Kamera am Hals, Panik im Nacken

Von Marcus Weber · 28.05.2012
Seine Bilder erzählen davon, dass die Sperrzone von Tschernobyl nicht nur einer der giftigsten Orte der Welt ist – sondern für viele immer noch Heimat bedeutet. Der Künstler und Fotograf Andrej Krementschouk im Porträt.
"Das war eines der ersten Bilder. Hier bin ich ausgestiegen. Das war wirklich voll gekleidet wie amerikanischer GI, mit einer Gasmaske, mit Kamera. Und ich wusste, ich muss so schnell so viel Bilder wie möglich auf so kürzester Zeit wie es nur geht machen. Und alles Mögliche, was noch in Frage kommen könnte abfotografieren, dann schnell ins Auto und raus."

Andrej Krementschouk, 38 Jahre, sitzt in seinem Leipziger Atelier. Groß und kräftig und mit einer leisen Stimme. Manchmal laut auflachend, und Sekunden später mit Tränen in den Augen. Auch jetzt, wenn er erzählt, wie er 2008 zum ersten Mal in die Sperrzone von Tschernobyl kam.

"Da bin ich im Auto gestiegen und nur geheult. Ich wollt nie hin, und ich hat soviel Angst, dass mich das umbringt. Und ich bin ein junger Mensch, hab noch keine Kinder, und Radioaktivität, was wird aus mir jetzt. Und wir waren ziemlich panisch danach, als wir zurückkamen."

Es dauert nicht lang, da fährt Krementschouk trotzdem wieder nach Tschernobyl. Die Angst schiebt er beiseite. Er will den Reaktor sehen, die Menschen besuchen, die noch immer in der Sperrzone leben. Die Fotos, die 2011 in seinem Buch Chernobyl Zone (I) erscheinen, zeigen ein friedliches Landleben. Eine Katze in einem Bett, eine alte Frau mit Kopftuch und Mantel, die auf einem Feld ein Feuer macht.

"Ich hab viel Freude erlebt, ich hab viel Interesse an Leben erlebt, was wir hier bisschen verlernen. Atomenergie ist schrecklich. Aber Mensch hat so ein starke Überlebenskraft. Und es war für mich unerwartet, dass man so glücklich sein kann an einem Ort, was nur mit Unglück und Tragödie verbunden ist."

Was braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Was ist Heimat? – Es sind diese Fragen, mit denen sich Andrej Krementschouk in seinen Arbeiten beschäftigt. Er selbst stammt aus Nischni Nowgorod, 400 Kilometer von Moskau Richtung Sibirien. Eine Millionenstadt, in der er Anfang der 80er-Jahre gemeinsam mit seiner Mutter bei den Großeltern lebt. Seine erste Kamera bekommt Krementschouk mit 14 von seinem Großvater.

"Fotografie war so ein Sport in Sowjetunion – so Beschäftigung, was fast jede Familie hatte. Und ja ich glaub das liegt an Menschennatur. Irgendwie so Beweise von seiner Existenz zu haben, oder von dem, wie glücklich wir waren."

Fotograf zu sein, das ist kein Beruf für einen Mann, heißt es in Krementschouks Familie. Vielleicht hat er deshalb angefangen, lange Texte zu seinen Bildern zu schreiben, vielleicht auch, weil Fotos nicht alles erzählen können.

Gerade ist Krementschouk dabei, seinen ersten Roman zu beenden. Er erzählt von dieser seltsamen Zeit Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in Russland. Krementschouk macht damals eine Ausbildung zum Restaurator, fliegt von der Schule, will in Moskau Geschichte studieren. Als er nicht zugelassen wird, landet er an einem Konservatorium, studiert Musik und verdient sein Geld nebenher als Juwelier.

"Die Hauptkunden waren die Kriminellen und die Bruderschaften, die dann unbedingt Ketten wollten. Und die Ketten waren nicht nach Schönheit oder nach irgendwie ästhetischen Kriterien gemacht, sondern: Der hatte jetzt 130-Gramm-Kette, ich will jetzt 140 haben. Wer hat jetzt 140? Okay, ich will jetzt 150 Gramm haben. Das war zwei Jahre mein Leben, wo es nichts um anderes ging als mit Gold so eine mechanische Arbeit zu machen."

Krementschouk lacht, schweigt, trinkt einen Schluck Tee und erzählt von den verschlungenen Wegen, über die er 1997 nach Deutschland kommt, wie er in Hamburg Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie studiert. Dann zieht er ein Buch aus dem Regal: seine Diplomarbeit, für die er nach Russland zurückgekehrt und das Heimatdorf seines Großvaters fotografiert hat.

"Ich hatte so ein Phänomen erlebt: Je länger ich von meinem Heim entfernt war, je öfter ich nach Hause gefahren bin nach Russland, desto weniger hatte ich mich in Russland heim gefühlt. Dieser Widerspruch hat mich krank gemacht. Und ich wusste nicht, was mit mir passiert. Und diese Suche nach Heimat, und wo bin ich zu Hause und was ist Heimat? Das waren die Fragen meines erstes Buches."

Für "No direction home" wird Krementschouk 2007 beim Fotowettbewerb "Gute Aussichten" ausgezeichnet. Ein Verlag wird auf ihn aufmerksam. Er zieht nach Leipzig.

Und hier sitzt er nun. Und auf die Frage, warum er damals nach Tschernobyl zurückgekehrt sei, kramt er erneut einen Bildband hervor. Er zeigt auf ein Bild, das er damals, bei seiner ersten Reise in die Zone gemacht hat. Ein altes Holzhaus, ein paar Schritte von der Straße entfernt; versteckt hinter Sträuchern und kahlen Bäumen. Darüber ein grauer Himmel. Es erinnerte ihn an ein Märchenbuch, das er als Kind besessen hat.

"Da gab’s immer einen Drachen, der die ganzen Landschaften verwüstet hat. Und es gab so kleine Dörfer, wo interessante Menschen, so mit irgendwelchen interessanten Eigenschaften, gelebt haben. So merkwürdige Menschen. Und es sah alles nach diesem Buch aus. (lacht) So dieser Böse ist dieser Reaktor, es war sehr schlüssig plötzlich. Also dieser Ort, und diese Motiven, waren genau das, was mich in diesem Buch, was mir so gefiel. Und ich werde jetzt ein Buch machen, was ich jetzt nicht mehr hab. Was ich aus Erinnerung nur so, mit neuen Bilder aus diesem Ort."