Kalkulierte Tabubrüche
Günter Grass bekennt sich weltöffentlich zu seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS; Madonna lässt sich auf ihrer neuesten Welt-Tour mit Dornenkrone ans Kreuz hängen; unser Finanzminister schlägt uns vor, auf Urlaub zu verzichten und lieber für das Alter vorzusorgen; der Junge aus gutbürgerlicher Familie stylt sich mit Tattoos, Piercings und blauen Haaren - diese vier haben eines gemeinsam: Sie wollen auffallen um jeden Preis. Sie betteln um die knappste aller Ressourcen, nämlich Aufmerksamkeit.
Aufmerksamkeit kann man nur erregen, wenn man das Bewusstsein des Bürgers, Wählers oder Konsumenten fasziniert. Und faszinierend ist eben alles, was die Zivilisation mit einem Bann belegt. Mit anderen Worten: das Begehrte ist das Verbotene. Daraus hat das Celebrity Design die Konsequenz gezogen, das Böse und das Geschmacklose der Selbstdarstellung der Berühmtheiten dienstbar zu machen. Wer als Rapper weltberühmt werden möchte, sollte schon ein wenig kriminell sein. Celebrities faszinieren nicht durch ihre sachliche Kompetenz, sondern durch ihren Schockwert. Man könnte das die Skandaltechnik der Publicity nennen.
Madonnas Marketing-Gag führt ins Zentrum unseres Themas: Der Song mit der Dornenkrone ist schlicht Blasphemie, Gotteslästerung. Natürlich haben wir es mit einem kalkulierten Tabu-Bruch zu tun. Und auch hier läuft alles wie am Schnürchen: Der Vatikan protestiert aufs Schärfste, Madonna mimt die verkannte Unschuld - und lädt den Papst zu ihrem Konzert ein. Chapeau!
Unser Finanzminister Peer Steinbrück - ich betone ausdrücklich, dass unser Finanzminister Peer Steinbrück heißt, denn das wissen viele Wähler noch nicht - und genau darum geht es in seiner PR-Aktion. Peer Steinbrück also nutzt das Vakuum des politischen Sommerlochs, um mit dem Schockwert seiner Idee die eigene Bekanntheit zu steigern. Das ist für die Welt der Politik durchaus typisch. Es ist nämlich extrem unwahrscheinlich, dass sich ein normaler Mensch für Alltagspolitik interessiert. Deshalb erfinden die Politiker Probleme - und verkaufen dann sich selbst als deren Lösung. Ganz ähnlich also wie Unternehmer Bedürfnisse erfinden, die dann mit ihren Produkten auf dem Markt befriedigt werden können.
Bleibt noch der tätowierte, gepiercte, blauhaarige Junge. In einer Großstadt wie Berlin muss seine Aufmerksamkeitsstrategie scheitern. In der U-Bahn dreht sich kaum mehr jemand nach ihm um. Dergleichen ist man gewöhnt. Der Junge ist natürlich auf der Suche nach der eigenen Identität. Und von den prominenten Repräsentanten der publizitätsträchtigen Skandaltechnik hat er gelernt, dass es darauf ankommt, sich unmöglich zu machen. Doch nun erwartet ihn eben eine gewaltige Enttäuschung. Der Junge muss lernen, dass es heute fast unmöglich geworden ist, sich unmöglich zu machen. Fast alle seinesgleichen sind tätowiert, fast alle sind gepierct, fast alle haben Strähnchen oder bunt gefärbte Haare, fast alle tragen die übergroßen Hosen amerikanischer Gefängnisinsassen.
Man könnte das den Konformismus des Andersseins nennen: jeder will anders sein als der andere. Wir leben im Zeitalter des Außenseiters, und das bedeutet konkret: Wer "in" sein will, muss "far out" sein. Doch weil fast alle diese Regel des Kampfs um Aufmerksamkeit befolgen, wird rasch deutlich, dass man heute mit Provokationen nicht mehr provozieren kann.
Da kann es nicht überraschen, dass immer mehr Jugendliche den Schauplatz wechseln und den Kampf um Aufmerksamkeit nicht mehr auf den Straßen, sondern im Internet führen. Dort fallen die letzten Schamgrenzen der Selbstdarstellung weg. Menschen, die viel zu schüchtern wären, um in der realen Öffentlichkeit aufzutreten, nutzen den Schutz des Mediums für eine Art Exhibitionismus light. Unter der Rubrik Blogging werden Tagebücher ins Netz gestellt, und das ungeheuer erfolgreiche Portal MySpace ermuntert dazu, private Fotos und Videos weltweit zugänglich zu machen.
Wie sich das Bert Brecht einmal vom Radio erträumt hatte, so werden nun in der Tat die Empfänger zu Sendern; die Nutzer produzieren selbst die Inhalte des Mediums, das sie nutzen. Und diese Inhalte bestehen im Wesentlichen aus Ich, Ich und Ich. Doch offenbar genießen die Jugendlichen diesen kollektiven Exhibitionismus. Auch und gerade die Selbstentblößung ist ein klassischer Tabubruch. Doch auch er wird das Schicksal aller Skandaltechniken teilen. Irgendwann haben wir genug entblößte Iche gesehen, und der Online-Exhibitionismus provoziert nicht mehr. Dann kehrt das alte Problem mit neuer Schärfe wieder: Wie bekomme ich Aufmerksamkeit?
Norbert Bolz, Professor für Kommunikationstheorie, wurde 1953 in Ludwigshafen geboren. Er studierte in Mannheim, Heidelberg und Berlin Philosophie, Germanistik, Anglistik und Religionswissenschaften. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Ästhetik Adornos, in der Habilitationsschrift mit dem "Philosophischen Extremismus zwischen den Weltkriegen". Seit 1992 ist Bolz Professor für Kommunikationstheorie am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Universität Essen. Sein neuestes Buch trägt den Titel "Die Konformisten des Andersseins" (München 1999).
Madonnas Marketing-Gag führt ins Zentrum unseres Themas: Der Song mit der Dornenkrone ist schlicht Blasphemie, Gotteslästerung. Natürlich haben wir es mit einem kalkulierten Tabu-Bruch zu tun. Und auch hier läuft alles wie am Schnürchen: Der Vatikan protestiert aufs Schärfste, Madonna mimt die verkannte Unschuld - und lädt den Papst zu ihrem Konzert ein. Chapeau!
Unser Finanzminister Peer Steinbrück - ich betone ausdrücklich, dass unser Finanzminister Peer Steinbrück heißt, denn das wissen viele Wähler noch nicht - und genau darum geht es in seiner PR-Aktion. Peer Steinbrück also nutzt das Vakuum des politischen Sommerlochs, um mit dem Schockwert seiner Idee die eigene Bekanntheit zu steigern. Das ist für die Welt der Politik durchaus typisch. Es ist nämlich extrem unwahrscheinlich, dass sich ein normaler Mensch für Alltagspolitik interessiert. Deshalb erfinden die Politiker Probleme - und verkaufen dann sich selbst als deren Lösung. Ganz ähnlich also wie Unternehmer Bedürfnisse erfinden, die dann mit ihren Produkten auf dem Markt befriedigt werden können.
Bleibt noch der tätowierte, gepiercte, blauhaarige Junge. In einer Großstadt wie Berlin muss seine Aufmerksamkeitsstrategie scheitern. In der U-Bahn dreht sich kaum mehr jemand nach ihm um. Dergleichen ist man gewöhnt. Der Junge ist natürlich auf der Suche nach der eigenen Identität. Und von den prominenten Repräsentanten der publizitätsträchtigen Skandaltechnik hat er gelernt, dass es darauf ankommt, sich unmöglich zu machen. Doch nun erwartet ihn eben eine gewaltige Enttäuschung. Der Junge muss lernen, dass es heute fast unmöglich geworden ist, sich unmöglich zu machen. Fast alle seinesgleichen sind tätowiert, fast alle sind gepierct, fast alle haben Strähnchen oder bunt gefärbte Haare, fast alle tragen die übergroßen Hosen amerikanischer Gefängnisinsassen.
Man könnte das den Konformismus des Andersseins nennen: jeder will anders sein als der andere. Wir leben im Zeitalter des Außenseiters, und das bedeutet konkret: Wer "in" sein will, muss "far out" sein. Doch weil fast alle diese Regel des Kampfs um Aufmerksamkeit befolgen, wird rasch deutlich, dass man heute mit Provokationen nicht mehr provozieren kann.
Da kann es nicht überraschen, dass immer mehr Jugendliche den Schauplatz wechseln und den Kampf um Aufmerksamkeit nicht mehr auf den Straßen, sondern im Internet führen. Dort fallen die letzten Schamgrenzen der Selbstdarstellung weg. Menschen, die viel zu schüchtern wären, um in der realen Öffentlichkeit aufzutreten, nutzen den Schutz des Mediums für eine Art Exhibitionismus light. Unter der Rubrik Blogging werden Tagebücher ins Netz gestellt, und das ungeheuer erfolgreiche Portal MySpace ermuntert dazu, private Fotos und Videos weltweit zugänglich zu machen.
Wie sich das Bert Brecht einmal vom Radio erträumt hatte, so werden nun in der Tat die Empfänger zu Sendern; die Nutzer produzieren selbst die Inhalte des Mediums, das sie nutzen. Und diese Inhalte bestehen im Wesentlichen aus Ich, Ich und Ich. Doch offenbar genießen die Jugendlichen diesen kollektiven Exhibitionismus. Auch und gerade die Selbstentblößung ist ein klassischer Tabubruch. Doch auch er wird das Schicksal aller Skandaltechniken teilen. Irgendwann haben wir genug entblößte Iche gesehen, und der Online-Exhibitionismus provoziert nicht mehr. Dann kehrt das alte Problem mit neuer Schärfe wieder: Wie bekomme ich Aufmerksamkeit?
Norbert Bolz, Professor für Kommunikationstheorie, wurde 1953 in Ludwigshafen geboren. Er studierte in Mannheim, Heidelberg und Berlin Philosophie, Germanistik, Anglistik und Religionswissenschaften. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Ästhetik Adornos, in der Habilitationsschrift mit dem "Philosophischen Extremismus zwischen den Weltkriegen". Seit 1992 ist Bolz Professor für Kommunikationstheorie am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Universität Essen. Sein neuestes Buch trägt den Titel "Die Konformisten des Andersseins" (München 1999).