Kaffeehausliterat per excellence
Peter Altenberg hat Wien und seine Menschen kennen gelernt - in Kaffeehäusern, Ateliers, Salons und Parkanlagen. "Wie ich es sehe" ist eine Sammlung mit Prosagedichten aus dem Fin de siècle in der Stadt.
Diese Gedankenstriche! Zwei müssen es bei Peter Altenberg schon sein, in der Regel sind es drei. Auf manchen Seiten drängen sich fünf, sechs solcher Dreiergruppen, ergänzt um Zeilen, die nur aus Punkten bestehen, sowie um gesperrt, also mit großem Abstand gesetzte Worte - jedenfalls im Original, in dieser Manesse-Ausgabe sind die gesperrten Worte leider nur kursiv gesetzt, weil diese Hervorhebung auf den kleinen Buchseiten, so erklärt es der Herausgeber Burkhard Spinnen, "zu einer partiellen Auflösung des Schriftbildes geführt" hätten.
Eben darum aber geht es: Um die Auflösung der Schrift, dieses Notbehelfs, um die Öffnung des Textes, seine Durchlöcherung. Die Leeren und Lücken erweitern den Text in Richtung auf das Ungesagte, sie sind Stellvertreter und Startbahn einer Sehnsucht, die zwar ein Ziel kennt, oft sogar deren viele, aber kein Ende. Ersehnt wird bei Peter Altenberg über alle Maßen.
"Wie ich es sehe", die erste Buchveröffentlichung des Kaffeehausliteraten per excellence aus dem Jahr 1896, ist ein nicht nur an Interpunktionen reiches Buch. Das Inhaltsverzeichnis in der neuen Manesse-Ausgabe umfasst mehr als sechs Seiten. Denn die Zahl der Skizzen ist groß, sie sind nämlich oft nur eine halbe bis zwei Seiten lang, die längste umfasst neun Seiten. Peter Altenberg hat dem Band ein Zitat aus Huysmans "Gegen den Strich", dem zentralen Werk der Décadence, über das Prosagedicht und den Ideal-Roman "in ein paar konzentrierten Sätzen" vorangestellt. So sollen seine Skizzen sein: impressionistisch den Augenblick, die Stimmung und die Atmosphäre in einer kleinen Gruppe von Menschen einfangen, diese die Blicke auf die Natur werfen und einige Sätze sprechen lassen und so die Emotionen zwischen ihnen zu Tage treten lassen – in der Regel Liebes- oder Hassgefühle. Die Skizzen sind Momentaufnahmen aus einer Zeit, als man Fotografien noch lange belichten musste.
Zuweilen wirken sie allerdings wie allzu üppig arrangierte Gesellschaftsstillleben. Wenigstens erscheint es dem heutigen Leser so, der nach 100 Seiten ununterbrochener Lektüre heftigen Überdruss verspüren kann angesichts all der Kindfrauverehrung, der sich Altenberg ungehemmt und in Übereinstimmmung mit der Zeit hingibt, angesichts all der stillen Frauen mit ihrem elegischen "Oh", angesichts all der Müdigkeit, all der Träume und Träumer, angesichts all der in Licht badenden oder langsam erdunkelnden Natur. Unfreiwillig komische Stellen gibt es auch. Einmal erzählt ein "Revolutionär" einer Mutter und ihrer Tochter von einem Auerhahn, der immer "äst und äst", aber an einem "frischen März-Morgen" zum Dichter wird, "auf dem Fichten-Aste bäumt (..) und singt" und das Auer-Mädchen lockt, "bethört": "Denn er bedarf er Ihrer!" Ach ja.
Aber der Revolutionär schweigt noch lange nicht. Er fährt fort, wir Menschen seien keine Auerhähne und würden nicht für Minuten zu inneren Dichtern. Sondern: "Wir sind es! Ein Leben lang! (…) Nüchtern Berauschte sind wir!" Die Mutter ist verlegen, möchte die Worte gern weniger realistisch als rhetorisch verstanden wissen, blickt auf ihr Leben zurück "wie ein alter trauriger und unbehilflicher (sic!) Vogel" und wagt nicht, ihre Tochter anzusehen.
Aber die "sass da wie gefeit!", und der Revolutionär sagt zu ihr: "Liebste!" Ende, Aus, und alle Pein und Peinlichkeit des Gefühlsüberflusses ist vergessen, weil mit einem Mal alle Personen vor unserem Auge stehen. Altenberg hat gewonnen, und dieses Kunststück gelingt ihm meist.
Auch zu seiner Zeit hat Altenberg viele verstört, nicht zuletzt, weil er literarisch einfing, was nicht ausgesprochen werden sollte oder durfte. Richard Engländer, wie sein bürgerlicher Name lautete, litt an Neurasthenie. Sie machte den 1859 geborenen Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien arbeitsunfähig. Ab 1881 lebte er, nachdem Studien und eine Buchhändlerlehre abgebrochen sind, wieder bei den Eltern, dann in einem kleinen Zimmer. Er schreibt, nicht ohne Erfolg in Wien, und dann vermittelt Karl Kraus, vielleicht auch Hermann Bahr das Manuskript von "Wie ich es sehe" an den Verlag der Moderne, an S. Fischer in Berlin – 1896 ist Peter Altenberg geboren.
Mit seinen Feuilletons trifft der bereits 37-Jährige den Nerv der Zeit, schreibt Burkhard Spinnen im Nachwort, es ist die Zeit der Nervenkunst. Altenberg lebt als Kaffeehausoriginal seine Texte, er rezitiert sie gestenreich, publiziert reichlich, schnorrt hemmungslos und lässt sich trotzdem weiter von den Eltern fördern. Nach 1910 verschlechtert sich sein Zustand, auch die Folgen von Alkohol- und Schlafmittelmissbrauch machen sich bemerkbar. 1919 stirbt er und ist bis heute unvergessen. Seine Texte müssen allerdings in kleinen Dosen genossen werden, dann entfalten sie ihren manchmal überzuckerten, immer überhitzten Reiz – dank der in ihnen bewahrten Sehnsucht nach einem sich beständig entziehenden Leben.
Rezensiert von Jörg Plath
Peter Altenberg:
Wie ich es sehe.
Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und mit einem Nachwort von Burkhard Spinnen. Manesse Verlag Zürich 2007,
460 Seiten, 22,90 Euro.
Eben darum aber geht es: Um die Auflösung der Schrift, dieses Notbehelfs, um die Öffnung des Textes, seine Durchlöcherung. Die Leeren und Lücken erweitern den Text in Richtung auf das Ungesagte, sie sind Stellvertreter und Startbahn einer Sehnsucht, die zwar ein Ziel kennt, oft sogar deren viele, aber kein Ende. Ersehnt wird bei Peter Altenberg über alle Maßen.
"Wie ich es sehe", die erste Buchveröffentlichung des Kaffeehausliteraten per excellence aus dem Jahr 1896, ist ein nicht nur an Interpunktionen reiches Buch. Das Inhaltsverzeichnis in der neuen Manesse-Ausgabe umfasst mehr als sechs Seiten. Denn die Zahl der Skizzen ist groß, sie sind nämlich oft nur eine halbe bis zwei Seiten lang, die längste umfasst neun Seiten. Peter Altenberg hat dem Band ein Zitat aus Huysmans "Gegen den Strich", dem zentralen Werk der Décadence, über das Prosagedicht und den Ideal-Roman "in ein paar konzentrierten Sätzen" vorangestellt. So sollen seine Skizzen sein: impressionistisch den Augenblick, die Stimmung und die Atmosphäre in einer kleinen Gruppe von Menschen einfangen, diese die Blicke auf die Natur werfen und einige Sätze sprechen lassen und so die Emotionen zwischen ihnen zu Tage treten lassen – in der Regel Liebes- oder Hassgefühle. Die Skizzen sind Momentaufnahmen aus einer Zeit, als man Fotografien noch lange belichten musste.
Zuweilen wirken sie allerdings wie allzu üppig arrangierte Gesellschaftsstillleben. Wenigstens erscheint es dem heutigen Leser so, der nach 100 Seiten ununterbrochener Lektüre heftigen Überdruss verspüren kann angesichts all der Kindfrauverehrung, der sich Altenberg ungehemmt und in Übereinstimmmung mit der Zeit hingibt, angesichts all der stillen Frauen mit ihrem elegischen "Oh", angesichts all der Müdigkeit, all der Träume und Träumer, angesichts all der in Licht badenden oder langsam erdunkelnden Natur. Unfreiwillig komische Stellen gibt es auch. Einmal erzählt ein "Revolutionär" einer Mutter und ihrer Tochter von einem Auerhahn, der immer "äst und äst", aber an einem "frischen März-Morgen" zum Dichter wird, "auf dem Fichten-Aste bäumt (..) und singt" und das Auer-Mädchen lockt, "bethört": "Denn er bedarf er Ihrer!" Ach ja.
Aber der Revolutionär schweigt noch lange nicht. Er fährt fort, wir Menschen seien keine Auerhähne und würden nicht für Minuten zu inneren Dichtern. Sondern: "Wir sind es! Ein Leben lang! (…) Nüchtern Berauschte sind wir!" Die Mutter ist verlegen, möchte die Worte gern weniger realistisch als rhetorisch verstanden wissen, blickt auf ihr Leben zurück "wie ein alter trauriger und unbehilflicher (sic!) Vogel" und wagt nicht, ihre Tochter anzusehen.
Aber die "sass da wie gefeit!", und der Revolutionär sagt zu ihr: "Liebste!" Ende, Aus, und alle Pein und Peinlichkeit des Gefühlsüberflusses ist vergessen, weil mit einem Mal alle Personen vor unserem Auge stehen. Altenberg hat gewonnen, und dieses Kunststück gelingt ihm meist.
Auch zu seiner Zeit hat Altenberg viele verstört, nicht zuletzt, weil er literarisch einfing, was nicht ausgesprochen werden sollte oder durfte. Richard Engländer, wie sein bürgerlicher Name lautete, litt an Neurasthenie. Sie machte den 1859 geborenen Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien arbeitsunfähig. Ab 1881 lebte er, nachdem Studien und eine Buchhändlerlehre abgebrochen sind, wieder bei den Eltern, dann in einem kleinen Zimmer. Er schreibt, nicht ohne Erfolg in Wien, und dann vermittelt Karl Kraus, vielleicht auch Hermann Bahr das Manuskript von "Wie ich es sehe" an den Verlag der Moderne, an S. Fischer in Berlin – 1896 ist Peter Altenberg geboren.
Mit seinen Feuilletons trifft der bereits 37-Jährige den Nerv der Zeit, schreibt Burkhard Spinnen im Nachwort, es ist die Zeit der Nervenkunst. Altenberg lebt als Kaffeehausoriginal seine Texte, er rezitiert sie gestenreich, publiziert reichlich, schnorrt hemmungslos und lässt sich trotzdem weiter von den Eltern fördern. Nach 1910 verschlechtert sich sein Zustand, auch die Folgen von Alkohol- und Schlafmittelmissbrauch machen sich bemerkbar. 1919 stirbt er und ist bis heute unvergessen. Seine Texte müssen allerdings in kleinen Dosen genossen werden, dann entfalten sie ihren manchmal überzuckerten, immer überhitzten Reiz – dank der in ihnen bewahrten Sehnsucht nach einem sich beständig entziehenden Leben.
Rezensiert von Jörg Plath
Peter Altenberg:
Wie ich es sehe.
Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und mit einem Nachwort von Burkhard Spinnen. Manesse Verlag Zürich 2007,
460 Seiten, 22,90 Euro.