Kanadier in Kandahar

Von Michael Stürmer |
Kanada hat von jeher drei Probleme: Sein Klima, seine Größe und die Vereinigten Staaten von Amerika. Seit dem 11. September 2001 ist ein viertes hinzugekommen, und das heißt Afghanistan. Im Südosten des umkämpften Landes sind die Kanadier in Bataillonsstärke vertreten.
Bis 2011 hat die Regierung in Ottawa die Fortführung dieses militärischen Einsatzes im Rahmen der UN-geheiligten Stabilisierungs-Streitkräfte Afghanistan zugesagt. Was danach kommt, ist offen. Folgen Taliban und Terror, dann sind die Folgen weltweit schmerzhaft zu spüren, auch in Deutschland.

Kanadier in Kandahar: Sie haben sich nicht die vergleichsweise sichere Hauptstadt Kabul ausgesucht, nicht den halbwegs stabilen Norden, wo die Deutschen wie ein leicht bewaffnetes Technisches Hilfswerk arbeiten. Die 640 Kanadier sind zusammen mit Briten, Niederländern und Amerikanern im Süden und Südosten des Landes, wo es in den letzten Monaten nicht sicherer geworden ist, Friede ein Fremdwort und der Erfolg flüchtig. Aus den wilden pakistanischen Grenzprovinzen sickern die Taliban ein. Der Einsatz gegen sie ist in den letzten Monaten zunehmend verlustreich geworden. Die Kanadier beklagen mittlerweile an die 50 Gefallene, und an die 200 Schwerverwundete.

Das ist Krieg, wenn auch noch von niedriger Intensität. Aber Regierung und Parlament in Ottawa stellen sich die Frage, was der Sinn des Ganzen ist, welcher Erfolg vernünftigerweise erwartet werden kann. Dieser Tage hat eine schwergewichtige Fakten-Findungs-Kommission dem Parlament in Ottawa einen sehr ernsten Bericht vorgelegt, nicht nur über die Probleme auf dem Terrain, sondern ebenso über den Beitrag oder Nicht-Beitrag der Verbündeten.

Die Probleme auf dem Terrain sind offenkundig. Zeit und Raum arbeiten nicht für die fremden Soldaten. Der Raum nicht, denn sie sind nicht ortskundig, kennen die Höhlen nicht und nicht die Pässe, können kaum unterscheiden zwischen Freund und Feind, und finden wenig verlässliche Leute für Polizei und Armee eines künftigen, besseren, westlich orientierten Afghanistan. Die örtliche Wirtschaft wird beherrscht vom Drogenanbau. Die Bauern werden von den Drogenlords finanziert und kontrolliert. Ihnen eine andere Form des Broterwerbs anzubieten, hat bisher kaum Erfolg gehabt. Die Afghanen leben noch im Mittelalter, Waffen sind überall, Lesen und Schreiben selten. Was immer sie sonst trennt, sie wollen nicht nach kanadischem oder amerikanischem oder deutschem Vorbild in die Moderne gegängelt und gezwungen werden. Dem Westen fehlt ein schlüssiges Entwicklungsprogramm. Die Stammesgrenzen, die die Briten vor 100 Jahren zogen, und die Staatengrenzen stimmen nicht überein. Afghanistan hat eine Krieger- und Kriegskultur. Töten und Sterben gehört dazu. Ein Menschenleben ist nicht viel wert. Soweit der Raum: Er ist feindlich.

Aber auch die Zeit ist nicht auf Seiten der westlichen Soldaten. Der Wandel braucht Jahrzehnte und Generationen, nicht Monate und Jahre. Die Taliban waren vor den Fremden da und werden nach ihnen noch immer da sein. Wer sich mit den Soldaten von weither einlässt, wird eines Tages dafür blutig bezahlen. Diese Rechnung beherrscht alle Taktik und Strategie.

Korruption ist ein Feind jeder Reform. Sie ist ein Teil der Lebensformen, die auf Familie und Clan gegründet sind, nicht auf den Staat westlichen Musters. Korruption kommt überall und in jeder Form vor und ist zugleich Nährboden abgrundtiefen Misstrauens gegen jede Obrigkeit, ob die Regierung in Kabul, ob die von ihr ernannten Gouverneure, ob Richter oder Polizei. Das treibt den Dorf-Ältesten, die ihre Macht von den Taliban bekommen und Schariah-Recht ausüben, die Ängste und Hoffnungen der Menschen zu.

Zuletzt und vor allem: Der Bericht stellt, weil das Bluten sehr ungleich verteilt ist, die Bündnisfrage. Damit geht es nicht mehr um das ferne Land am Hindukusch, sondern um vitale Interessen des Westens. Zitat: "Wenn die Nato künftig eine bedeutsame neue Rolle spielen soll, dann nur als Allianz gleich gesinnter Staaten, die eine gemeinsame Bedrohung gemeinsam bekämpfen. Gegenwärtig steht gewalttätiger religiöser Extremismus obenan. Einige unserer Alliierten indes reden gern darüber, tun aber wenig. Was besagt das für die Zukunft der Allianz?"

Man sollte diese Frage in Berlin und anderswo nicht überhören. Denn es ist EINE Sache zu sagen, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, und eine ganz ANDERE, Soldaten in den Kampf zu senden. Damit aber stellt sich die Frage, wer sich noch auf wen verlassen kann, und sie ist der Anfang vom Ende jedes Bündnisses.

Wenn die Kanadier eines Tages genug haben, dann werden auch Briten und Niederländer im Südabschnitt abziehen, und zuletzt auch die Amerikaner. Dann kann man irgendwo bei Brüssel der Nato ein Denkmal bauen und darauf die Inschrift setzen: "Einst Sieger im Kalten Krieg danach am Hindukusch verschieden an Wunschdenken und innerer Schwäche".
Der Westen wird dann allerdings nicht in Frieden ruhen.

Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten Historikerstreit entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".