Kampf um Orientierung
Die Autorin A. L. Kennedy beschreibt in ihrem Roman "Paradies" das Leben einer schottischen Trinkerin. Es geht um einen verzweiflungsvollen Kampf um Orientierung. Der Titel des Buches ist dabei mit Vorsicht zu genießen.
Dieser Roman ist wie eine Blackbox. Man verschwindet darin und verliert jeglichen Kontakt zur Außenwelt. So jedenfalls geht es gleich zu Beginn der Protagonistin Hannah Luckraft, die sich in einem eher ungemütlichen Raum mit vielen fremden Menschen wiederfindet. Es ist 8.42 Uhr. Ein Zimmerschlüssel in ihrer Hand lässt darauf schließen, dass sie sich in einem Hotel befindet. Das Büfett, das vor ihr aufgebaut ist, sieht aus wie ein Frühstück. Der Blick aus dem Fenster deutet auf Flughafennähe hin. Der unerfreuliche Mann mit dem schütteren Haar scheint sie zu kennen. Doch sie erinnert sich an nichts. Wer ist dieser Fusselkopf? War das was? Und was war zuvor?
Hannah Luckraft hat Erfahrung mit solchen Lebenslagen. Sie hat eine gewisse Routine darin entwickelt, zwischen den Bewusstseinstrümmern ihres Daseins entlangzubalancieren. "Wie es passiert, ist immer eine lange Geschichte." So setzt diese 36-jährige Ich-Erzählerin ein. Doch wie erzählt man die eigene Geschichte, wenn die Erinnerung verloren ging? Wie findet man nach einem totalen Filmriss ins Leben zurück? Von diesem verzweiflungsvollen Kampf um Orientierung handelt A. L. Kennedys Roman "Paradies" - neben zwei Erzählbänden und einem essayistischen Buch über den Stierkampf der vierte Roman der 1965 im Schottischen Dundee geborenen Autorin, der nun auf Deutsch vorliegt. Der Titel ist mit Vorsicht zu genießen. Das ersehnte Paradies ist immer nur der nächste Drink mit seinen unhaltbaren Versprechungen.
Nach und nach tauchen einzelne Erinnerungsstücke aus der Bewusstseinsleere auf, kraftvolle Bilder einer Kindheit, die Eltern im Garten, der vorbildliche Bruder. Ein Foto in der Handtasche zeigt Robert, den Geliebten. Mit diesem Bild sortiert sich das Leben neu. Robert ist Zahnarzt und seinerseits Alkoholiker. Doch nichts verbindet so sehr wie das Trinken: "Es gibt keine tiefere Gemeinsamkeit." Hart und direkt schildert Kennedy die Sexualität, die den Rausch fortsetzt und steigert. Die Liebe der beiden Abhängigen wird zu einer Abhängigkeit voneinander. Gegenseitig helfen sie sich über den Zustand der Nüchternheit hinweg. Ihre Liebe ist ein Teil ihres Problems, doch das bedeutet nicht, dass sie falsch wäre. Sie ist echt und führt doch immer tiefer in die Selbstzerstörung. Dieses Dilemma macht A. L. Kennedy luzide erlebbar. "Paradies" ist das Protokoll einer Auslöschung und zugleich ein verstörender, dramatischer Liebesroman.
A. L. Kennedy begibt sich ganz und gar in die Psyche ihrer Heldin. Es gibt kein Außerhalb. Geduldig stenographiert sie deren Bewusstseinswindungen mit, die doch immer wieder nur darauf hinauslaufen, den nächsten Rausch plausibel zu machen und sich einzureden, willentlich zu handeln. Scharfsinnigkeit und Selbstlüge sind untrennbar verwoben, doch ihre Sprachmächtigkeit verliert sie nie. Kennedy erzählt staccatohaft im Präsens, weil es in diesem Bewusstsein nur die nackte Gegenwart gibt. Da kümmert das Geschwätz von vorhin so wenig wie der Kater am nächsten Morgen. Da zerfällt die Wahrnehmung in einzelne Augenblicke mit viel leerem Raum zwischendurch. So entsteht die Innenansicht eines Deliriums im Endstadium: eine geradezu klaustrophobische Atmosphäre.
Das könnte kaum so spannend sein, wenn es sich bei Hannah Luckraft nicht um eine komplexe und intelligente Persönlichkeit handelte, die eine hochgradige Sensibilität mit Alkohol steigern und abdämpfen will. Das Trinken ist für sie eine Methode, die Weltwahrnehmung richtig zu dosieren und dabei dem Glauben anzuhängen, sie selbst stünde am Mischpult und kontrolliere das Geschehen. "Es fühlt sich nicht so an, als sei das Trinken das Problem gewesen - eher so, als sei ICH es gewesen und werde es bald wieder sein", notiert Hannah in einem ihrer lichten Momente. Zweimal reist sie zu einer Entziehungskur in eine abgelegene Gegend Kanadas. Einmal, weil sie von ihrer Familie dorthin geschickt wird, das zweite mal, weil sie Robert dort vermutet.
Zweimal reißt sie wieder aus, und zweimal landet sie wieder in dem Hotel am Rande aller Zusammenhänge, in dem der Roman beginnt. So führt A.L. Kennedy die Wege ihrer Protagonistin als ausweglose Abwärtsspirale vor, als Windungen einer Süchtigen, die verloren ist und deren Leben doch helle Momente kennt, Augenblicke des Glücks und der Liebe. Darin, dass sie beides zu zeigen vermag – Paradies und Hölle – liegt die Kraft dieser Prosa und dieser Autorin.
A. L. Kennedy: Paradies. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach verlag, Berlin 2005, 362 Seiten, 22,50 Euro.
Hannah Luckraft hat Erfahrung mit solchen Lebenslagen. Sie hat eine gewisse Routine darin entwickelt, zwischen den Bewusstseinstrümmern ihres Daseins entlangzubalancieren. "Wie es passiert, ist immer eine lange Geschichte." So setzt diese 36-jährige Ich-Erzählerin ein. Doch wie erzählt man die eigene Geschichte, wenn die Erinnerung verloren ging? Wie findet man nach einem totalen Filmriss ins Leben zurück? Von diesem verzweiflungsvollen Kampf um Orientierung handelt A. L. Kennedys Roman "Paradies" - neben zwei Erzählbänden und einem essayistischen Buch über den Stierkampf der vierte Roman der 1965 im Schottischen Dundee geborenen Autorin, der nun auf Deutsch vorliegt. Der Titel ist mit Vorsicht zu genießen. Das ersehnte Paradies ist immer nur der nächste Drink mit seinen unhaltbaren Versprechungen.
Nach und nach tauchen einzelne Erinnerungsstücke aus der Bewusstseinsleere auf, kraftvolle Bilder einer Kindheit, die Eltern im Garten, der vorbildliche Bruder. Ein Foto in der Handtasche zeigt Robert, den Geliebten. Mit diesem Bild sortiert sich das Leben neu. Robert ist Zahnarzt und seinerseits Alkoholiker. Doch nichts verbindet so sehr wie das Trinken: "Es gibt keine tiefere Gemeinsamkeit." Hart und direkt schildert Kennedy die Sexualität, die den Rausch fortsetzt und steigert. Die Liebe der beiden Abhängigen wird zu einer Abhängigkeit voneinander. Gegenseitig helfen sie sich über den Zustand der Nüchternheit hinweg. Ihre Liebe ist ein Teil ihres Problems, doch das bedeutet nicht, dass sie falsch wäre. Sie ist echt und führt doch immer tiefer in die Selbstzerstörung. Dieses Dilemma macht A. L. Kennedy luzide erlebbar. "Paradies" ist das Protokoll einer Auslöschung und zugleich ein verstörender, dramatischer Liebesroman.
A. L. Kennedy begibt sich ganz und gar in die Psyche ihrer Heldin. Es gibt kein Außerhalb. Geduldig stenographiert sie deren Bewusstseinswindungen mit, die doch immer wieder nur darauf hinauslaufen, den nächsten Rausch plausibel zu machen und sich einzureden, willentlich zu handeln. Scharfsinnigkeit und Selbstlüge sind untrennbar verwoben, doch ihre Sprachmächtigkeit verliert sie nie. Kennedy erzählt staccatohaft im Präsens, weil es in diesem Bewusstsein nur die nackte Gegenwart gibt. Da kümmert das Geschwätz von vorhin so wenig wie der Kater am nächsten Morgen. Da zerfällt die Wahrnehmung in einzelne Augenblicke mit viel leerem Raum zwischendurch. So entsteht die Innenansicht eines Deliriums im Endstadium: eine geradezu klaustrophobische Atmosphäre.
Das könnte kaum so spannend sein, wenn es sich bei Hannah Luckraft nicht um eine komplexe und intelligente Persönlichkeit handelte, die eine hochgradige Sensibilität mit Alkohol steigern und abdämpfen will. Das Trinken ist für sie eine Methode, die Weltwahrnehmung richtig zu dosieren und dabei dem Glauben anzuhängen, sie selbst stünde am Mischpult und kontrolliere das Geschehen. "Es fühlt sich nicht so an, als sei das Trinken das Problem gewesen - eher so, als sei ICH es gewesen und werde es bald wieder sein", notiert Hannah in einem ihrer lichten Momente. Zweimal reist sie zu einer Entziehungskur in eine abgelegene Gegend Kanadas. Einmal, weil sie von ihrer Familie dorthin geschickt wird, das zweite mal, weil sie Robert dort vermutet.
Zweimal reißt sie wieder aus, und zweimal landet sie wieder in dem Hotel am Rande aller Zusammenhänge, in dem der Roman beginnt. So führt A.L. Kennedy die Wege ihrer Protagonistin als ausweglose Abwärtsspirale vor, als Windungen einer Süchtigen, die verloren ist und deren Leben doch helle Momente kennt, Augenblicke des Glücks und der Liebe. Darin, dass sie beides zu zeigen vermag – Paradies und Hölle – liegt die Kraft dieser Prosa und dieser Autorin.
A. L. Kennedy: Paradies. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach verlag, Berlin 2005, 362 Seiten, 22,50 Euro.