Kampagne gegen niedrige Wahlbeteiligung

Lutz Meyer im Gespräch mit Matthias Hanselmann |
Die Wahlen zum Europa-Parlament teilen das Schicksal vieler Wahlen: Nur wenige Wähler beteiligen sich. Gerade mal 39 Prozent sind bislang fest entschlossen, zur Wahl zu gehen. Eine europaweite Kampagne soll das nun ändern. Lutz Meyer, der die Kampagne entwickelt hat, sieht ein Defizit in der Kommunikation des europäischen Gedankens: "Wir alle wissen gar nicht, wie wichtig Europa in unserem täglichen Leben ist". Den Parteien warf er vor, zu wenig originäre Europa-Themen im Wahlkampf anzupacken.
Matthias Hanselmann: Am 7. Juni ist Europawahl. Und wieder droht eine eher dürftige Wahlbeteiligung. Umfragen zufolge sind bisher nur 39 Prozent der Wähler in Europa sicher, dass sie zur Wahl gehen werden. Bei der letzten Wahl im Jahr 2004 lag die Wahlbeteiligung bei 48 Prozent. Dem Europäischen Parlament war klar, dass etwas getan werden müsste, um mehr Menschen davon zu überzeugen, sich an der Wahl zu beteiligen. Deshalb wurde eine überparteiliche Kampagne in Auftrag gegeben, zum ersten Mal einheitlich, für alle 27 EU-Länder und in 23 Sprachen. "It's your choice" ist der Slogan, "Es ist deine Wahl". Den Auftrag für diese Kampagne bekam die Werbeagentur Scholz & Friends, und entwickelt hat sie deren Geschäftsführer Lutz Meyer, und der ist jetzt für uns in einem Studio in Brüssel. Guten Tag, Herr Meyer!

Lutz Meyer: Guten Tag!

Hanselmann: Eine einheitliche Kampagne für 27 Länder - das klingt nach einer schier unlösbaren Aufgabe, besonders wenn man weiß, wie wenig Menschen sich in Europa für Europa interessieren.

Meyer: Das ist richtig, und trotzdem hat das Europäische Parlament es versucht, und wir versuchen es gemeinsam. Die Wahlbeteiligung ist in der Tat in den letzten Jahren zurückgegangen. Das ist nicht nur bei der Europawahl so, das ist auch bei vielen anderen nationalen Wahlen so. Und deswegen geht es im Rahmen dieser Kampagne darum, die Menschen auf die Europawahl aufmerksam zu machen und zweitens deutlich zu machen, worum es dabei geht, was steht also zur Abstimmung, wenn am 7. Juni die Wahlkabinen öffnen.

Hanselmann: Wir wissen, dass dieses Europa, dieses Brüssel oder Straßburg für die Menschen in ganz, ganz weiter Ferne ist, dass sie natürlich eher an ihre nationalen oder regionalen Belange denken. Wie haben Sie das berücksichtigt, als Sie mit der Arbeit begonnen haben?

Meyer: Wir haben uns zunächst einmal angesehen, welche Themen sind in den verschiedenen Ländern von Bedeutung, wenn die Menschen an Europa denken. Wir haben natürlich in jedem Land immer die Situation, dass die Europawahl von der jeweiligen Opposition und der jeweiligen Regierung von den Parteien zu einer nationalen Zwischenabstimmung umfunktioniert wird. Das ist insofern nicht schlimm, weil dann die Mobilisierung höher ist, die Wahrnehmung der Wahl wird höher, und insofern muss man das nicht kritisieren.

Aber das Problem ist, dass die europäischen Themen, um die es ja eigentlich geht bei der Wahl der Abgeordneten für das Europäische Parlament, immer ein bisschen hinten ankommen. Und deswegen haben wir uns angeschaut, welche Themen interessieren eigentlich die Menschen mit Blick auf Europa, und vor allen Dingen, welche Themen möchte sie gerne auf europäischer Ebene geregelt haben, denn nicht alles, was in Europa geregelt werden kann, wollen die Menschen auch dort haben. In Großbritannien zum Beispiel haben wir eine sehr starke Ablehnung vieler Themen. Wenn die Leute gefragt werden, wollen Sie, dass Europa da mitentscheidet, ist die Antwort meistens nein. Deutschland ist viel offener.

Und diese Themen haben wir herausgesucht. Es geht um Energie, es geht um Sicherheit, es geht um Umwelt, es geht um Gleichberechtigung, um den Arbeitsmarkt. Das sind alles Themen, wo die Leute sagen, ja, das wollen wir, dass Europa da mitmischt und eine führende Rolle spielt, und deswegen haben wir entsprechende Kampagnen an diesen Themen ausgerichtet.

Hanselmann: Die Länder haben zum Teil völlig unterschiedliche Probleme oder Themen. Wenn Sie jetzt eine einheitliche Kampagne erarbeitet haben, mussten Sie doch dem irgendwie Rechnung tragen?

Meyer: Das ist richtig, das heißt, wir haben für alle Länder ein Angebot gemacht, aus dem diese Länder sich ein spezielles Wahlkampfthema heraussuchen können. Wir haben für alle Länder identifiziert Sicherheit, Umweltschutz, Förderung der Regionen, Energiepolitik, auch Wettbewerbspolitik, das sind Themen, wo die Leute sagen, das ist wichtig, dass Europa hier mitmischt. Durch die Krise sind die Themen Wirtschaftspolitik und Stabilität hinzugekommen. Wir haben zehn Motive entwickelt, zehn Kampagnenmotive, aus denen die Länder dann diejenigen ausgewählt haben, die für sie am besten funktionieren.

Hanselmann: Sie haben Fernsehspots entwickelt und Plakatwerbung erarbeitet, aber auch Radiospots, und davon wollen wir jetzt mal einen hören.

Radiospot: "Die EU hat heute den Verkauf von Waren aus Kinderarbeit untersagt."
"Für immer mehr Männer in Europa ist Familie der neue Traumberuf."
"Durch den gemeinsamen Rettungsschirm fasst Europa wieder Vertrauen in die Märkte."
"Wie werden die Nachrichten von morgen wirklich aussehen? Du entscheidest! Bei der Europawahl am 7. Juni."

Hanselmann: Waren aus Kinderarbeit, Familie als Thema oder der Rettungsschirm. Sie wollen ja sicherlich besonders junge Menschen dazu motivieren, am 7. Juni für Europa zu wählen. Glauben Sie, dass junge Menschen tatsächlich wählen gehen in dieser Hoffnung, irgendetwas mitbestimmen zu können? Es wird ja immer wieder beklagt und wir haben eben auch schon drüber gesprochen, dass Straßburg oder Brüssel als Zentren europäischer Politik in ganz weiter Ferne sind, obwohl räumlich ja durchaus nahe.

Meyer: Das ist richtig. Für die jungen Europäer ist Europa etwas, was es immer schon gegeben hat. Da ist gar nichts Besonderes bei, es sind die normalen Lebensumstände, die man kennt. In Osteuropa ist es noch ein bisschen anders, da ist die Erinnerung an eine nicht-europäische Vergangenheit noch ein bisschen wacher. Aber generell finden junge Leute, Europa ist gar nichts Spektakuläres, sondern immer schon da und deswegen ist es auch weniger wichtig und relevant, weil es gar nie anders war.

Wir haben deswegen in der Kampagne spezielle Instrumente entwickelt für junge Leute, "Viral Spots", also Filmchen, die sich über das Internet verbreiten und da ganz erstaunlich rasante Klickzahlen erreicht. Wir haben drei verschiedene Spots gemacht, die vor allen Dingen auf den Portalen YouTube und Facebook und so weiter weitergereicht werden und innerhalb von nur wenigen Tagen fast 200.000 Viewer, also Zuschauer dort gefunden, vor allen Dingen von jungen Leuten. Insofern gibt's auch einige Instrumente, die vor allen Dingen die Jungen erreichen und die aber ganz anders funktionieren. Da gehen wir nicht mit rationalen Argumenten vor, dass es gut ist zu wählen und dass man sich entscheiden muss zwischen einer solchen Verbraucherpolitik oder einer solchen, sondern dass es einfach dazugehört und dass es wichtig ist und dass es auch ein bisschen lustig sein kann, wenn man am 7. Juni in die Wahlkabine geht.

Hanselmann: Alles unbenommen, ich kann nur Ihrer Argumentation nicht so ganz folgen, dass Sie sagen, für die jungen Menschen war Europa schon immer da, deswegen interessieren sie sich weniger dafür. Viele junge Menschen sagen ja auch, was soll's, was schert mich Europa. Nicht, weil es einen Gewohnheitseffekt gibt, sondern weil sie überhaupt nicht wissen, was Europa für sie tut in ihrem ganz konkreten Leben.

Meyer: Das ist richtig. Ich glaube, das ist das große Problem in der Kommunikation des europäischen Gedankens, wir alle wissen gar nicht, wie wichtig Europa in unserem täglichen Leben ist. Vielleicht könnte man mal einen Europatag anderer Art machen, nicht mit Fähnchen und Kugelschreibern und den üblichen Informationsständen, sondern wir versuchen, uns mal an einem Tag im Jahr vorzustellen, wie unser Leben aussehen würde ohne Europa, das heißt ohne offene Grenzen, ohne Tomaten aus Italien, ohne französischen Wein, mit langen Grenzkontrollen, mit Pässen, die wir ausstellen müssten, wenn wir mal spontan am Wochenende nach Mallorca fliegen wollen und nicht zuletzt die Tatsache, dass wir so was Langweiliges wie Frieden und Stabilität in Europa haben. Mit ein bisschen Nachdenken und ein bisschen Argumentation kann man die Menschen schon dazu bringen, diese Leistung zu erkennen.

Hanselmann: Da sind wir natürlich auch schon ganz in der Nähe der Wahlkampagnen der Parteien, zu denen der stellvertretende Chefredakteur der "Welt", Romanus Otte, vorgestern geschrieben hat: "Ich empfinde die Spots und Plakate zur Europawahl als Frechheit. Sie sind frei von Aussagen zu Europa, vor allem frei von jeglicher Begeisterung für Europa. Arme Demokratie, wenn schon Kampagnen von CDU und Linken deckungsgleich werden." Ich spreche nicht von Ihrer Kampagne, sondern der der Parteien. Was sagen Sie denn zu diesen Wahlkampagnen?

Meyer: Also zunächst einmal geht es im Rahmen jeder Wahlkampagne darum, dass die eigenen Anhänger mobilisiert werden und dazu dienen die Wahlplakate. Dass die Parteien stets darauf setzen - und einige mehr als andere -, dass vor allen Dingen nationale Themen und die nationale Polarisierung diese Mobilisierung bewirken soll, das ist ein bisschen der Tatsache geschuldet, dass das historisch so funktioniert. Insofern muss man den Parteien das nicht nur vorwerfen, sondern man muss es den Bürgern vorwerfen, wir müssen uns selber an die Nase fassen: Erreichen uns die europäischen Themen denn wirklich, wenn sie auf dem Plakat stehen würden? Da habe ich so meine Zweifel.

Und deswegen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, finde ich es völlig in Ordnung, wenn die Parteien auf die Themen setzen, die in Europa zwar nicht auf der Tagesordnung stehen, aber die die Menschen bewegen. Es ist aber trotzdem ein Gebot der Redlichkeit, dann zu sagen: Liebe Leute, das interessiert euch vielleicht vordergründig, aber in Europa geht es eigentlich um dieses und jenes, und das muss natürlich Teil der Wahlkämpfe sein. Es ist ja auch Teil der Wahlkämpfe der Parteien, aber natürlich sind es nicht die Plakate, die dieses allein darstellen. Und das finde ich auch, muss ich sagen, ein wenig schade, weil es ist eine falsche Verpackung für das Produkt Europawahl.

Hanselmann: Weshalb ich Sie eben unterbrechen wollte, war Folgendes: Eigentlich machen Sie doch mit Ihrer Kampagne die Arbeit, die die Parteien leisten müssten. Die haben doch ein großes Interesse daran, dass am 7. Juni gewählt wird. Macht Sie das nicht - ich meine, Sie werden gut dafür bezahlt sicherlich -, aber macht Sie das nicht auch ein Stück weit ärgerlich?

Meyer: Das Europäische Parlament hat erstmals in diesem Jahr gesagt, wir müssen versuchen, die Parteien in gewisser Weise auch auf eine europapolitische Diskussion hinzulenken, und deswegen haben wir mit der Kampagne früher begonnen, und wir haben bewusst das plakatiert, das in TV-Spots, in Radio-Spots und in ganz viele andere Instrumente gepackt, was tatsächlich originär in Europa zur Diskussion und zur Abstimmung steht.

Nun ist die Kampagne des Europäischen Parlamentes als Institution nicht so reichlich ausgestattet wie die Summe aller Parteikampagnen. Wir haben für 375 Millionen Wahlberechtigte 18 Millionen Euro zur Verfügung. Das klingt nach einer gewaltigen Summe, aber runtergebrochen auf den einzelnen Wahlberechtigten sind es gerade mal 5 Cent. Das ist natürlich im Vergleich zu den professionellen und gut ausgestatteten Parteienkampagnen ein bisschen David gegen Goliath.
Eine Passantin geht in Freiburg an Wahlplakaten zur Europawahl vorbei.
Eine Passantin geht in Freiburg an Wahlplakaten zur Europawahl vorbei.© AP