hochseeschiffe erreichen über ihn die "Großen Seen" und fahren weit in den Kontinent hinein. Das sehenswerte Museum ist ebenso ein Schlüssel zum besseren Verständnis der Region wie Lindas Erläuterungen – hilfreich und geduldig erfüllt sie die Funktion eines wandelnden Lexikons.
Wer zum Fenster raus auf die große Wasserfläche blickt, möchte meinen, auf einen See zu schauen – weit in der Ferne sieht man bewaldete Ufer, die ganze Gegend ist auch im heißen Hochsommer sattgrün. Erst wer hinaus fährt auf den mächtigen Strom, der mehrere Kilometer breit ist, erkennt seinen Irrtum: das vermeintliche Ufer auf der andern Seite ist ein Labyrinth von mal grün-bewaldeten, mal felsigen Inseln, mehr sogar, als der Name verspricht, so Chris McCarney, der Cousin von Neil:
"Wollen Sie ein Haus bauen, gibt es unterschiedliche Regeln. Bei uns in Kanada muss die Insel 8000 Quadratmeter groß sein. Unsere Behörden sind sehr strikt – sie wollen die Natur der Inseln bewahren, aber den Zutritt nicht verwehren."
"Die Regel lautet: um eine Insel zu sein, muss es ein Quadratmeter ganzjährig über Wasser sein und ein lebender Baum draufstehen. Fällt der Baum um, wird aus der Insel ein Inselchen; wer es umgekehrt schafft, einen Baum zu züchten, kann sein Inselchen Insel nennen."
Die längste Schlittschuharena der Welt
"Üblicherweise kommen wir Anfang April hier heraus und bleiben bis zum 1. November. Nach dem Erntedankfest schließt alles und es wird bitterkalt, mit Frost und manchmal Schnee. Dann ist niemand mehr hier draußen, es wird sehr ruhig. Die Kinder angeln und Jeff, mein Schwiegersohn, fängt viele Fische. Alle frischen Nahrungsmittel enthalten Wasser, deshalb sind sie sehr schwer. Wir sind aber nicht in der Lage, schwere Güter auf die Insel zu bringen. Ich lege darum Vorräte an. Vom Festland bringen wir Milch mit und Eier und Fleisch. Man muss halt planen und mehr als sonst dafür sorgen, dass das Lebensnotwendige da ist, vom Toilettenpapier bis zu Essig und Öl."
Susan Smith hat sich vor sehr langer Zeit in die bezaubernde Welt der 1000 Inseln verliebt. Damals lebte sie mit ihrer Familie in Montreal. Sommers tuckerten sie mit dem Hausboot stromauf und verbrachten hier ihre Ferien. Dann haben sie ein Haus gemietet, später ihr eigenes gebaut. Und dann erfuhr Susan schmerzlich, wie eng Glück und Unglück doch beieinander liegen können:
"Als wir das Haus bauten, haben wir es winterfest gemacht, deshalb haben wir auch einen Brunnen, was hier draußen selten ist. Vier Winter lang kamen wir jedes Wochenende. Wir hatten ein Luftkissenboot. Im fünften Winter ist mein Mann bei der Überfahrt ertrunken, das Boot hatte sich überschlagen. Das war 1989 und ich wollte nur weg, die Tür hinter mir abschließen, das Haus verkaufen. Aber die Kinder meinten: das kannst Du nicht machen, hier war Vaters Lieblingsort. Ich blieb und zwei Jahre später traf ich Marcelli. Er war alleinerziehend, konnte kochen, so hab‘ ich ihn mir geschnappt und nicht mehr gehen lassen (lacht). Ich war klug."
Im Winter wird der Rideau-Kanal, der sommers ein Dorado für Freizeitkapitäne ist, zur längsten Schlittschuharena der Welt. Doch manchmal ist es selbst hier im Süden von Ontario einfach zu kalt, um rauszugehen, meint Konrad, der Respekt vorm Winter hat und seinen Aussichtsturm schließt:
"Bloß nicht rausgehen, wenn's nicht sein muss. Es war wochenlang minus 30. Es ist nur Risiko. Straßen sind glatt und die Gefahr, im schlimmsten Fall zu erfrieren, ist real. Aber es ist auch ein unglaublicher Schock zu atmen – da kleben die Nasenschleimwände aneinander fest. Manche Autos haben beheizten Kühlwasserkreislauf. Ich denke, dieser sehr harte Winter hat locker zwei Jahre aus den Autos rausgeholt, weil man sich überall den Schweller aufgerissen hat und die Dichtungen zum Teil einfach reißen bei diesen niedrigen Temperaturen."
Kristallblaues Wasser wie in der Karibik
Und dennoch lieben und schätzen sie alle dieses Gewirr von Inseln und Felsen, von Buchten und Kanälen – Susan, Konrad und Neil ebenso wie Ewelina Sobala, die schwärmt:
"Das Wasser ist einfach unglaublich – so schön, kristallblau wie in der Karibik."
"Und der Blick, wenn man über die Brücke rüberkommt, auf dieses Archipel, türkisfarbenes Wasser, Häuser auf diesen Inseln, also es ist definitiv die Lage…"
"Ich vermisse es, wenn ich nicht hier bin, die Stadt fehlt mir nicht; ich vermisse die Ruhe, die Einsamkeit, das Tierleben: Wildgänse, Rehe, Waschbären. Es kommen ganz schön viel Rehe auf die Insel, die Leute mögen sie nicht, weil sie alles abfressen."
"Wir haben wieder 20 bis 30 Adler hier. Gleich neben meinem Haus am Ufer nistet ein Fischadler. Große blaue und kleine grüne Reiher sind überall. Es ist so wunderbar, dass die Natur sich erholt hat. Irgendwas haben wir wohl richtig gemacht (lacht). Die Tierwelt ist zurückgekehrt und man sieht Otter und Nerze."
Das "Thousand-Island"-Dressing ist weltweit bekannt
Wer weder Adler noch Nerz erblickt, kann sich in der neuen Mikrobrauerei von Gananoque mit einem würzigen Bier trösten – es heißt: naughty otter - frecher Otter; man bekommt es auch im Cafe-Restaurant nebenan. Dessen Name: "Sozialistisches Schwein". Humor haben sie also auch noch in Ontario und außerdem jene Salatsauce namens "Thousand-Island"-Dressing, die diese Region zumindest in Nordamerika bekannt gemacht hat. Touristen, die danach fragen, drückt Kathy MacRae von der Gananoque-Boat-Line das Rezept in schriftlicher Form in die Hand, hier macht sie eine Ausnahme und verrät es dem Mikrophon:
"Das Rezept verlangt eine Tasse Mayonnaise, 3 Teelöffel Chili-Sauce, 1Teelöffel Schnittlauch kleingehackt, 1 Teelöffel grüner Pfeffer kleingehackt, 1 Teelöffel Dillgurken kleingehackt, Salz und Pfeffer zum Abschmecken. Gut durchrühren, kalt servieren, reicht es für 4 Personen. Man sagt, die Stückchen der gewürfelten Gurke würden die Inseln repräsentieren."
Und wir wären nicht in einer Umgebung voller Geschichte und Geschichten, wenn es zur Salatsauce nicht auch eine gäbe – George Boldt, schwerreicher Besitzer des Waldorf-Astoria-Hotels in New York, ließ für seine Frau ein Phantasieschloss in den Sankt Lorenzstrom bauen – er züchtete in dieser Gegend bereits Rinder, Schweine und Lämmer für seine Hotelküche. Bei einem Angelausflug mit Picknick – so geht die Mär - lernte er das 1000-Island-Dressing kennen, nahm das Rezept mit nach New York und machte es berühmt. Sicher ist an dieser Geschichte nur eines – Georg Karl Boldt war 1864 als bettelarmer Einwandererjunge im Alter von 13 Jahren von der Insel Rügen in die USA gekommen. Und machte wirklich die sprichwörtliche Karriere - vom Tellerwäscher zum Millionär. Sein Lustschloss, Boldt-Castle, lockt heute scharenweise Touristen an.