Kamel Daoud: „Huris“

Gewaltig und wuchtig, politisch und poetisch

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Cover des Romans „Huris“ von von Kamel Daoud.
© Matthes & Seitz

Kamel Daoud

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

HurisMatthes & Seitz, Berlin 2025

398 Seiten

28,00 Euro

Von Dirk Fuhrig |
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Der algerische Autor Kamel Daoud ist für seinen Roman „Huris“ mit dem Prix Goncourt in Frankreich ausgezeichnet worden. In Algerien darf das Buch nicht verkauft werden: Es handelt von den Grausamkeiten des dortigen Bürgerkriegs zwischen 1992 und 2002.
Dieser Roman ist eminent politisch. Sowohl wegen seines Inhalts, als auch wegen der Reaktionen nach seiner Veröffentlichung im französischen Original. Kamel Daoud lebt seit rund zwei Jahren in Frankreich im Exil. Lange Zeit hatte er als Journalist und Schriftsteller immer wieder die politischen Zustände und den stets stärker werdenden Einfluss fundamentalistischer islamischer Kräfte angeprangert.

"Huris" bricht das Schweigen

Mit „Huris“ hat Kamel Daoud ein Tabu gebrochen: das staatlich verordnete Schweigen über die Grausamkeiten während des „finsteren Jahrzehnts“, wie der Bürgerkrieg zwischen 1992 und 2002 genannt wird. Daoud stellt seinem Roman einen Abschnitt aus der sogenannten „Charta für Frieden und nationale Versöhnung“ voran, in der Strafen angedroht werden beim Verstoß gegen die Aufforderung zur Amnesie.
Seit der Roman im November 2024 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, wird Kamel Daoud in Algerien noch stärker angefeindet. Hinzu kommt, dass er sich maßgeblich für die Freilassung seines Schriftsteller-Kollegen Boualem Sansal einsetzt, der zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Gegen Daoud hat die algerische Justiz zwei internationale Haftbefehle beantragt. Eine Algerierin klagt gegen ihn; sie behauptet, der Schriftsteller habe ihre eigene Leidensgeschichte verwendet, um daraus die Protagonistin in seinem Roman zu formen.

Ein Kind wird schwer verletzt

Aube heißt die Ich-Erzählerin. Der Name bedeutet „Morgenröte“. Im Alter von fünf Jahren wurde sie grausam verletzt: Ein Schnitt mit dem Messer in die Kehle, verübt durch islamistische Attentäter. Seither atmet sie nur mit Hilfe eines Schlauchs, der in ihre Luftröhre eingeführt ist. Sie kann nicht sprechen, aber verfügt über Gedanken und Gefühle, die Daoud sie in Form eines kraftvollen inneren Monologs äußern lässt.
Aube führt einen Frisiersalon in Oran, der dem Imam der gegenüberliegenden Moschee ein Dorn im Auge ist. Der Salon, ein Ort der Freiheit für Frauen, wird von islamistischen Fanatikern verwüstet. Aube flieht, sie will in das Dorf ihrer Familie zurück. Ein Autofahrer und Buchhändler, der die junge Frau auf der Autobahn aufgabelt, wird zu ihrem Komplizen.
„Huris“ - das sind die Jungfrauen im Paradies, die, so postuliert es der Islam, auf die Märtyrer warten, die im Kampf für die wahre Religion gestorben sind. Der algerische Bürgerkrieg war auch ein Glaubenskrieg.
In der seither immer stärker von einer strengen Auslegung des Islam dominierten Gesellschaft ist die Selbstbestimmung der Frauen ein zentrales Thema: das Tragen des Schleiers, ihre Rolle in der Öffentlichkeit, die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper. Aube ist schwanger, sie hadert damit, das unehelich empfangene Kind in dieser feindseligen Umgebung zur Welt zu bringen.

Viele Worte und poetischer Wille

Kamel Daouds Roman lässt die Zeitgeschichte in den sehr ausgiebigen Monolog eintröpfeln. Weitere Perspektiven, Stimmen. Erzählstränge kommen hinzu. Das ist mitunter vielleicht etwas dick aufgetragen, allzu mystisch verwoben. Es stecken sehr viele Worte, sehr viel poetischer Wille in diesem Werk, das insgesamt aber ungemein fesselnd ist, auch in der äußerst gelungenen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller.
Die eloquente Anklage einer Frau, die ihre Stimme, ihre Persönlichkeit und die Tragik ihres Landes zu ergründen sucht. „Huris“ ist ein üppiger, gewaltiger, wuchtiger Roman. Politisch und poetisch, grausam und intim. Beklemmend wie ein antiker Klagegesang, aktuell und gegenwärtig wie wenige andere Romane.
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