''Bleibt in den Kasernen!"
November 1989 in der DDR: Während sich im ganzen Land revolutionäre Bewegungen ihren Weg bahnen, bleibt das Oberkommando der sowjetischen Truppen in Wünsdorf bei Berlin untätig. Eine Spurensuche nach den Ursachen, warum das Militär den Mauerfall nicht zu verhindern versuchte.
Wünsdorf. Ein kleiner verschlafener Ortsteil von Zossen etwa 40 Kilometer südöstlich von Berlin. Renovierte Häuser und Villen in der Stille brandenburgischer Kiefernwälder. Eine friedliche Idylle mit militärischer Vergangenheit. Von hier aus wurden Kriege geplant und geführt. Wünsdorf war eine Garnisonstadt, die zunächst von Kaisertruppen, dann von den Nazis und später von den Sowjets genutzt wurde.
Wünsdorf heute. Eine Bücherstadt mit zig Antiquariaten aus Berlin und Brandenburg. Ein Ort des Krieges mit gesprengten deutschen Bunkern. Ein riesiges Areal der Geschichten aus der Zeit der sowjetischen Truppen.
Fast ein halbes Jahrhundert befand sich in Wünsdorf das Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Im Sommer 1989 wurden sie in "Westgruppe der Truppen" umbenannt. Abgeriegelt und strengstens bewacht – Wünsdorf war die Schaltzentrale einer gewaltigen Militärmaschine. Mehr als 350.000 Mann, bis an die Zähne bewaffnet.
Die primäre Aufgabe sowjetischer Truppen in der DDR war, den Ostblock bei einem Angriff von Außen zu verteidigen. Ein Einsatz im Inneren wurde jedoch nicht ausgeschlossen. Im Stationierungsvertrag aus dem Jahr 1957 heißt es:
Sprecher: "Im Falle der Bedrohung der Sicherheit der sowjetischen Streitkräfte kann das Oberkommando ... bei entsprechender Konsultation der Regierung der DDR ... Maßnahmen zur Beseitigung einer derartigen Bedrohung treffen."
Warum aber gingen sowjetische Truppen im Herbst 89 nicht gegen die Proteste in der DDR vor? Das Schicksal Deutschlands und Europas wurde in Wünsdorf mit entschieden. Sowjetische Generäle sorgten dafür, dass keiner ihrer ca. 6.000 Panzer gegen Demonstranten in Leipzig, Dresden oder Ost-Berlin aufgefahren ist.
Rufe: "Wir sind das Volk!"
Rolle der sowjetischen Truppen ist kaum erforscht
Am 9. November und in den Tagen nach dem Mauerfall sind die Soldaten in ihren Kasernen geblieben. Die "Westgruppe der Truppen" leistete ihren Beitrag, indem sie nichts tat. Weshalb tat sie nichts? Warum hielt sie still? Wer gab welche Befehle? Was passierte im Dreieck Wünsdorf, Berlin und Moskau?
Die Rolle sowjetischer Truppen in der DDR im Herbst 1989 gilt bis heute als wenig erforscht. Russische Militärarchive bleiben noch zehn Jahre - bis 2019 – geschlossen. Stasi-Unterlagen enthalten keine Hinweise auf das Verhalten der Russen in den Tagen vor und nach dem Mauerfall. Um die Lage zu rekonstruieren, ist man auf die bereits vorhandenen Dokumente und Zeugenaussagen angewiesen.
Die Schlüsselfigur heißt Michail Gorbatschow. Seit seinem Amtsantritt 1985 verfolgt der sowjetische Generalsekretär eine neue Politik gegenüber dem Westen, die auf Entspannung setzt. Die Führung in Moskau kommt zu dem Schluss, dass ein weiteres Wettrüsten die sowjetische Wirtschaft ruinieren würde. Vor diesem Hintergrund leitet Gorbatschow eine Abkehr von der Doktrin eines seiner Vorgänger – Leonid Breschnew - ein.
"Die Breschnew-Doktrin bedeutet, dass die Staaten des Warschauer Vertrages die Möglichkeit haben, in jedes Bruderland einzumarschieren, wenn der Ostblock in Gefahr ist."
Sagt Silke Satjukow, Privatdozentin an der Uni Jena und Autorin des Buches "Besatzer", über eine fast 50-jährige sowjetische Militärpräsenz in Deutschland.
"Damit der Westen dem Osten nicht mehr misstraut, hat Gorbatschow immer dem Westen unter der Oberfläche deutlich gemacht, dass er im Falle irgendwo würde eine Revolution ausbrechen, auch bei den Brüdern, nicht mehr eingreifen würde. Er sagt es aber niemals expresses verbes. Er macht es aber deutlich."
Drohender Zusammenbruch des Sicherheitssystems
Die neue Militärdoktrin der UdSSR verfasst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Marschall Sergej Achromejew. Der ehemalige Generalstabchef und Gorbatschows Berater gilt als einer der einflussreichsten sowjetischen Militärs.
Achromejew weiß, worum es geht und warnt vor möglichen Konsequenzen: Veränderungen in ganz Europa könnten zum Zusammenbruch des Sicherheitssystems führen, das nach dem Krieg aufgebaut wurde. Der Marschall drängt Gorbatschow, sich auf neue Entwicklungen vorzubereiten. Doch der Sowjetführer weigert sich. Achromejew hält in seinen Memoiren fest:
"So weit ich mich erinnern kann, diskutierte Gorbatschow nicht ein einziges Mal mit der militärischen Führung detailliert die militärisch-politische Situation in Europa und die Perspektiven ihrer Entwicklung."
Im Sommer und Herbst 1989 reagieren die sowjetische Streitkräfte in der DDR nicht militärisch auf wachsende Instabilität und Massenproteste der Bevölkerung.
Wer und wann den entscheidenden Befehl gegeben hat, sich militärisch nicht einzumischen, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. In einigen Quellen ist zu lesen, der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse habe bereits im August 1989 angeordnet, dass die "Westgruppe der Truppen" in ihren Kasernen bleiben soll – egal, was passiert. "Alles Quatsch", sagt Igor Maximytschew, damals Gesandter bei der UdSSR-Botschaft in Ost-Berlin.
"Einen solchen Befehl gab es nicht, weil es nicht notwendig war."
Schewardnadse selbst erinnert sich:
"Es gab eine gemeinsame Entscheidung einer Mehrheit im Politbüro – kein Einsatz von Militärstärke. Es gab ja schon die Ereignisse in Ungarn und in der Tschechoslowakei. Das war eine bittere Erfahrung. Natürlich haben wir es nicht für nötig und möglich gehalten, Gewalt in Deutschland anzuwenden."
Wenn's wichtig wird, klingelt normalerweise das Telefon
Bis heute wurden keine schriftlichen Belege eines solchen Befehls bekannt. Dafür spricht auch die damalige Praxis, wichtige Entscheidungen meistens telefonisch mitzuteilen.
Alexander Furs ist ein kräftiger Mann Ende 50. Der russische Generalmajor a.D. ist Militärhistoriker in Moskau und ist nach Wünsdorf gereist, um hier ein Museum der "Westgruppe der Truppen" aufzubauen. Er sitzt in einem kleinen Zimmer an der Gutenbergstraße 1 in Zossen. In einer Ecke hängt das besonders wertvolle Ausstellungsstück – Uniform des letzten Oberkommandierenden Matwej Burlakow. Furs kennt ihn persönlich, wie auch seinen Vorgänger, den inzwischen verstorbenen Armeegenerall Boris Snetkow, der im Herbst 1989 der Truppe vorsteht.
Damals arbeitet Furs bei der Truppenzeitung "Sowetskaja armija" und ist in Wünsdorf stationiert. Er sagt, dass der Oberkommandierende Snetkow ein Konservativer war, der – wie die meisten älteren sowjetischen Militärs – Gorbatschows Reformpolitik skeptisch gegenüberstand.
Als Gorbatschow Anfang Oktober 1989 nach Berlin fliegt, um 40 Jahre DDR zu feiern, steht Wünsdorf nicht auf seinem Besuchsprogramm.
"Das wurde als eine Vernachlässigung, als ein Zeichen mangelnden Respekts gegenüber der Truppe wahrgenommen. Es war bitter."
In Berlin aber trifft sich Gorbatschow mit dem Oberkommandierenden Snetkow. Worüber sie sprechen, ist nicht bekannt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Rolle der Sowjettruppen in der DDR thematisiert wird.
Die Krise in der DDR ist zu diesem Zeitpunkt offensichtlich. Montagsdemos sind in vollem Gange; Menschen wollen Reformen nach sowjetischem Vorbild, die der SED-Chef Honecker verweigert. Gorbatschow erlebt es hautnah, als er zusammen mit Honecker auf der Tribüne steht.
Rufe: "Gorby, helf uns! Gorby, helf uns!"
Militäreinsatz ist kein Thema
Das ganze politische System der DDR scheint in Gefahr. Trotzdem wird auch beim Treffen mit der DDR-Führung nicht über einen möglichen Militäreinsatz gesprochen. In West-Berlin dagegen macht man sich Sorgen. Valentin Falin ist damals Chef der Internationalen Abteilung des ZK und begleitet Gorbatschow.
"Kurz vor Gorbatschows Besuch in der DDR traf ich mich mit dem Regierenden Bürgermeister West-Berlins Walter Momper. Er fragte mich, was unsere Militärs tun würden, wenn die Entwicklung in der DDR außer Kontrolle gerät? Ich sagte ihm: Wenn keine Waffen gegen unsere Garnisonen und unsere Truppen verwendet würden, werden sie in den Kasernen bleiben."
Diese Einstellung Moskaus ist auch dem Armeegeneral Snetkow in Wünsdorf bekannt. Wenige Tage nachdem Gorbatschow aus Berlin abgereist ist, spricht er mit Fritz Streletz – damals Stellvertretender Verteidigungsminister der DDR. Streletz bittet Snetkow ein Manöver abzusagen, um die angespannte Lage nicht zusätzlich zu provozieren. Der Oberkommandierende in Wünsdorf ist einverstanden. Später behauptet Streletz, dass Snetkow ihm auch Hilfe versprochen habe.
"Wenn die Nationale Volksarmee Hilfe, Unterstützung benötigt, die Gruppe ist bereit, ihren Waffenbrüdern der NVA jegliche Hilfe zuteil werden zu lassen."
Dies hätte bedeutet, dass der sowjetische General bereit war, gegen den Willen Gorbatschows zu handeln. Der Militärhistoriker Alexander Furs bestreitet das.
"Ich glaube, dass Snetkow so etwas nicht hätte sagen können. Vielleicht in einer anderen Form würde die Hilfe zugeteilt, aber keine militärische Hilfe."
Die DDR-Führung will eine solche Hilfe offenbar sowieso nicht. Nachdem Honecker gestürzt ist, reist sein Nachfolger Krenz am 1. November 1989 nach Moskau. Er bittet dort um politische Unterstützung, Militärfragen werden nicht diskutiert.
Wenige Tage zuvor hat Gorbatschows Pressesprecher in Helsinki die Breschnew-Doktrin zum ersten Mal öffentlich für tot erklärt. Er nennt die neue Haltung des Kreml "Sinatra-Doktrin". Sie besagt im Kern: Staaten des Ostblocks dürfen eigene Wege gegen, ohne die Angst zu haben, dass Moskau Panzer schicken würde.
Gorbatschow schlief, aber auch der Armeegeneral tat nichts
Am 9. November bleibt es ruhig in den sowjetischen Garnisonen in der DDR. Weil Gorbatschow oder sein Außenminister Schewardnadse das angeordnet haben? Oder weil am 7. und 8. November die UdSSR den Jahrestag der Oktoberrevolution feiert?
"Ab dem 6. bis zum 13. November war die ganze Truppe kaserniert. Niemand ging raus. Und Sie finden keinen Deutschen, der in diesen Tagen unsere Soldaten in einer Stadt gesehen hätte, nicht einmal in einem Geschäft. Aber das war so üblich während der großen Feiertage in der Sowjetunion."
Igor Maximytschew, ehemaliger Gesandter bei der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin. Für seinen Chef, den Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow, sind diese Feiertage allerdings ein Problem. Die DDR-Führung plant die Öffnung neuer Grenzübergänge, um Tausende in die BRD ausreisen zu lassen. Ost-Berlin will wissen, ob Moskau nichts dagegen hat. Aber der Botschafter kann den Außenminister Schwardnadse am Vormittag des 9. November nicht erreichen. Das OK gibt sein Stellvertreter.
Von dem, was danach passiert, sind alle überrascht. Auch Alexander Furs in Wünsdorf. Er schreibt gerade ein Buch über die Geschichte der "Westgruppe der Truppen", als er aus dem Fernsehen erfährt, dass die Grenzübergänge geöffnet sind.
"Wir haben uns immer in der Halle des Generalstabs in Wünsdorf versammelt, um Nachrichten zu sehen. Normalerweise war man zurückhaltend. Und hier gab es eine heftige Debatte. Die einen sagten: Na und? Nun ist die Grenze nicht mehr da! Die anderen waren besorgt, dass es Provokationen gegen die Truppe hätte geben können."
Gorbatschow sagt, dass er vom Fall der Mauer am morgen des 10. November erfährt. Weshalb wurde der sowjetische Staatschef erst nach Stunden über dieses Ereignis informiert? Immerhin wurde nur ein paar Kilometer von Wünsdorf entfernt, vom Hauptquartier der sowjetischen Truppen in der DDR, die Mauer geöffnet – im Zentrum des geteilten Europas. Silke Satjukow von der Uni Jena:
"Wenn es so war, wenn es stimmt, was Gorbatschow sagte, dann gibt es Kräfte, die das verhindert haben. Und man muss sich fragen, warum sie es verhindert haben? Womöglich weil sie sich diese Grauzone erhalten wollten, um zu handeln. Denkbar wäre das, dass das Militär abwartet mit den Informationen, um für sich noch Handlungsrahmen zu halten. Wenn der Präsident nicht bescheid weiß, kann er auch nichts befehlen. Oder Gorbatschow hat es gewusst und hat gute Gründe gehabt zu sagen, ich habe nicht entscheiden können im entscheidenden Moment, weil ich es nicht wusste. Beides ist denkbar."
Während Gorbatschow schlief, hätte der Armeegeneral Snetkow in Wünsdorf also versuchen können, die Grenze mit Gewalt wieder zu schließen. Er tat es nicht.
"Spätestens als der Grenzübergang in Berlin geöffnet wurde, was also Alliiertenangelegenheit ist, spätestens dann hätte er eingreifen können. Das war kein Teil von keiner Abmachung, dass plötzlich die Grenze zum Westen geöffnet wurde. Er hat es nicht getan."
"Wir fürchteten große Konflikte"
Am 10. November 1989 ist die Hölle los. Moskau reagiert aufgeregt, verlangt halbstündlich nach Lageberichten, sagt Iwan Kusmin, damals Leiter der Informationsabteilung der KGB-Vertretung in Berlin-Karlshorst.
"Wir in Berlin spürten, dass die Lage äußerst gefährlich war. Wir fürchteten große Konflikte, die eine Einmischung der Truppen nach sich ziehen könnten. Es war ein Wunder, dass nichts passiert ist."
In Moskau trifft sich ein Krisenstab. Gorbatschow schreibt in seinen Erinnerungen:
"Das Streben der Deutschen nach der Einheit konnte nur vereitelt werden, wenn die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte eingesetzt würden. Das aber hätte das völlige Scheitern aller Bemühungen zur Beendigung des Kalten Krieges und des nuklearen Wettrüstens bedeutet."
Iwan Kusmin, damals zweiter KGB-Mann in Ost-Berlin, konstatiert:
"Die Sowjetunion konnte in der Situation nichts tun. Sie stand wirtschaftlich vor dem Kollaps. Objektiv gesehen, hatte Gorbatschow auch kein großes Interesse für Deutschland. Er hatte mehr Sorgen um sein eigenes Land."
Am 10. November ruft der sowjetische Außenminister Schewardnadse den Botschafter in Ost-Berlin an und gibt Anweisung an das Militär in Wünsdorf: Keine Aktivitäten! Der Botschafter gibt die Anweisung an General Snetkow weiter. Die Anordnung aus Moskau wird erfüllt, bestätigt Alexander Furs.
"Es gab einen Befehl Snetkows, die Bewachung von Militärstädten und Munitionsdepots zu verstärken und sich nicht in innere Angelegenheiten der DDR einzumischen."
Die Mauer ist gefallen, die sowjetischen Truppen bleiben in ihren Kasernen. Es gab offensichtlich keinen Befehl, die deutsch-deutsche Grenze wieder dicht zu machen.
Widerstand gegen Abzug der Truppen
Einige Zeit später wird führenden Köpfen klar, dass auch sowjetische Truppen aus Deutschland werden abziehen müssen. Dagegen gibt es Widerstand unter sowjetischen Militärs. Hätte im Herbst 89 Armeegeneral Snetkow in Wünsdorf gegen Gorbatschow handeln können? Er wird sich später weigern, den Abzug der Westgruppe vorzubereiten und wird ausgetauscht. Alexander Furs:
"Snetkow hätte niemals eine Entscheidung getroffen, ohne sie vorher mit der Obrigkeit abzusprechen."
Gorbatschow selbst sagt, dass er keine Angst vor seinen Kritikern hatte.
"Es war eine Minderheit. Leute haben mich unterstützt, auch Militärs."
Bleibt noch die gerne gestellte "Aber-wenn-doch"-Frage. Wenn es damals doch zu einem Einsatzbefehl für sowjetische Truppen gekommen wäre? Es deutet einiges darauf hin, dass es nicht einfach gewesen wäre, sagt Silke Satjukow von der Uni Jena.
"Über ein halbes Jahrhundert haben sich zwischen den Streitkräften und der DDR-Bevölkerung vielfältigste Beziehungen entwickelt – Handelsbeziehungen, Arbeitsbeziehungen, Liebesbeziehungen, Freundschaften. Die Frage ist: Wären die sowjetischen Soldaten gegen diese Nachbarn vorgegangen? Trainiert haben sie Gehorsam. Natürlich, sie haben Gehorsam gegen den inneren und den äußeren Feind trainiert. Dieser Feind hatte meistens kein reales Gesicht, sondern Propagandamasken.
Dies heißt, sie trainieren, im Ernstfall gehorsam zu sein und zu Schießen. Dennoch hätten sie in diesem Ernstfall nicht gegen irgendeinen bösen Feind geschossen, sondern gegen einen Bekannten. Und wenn wir überlegen, dass es schon 1953 ein Problem gewesen ist, kann man mutmaßen, dass die sowjetischen Soldaten und Offiziere nicht so ohne Weiteres aus den Kasernen gefahren wären und auf die Masse geschossen hätten."
Was wäre gewesen, wenn...
Das bestätigt auch Wadim Gomelsky. Im Herbst 1989 dient er als Oberleutnant in der 11. Panzerdivision in Dresden.
"Ich kann ehrlich sagen, ich habe mir diese Frage mehrmals gestellt. Ich habe keine eindeutige Antwort. Hätte ich abgedrückt? Wenn es eine Gefahr fürs Leben gegeben hätte, dann hätte ich vielleicht instinktiv gehandelt. Aber so auf eine friedliche Demo zu schießen – das hätte ich vielleicht nicht gekonnt."
Und wenn es einen Befehl gegeben hätte?
"Wenn es einen Befehl gegeben hätte, wären Panzer auf die Straße aufgefahren. Man fängt erst an zu denken, wenn das Gewehr auf die Menschenmenge zielt. Normale Soldaten hätten nicht alle Mosaiksteinchen im Kopf. Man hätte denken können, dass es eine Übung ist."
Es gab keinen Befehl, keine Übung. Es gab nur die Wirklichkeit – den Herbst 89 und kein Vorgehen sowjetischer Truppen gegen den politischen Umbruch.
Seit nun 15 Jahren ist Wünsdorf keine Garnisonstadt mehr. Da, wo einst der sowjetische Generalstab der in der DDR stationierten Truppen saß, arbeiten heute Landesbeamte der Entwicklungsgesellschaft. Einige Gebäude, wie das gelbe Haus der Offiziere mit dem Lenindenkmal davor oder die Villa des Oberkommandierenden, stehen noch. Sie werden Touristen gezeigt - als Zeugen einer vergangenen Zeit.