Kalter Blick aufs Wesentliche

Von Ullrich Bohn |
Dass uns Hans Neuenfels, der amtierende Regisseur des Jahres und Altmeister der Provokation, keine "Traviata" der feucht-fröhlichen Orgien mit Sekt und Schnittchen servieren würden, kein gesellschaftliches Sittenbild also, war klar. Dass sein Blick aufs Luxusleben der Edelkurtisane Violetta Valery aber so kalt und beklemmend, fast unheimlich ausfällt, verstört und fasziniert gleichermaßen.
"Die Liebe darf nichts kosten außer das Leben", lautete Hans Neuenfels' Motto für diese "Traviata"-Premiere an der Komischen Oper Berlin. Und es geht ihm dabei nicht ums Gesellschaftliche, nicht um die Doppelmoral in den luxuriösen Salons der Pariser Halbwelt, sondern um das Wesentliche, um einen Blick Violettas auf die Menschen und das Leben um sich herum.

Zu diesem Seelenstriptease passt auch die Bühne von Christoph Hetzer. Ein kalter, schwarz-schillernder Kasten, durch den im ersten und dritten Akt raumhohe Metallwände wie große Raumteiler hindurch gleiten, und hinter denen oft schlaglichtartig die Personen hervor- und in Violettas Leben hineintreten. Ihr Alter Ego etwa, von Neuenfels als stumme Rolle, als eine Art Zuhälter hinzuerfunden, der der Prostituierten das Kostüm reicht und der sie mit dem Messer gegen Alfredo verteidigen will, als dieser sich gegen alle gesellschaftliche Konvention in sie verliebt hat.

Garniert werden diese hochkonzentrierten Szenen nicht mit dem üblichen, gelangweilten Ballvolk, vielmehr mutiert der äußerst aktionistisch aufgelegte Chor zur geifernden Gesellschaft, die alles mit plakativer Ironie und zugespitzten Bildern kommentiert.

Sehr drastisch geschieht das vor allem in der zweiten Szene des zweiten Aktes, bei Floras Ball, auf dem die resolute Menge Violettas Zuhälter gleich mal das Herz aus dem Leib reißt, um welches sodann Alfred Germont und sein Kontrahent, der Baron Douphol, mit Operationsnadeln spielend ringen. Jeder Stich bedeutet zugleich auch ein Stich in Violettas Herz.

Den stärksten Eindruck auch sängerisch hinterlässt jedoch Aris Argiris als Vater Giorgio Germont. Dem Hans Neuenfels seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, ihn mit einer Art Klumpfuß und einem dicken Kreuz um die Brust ausstattet, er somit Violetta als Dämon und Heuchler zugleich erscheint, ihre Opferbereitschaft aber auf die Dauer dennoch nicht ausreicht, sein hehres Bild von der heilen Familie vor dem Absturz in den Alkoholismus zu bewahren.

Timothy Richards überzeugt in der Partie des Alfred zwar als echter Charakterdarsteller, stimmlich aber bleibt er zu blass, vermisst man den mehr strahlenden italienischen Tenor. Sinéad Mulhern bringt für die Violetta die erforderliche jugendliche Attraktivität mit, steigert sich stimmlich aber eher von Akt zu Akt. Und kann, wenn all die Hoffnungen mehr und mehr verlöschen, auch großartige Momente gestalten.

Der neue Chefdirigent der Komischen Oper, Carl St. Clair, erweist sich als echter Partner des Regisseurs, denn auch er deutet und interpretiert Verdis Musik mit schneidigen Tempi und unerbittlich-strengen Rhythmen, mit einem auch sehr trockenen-knalligen Klang, in eine doch so extreme Richtung, die nicht bei allen auf Gegenliebe stößt.

Bliebe als einziges echtes Manko, der deutsch gesungene Text von Walter Felsenstein. Mal abgesehen davon, dass das italienische Original hier wirklich die bessere und auch zeitgemäßere Alternative gewesen wäre, sollte man, bei aller Liebe zur Tradition des Hauses, dem Publikum wenigstens per Übertitel eine Verständigungsbrücke bauen.

"La Traviata" von Giuseppe Verdi
Komische Oper Berlin
Regie: Hans Neuenfels
Musikalische Leitung: Carl St. Clair
Bühnenbild: Christof Hetzer
Kostüme: Elina Schnizler
Dramaturgie: Bettina Auer
Mit:
Sinéad Mulhern: Violetta Valery
Karolina Gumos: Flora Bervoix
Christiane Oertel: Annina
Timothy Richards: Alfred Germont
Aris Argiris: Georges Germont
u.a.