Kampfansage an den allzu stressigen Hunger nach Leben
Der kanadische Autor Nicolas Langelier hat einen "Ratgeberroman" geschrieben, der in 25 angeblich einfachen Schritten erklärt, wie man - so sein Titel - "Die enthemmte Moderne meistern" kann. Das Buch handelt von urbanen Individualisten, die sich beladen fühlen und nach Erquickung dürsten, meint unser Rezensent.
Nicolas Langelier duzt Sie nicht etwa, liebe Leser. Der kanadische Autor siezt Sie. Und zwar von Anfang bis Ende. Allerdings siezt er Sie so forsch, dass Duzen nicht indiskreter wäre. Allein der erste Satz: "Eines Tages werden Sie es unweigerlich satt haben." 'Es' meint hier die "enthemmte Moderne" samt Stress, Smartphone, Werbeterror, Hipstern, Ironie, FOMO (fear of missing out; die Angst, etwas zu verpassen), Erfolgshunger, Einsamkeit, Mode-Magazinen, Koks-Partys, promiskuitivem Sex und solchen Dingen.
Auch wenn Sie die Siez-Masche nervt, liebe Leser - lesen Sie das Buch trotzdem! Gerade, wenn Sie zwischen 30 und 50 Jahre alt sind und das Zwischenresümee Ihres Lebens nicht so ausfällt, wie damals erhofft. Langelier erzählt (s)eine Geschichte, als wäre es Ihre. Und zwar in 25 uneinheitlichen Kapiteln ("Schritten"). Das Angebot reicht von der kompetenten Zeitgeist-Analyse über den abenteuerlichen Bericht eines Einbruchs ins Wochenendhaus, das einst der Vater errichtet hat, bis hin zum anspruchsvollen Gespräch über die "Hypermoderne" (mit dem Philosophen Sébastian Charles).
Letztlich handelt das Buch von urbanen Individualisten, die sich mühselig und beladen fühlen und nach Erquickung dürsten. Erquickung verschafft man sich laut Langelier am ehesten, in dem man dem Blendwerk der Szenen und Moden den Rücken kehrt. Weshalb er Sie in seinem "Ratgeberroman" ständig Auto fahren lässt: Weg vom Ausgereizten und Abgeschmackten, hinaus in die Landschaft, hin zu Ihnen selbst.
Dabei ist der Ausstieg in erster Linie Kopfsache, Sinnfragen inklusive: "Ist das Leben nur dazu da, möglichst wenig zu leiden und möglichst viel Spaß zu haben?" Laut Langelier kann der One-night-stand mit dem Mädchen aus der Bar das Spaß-Prinzip recht überzeugend widerlegen - wenn nämlich der Spaß für mehr finalen Überdruss sorgt als der Verzicht.
Langelier schreibt lakonisch und ironisch. Und damit im Tonfall des Milieus, dem er den Spiegel vorhält. Er mag Absurditäten - auch im seinem eigenen Buch, das implizit die gängige Ratgeberliteratur parodiert. Im 7. Schritt ("Erfahren, dass der Vater Krebs hat") heißt es: "Die Nachricht sollte Sie idealerweise an einem schönen, orange-gelb leuchtenden Oktobertag erreichen." Ungeachtet der speziellen Witzigkeit ist Langeliers Anliegen existenziell und seine Grundstimmung melancholisch.
Er hat den "Hyperindividualismus" und "Hypernarzissmus" in seinen Kreisen satt, weiß aber nicht genau, wie man davon loskommt. Er findet den klischeemäßigen Lebenshunger ernüchternd, will aber selbst möglichst intensiv leben - jenseits der Klischees.
Dem Titel zum Trotz präsentiert Langeliers Buch eher Geständnisse als Lösungswege. Das Tolle ist gar nicht so toll; wir erkaufen hehre Errungenschaften wie unseren Individualismus um einen hohen seelischen Preis; und in der Selbstverwirklichungs-Hetze stirbt das Gefühl für elementare soziale Bedürfnisse. - Das sind keine originellen Erkenntnisse.
Aber Langelier veranschaulicht sie souverän und reflektiert sie unterhaltsam. Falls Sie "es" auch satt haben, werden Sie sich gut getroffen fühlen - enttäuscht indessen auf keinen Fall. Denn merke: "Der obsessiven Jagd nach dem vermeintlich Neuen sind Sie überdrüssig."
Besprochen von Arno Orzessek
Nicolas Langelier: Die enthemmte Moderne meistern und den Rest seines Lebens retten in 25 einfachen Schritten
Aus dem Französischen von Andreas Jandl
Bloomsbury, Berlin 2012
176 Seiten, 16,99 Euro
Auch wenn Sie die Siez-Masche nervt, liebe Leser - lesen Sie das Buch trotzdem! Gerade, wenn Sie zwischen 30 und 50 Jahre alt sind und das Zwischenresümee Ihres Lebens nicht so ausfällt, wie damals erhofft. Langelier erzählt (s)eine Geschichte, als wäre es Ihre. Und zwar in 25 uneinheitlichen Kapiteln ("Schritten"). Das Angebot reicht von der kompetenten Zeitgeist-Analyse über den abenteuerlichen Bericht eines Einbruchs ins Wochenendhaus, das einst der Vater errichtet hat, bis hin zum anspruchsvollen Gespräch über die "Hypermoderne" (mit dem Philosophen Sébastian Charles).
Letztlich handelt das Buch von urbanen Individualisten, die sich mühselig und beladen fühlen und nach Erquickung dürsten. Erquickung verschafft man sich laut Langelier am ehesten, in dem man dem Blendwerk der Szenen und Moden den Rücken kehrt. Weshalb er Sie in seinem "Ratgeberroman" ständig Auto fahren lässt: Weg vom Ausgereizten und Abgeschmackten, hinaus in die Landschaft, hin zu Ihnen selbst.
Dabei ist der Ausstieg in erster Linie Kopfsache, Sinnfragen inklusive: "Ist das Leben nur dazu da, möglichst wenig zu leiden und möglichst viel Spaß zu haben?" Laut Langelier kann der One-night-stand mit dem Mädchen aus der Bar das Spaß-Prinzip recht überzeugend widerlegen - wenn nämlich der Spaß für mehr finalen Überdruss sorgt als der Verzicht.
Langelier schreibt lakonisch und ironisch. Und damit im Tonfall des Milieus, dem er den Spiegel vorhält. Er mag Absurditäten - auch im seinem eigenen Buch, das implizit die gängige Ratgeberliteratur parodiert. Im 7. Schritt ("Erfahren, dass der Vater Krebs hat") heißt es: "Die Nachricht sollte Sie idealerweise an einem schönen, orange-gelb leuchtenden Oktobertag erreichen." Ungeachtet der speziellen Witzigkeit ist Langeliers Anliegen existenziell und seine Grundstimmung melancholisch.
Er hat den "Hyperindividualismus" und "Hypernarzissmus" in seinen Kreisen satt, weiß aber nicht genau, wie man davon loskommt. Er findet den klischeemäßigen Lebenshunger ernüchternd, will aber selbst möglichst intensiv leben - jenseits der Klischees.
Dem Titel zum Trotz präsentiert Langeliers Buch eher Geständnisse als Lösungswege. Das Tolle ist gar nicht so toll; wir erkaufen hehre Errungenschaften wie unseren Individualismus um einen hohen seelischen Preis; und in der Selbstverwirklichungs-Hetze stirbt das Gefühl für elementare soziale Bedürfnisse. - Das sind keine originellen Erkenntnisse.
Aber Langelier veranschaulicht sie souverän und reflektiert sie unterhaltsam. Falls Sie "es" auch satt haben, werden Sie sich gut getroffen fühlen - enttäuscht indessen auf keinen Fall. Denn merke: "Der obsessiven Jagd nach dem vermeintlich Neuen sind Sie überdrüssig."
Besprochen von Arno Orzessek
Nicolas Langelier: Die enthemmte Moderne meistern und den Rest seines Lebens retten in 25 einfachen Schritten
Aus dem Französischen von Andreas Jandl
Bloomsbury, Berlin 2012
176 Seiten, 16,99 Euro