Kämpferisch und sanft

Von Olga Hochweis · 12.03.2009
Noémi Kiss gilt als die Stimme einer neuen literarischen Generation in Ungarn - kompromisslos und direkt greift sie tabuisierte Themen rund um Sexualität und Geschlechterbeziehungen auf. Auf der Leipziger Buchmesse liest sie mehrfach aus ihrem Debütroman "Was geschah, während wir schliefen".
Kiss: "Unsere ganze Literatur ist von Männern besetzt. Für mich war es eine unheimlich starke Erfahrung, als ich studiert habe, dass wir nur männliche Texte gelesen haben."

"Zivilcourage und Engagement, Gleichberechtigung von Frauen - das ist für mich ein wichtiges Thema. Aber ich bin Autorin, keine Politikerin, hab keine Rhetorik gelernt, will nicht überzeugen mit Gesprächen.. Aber ich kann Texte schreiben und so auf meine Leser und Leserinnen wirken."

Noemi Kiss klingt kämpferisch und dabei gleichzeitig ganz sanft. Es ist eine Mischung aus Selbstbewusstsein und Zurückhaltung, aus Robustheit und Weiblichkeit, die sich im Äußeren der 35-Jährigen spiegelt. Die kurzen, asymmetrisch geschnittenen Haare fallen frech in das weiche, ebenmäßige Gesicht. Mandelförmige braune Augen ziehen das Gegenüber eindringlich in ihren Bann.

Noemi Kiss ist Literaturdozentin. Außerdem hat sie als Redakteurin und Publizistin vor allem Literatur von Frauen thematisiert - und Noemi Kiss schreibt selbst literarische Texte. Wie ein Vorbote für diese dreifache Leidenschaft klingt der Name des Ortes, an dem sie 1974 geboren wurde:

Kiss: "Das ist Gödöllö, eine kleine Stadt in der Nähe von Budapest und ich bin sehr stolz drauf, weil das taucht bei Ingeborg Bachmann auf, in "Malina". Ist keine unbekannte Stadt in der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen."

Die Liebe zur Literatur wurde Noemi Kiss dennoch nicht in die Wiege gelegt. Der Vater war Bauingenieur, die Mutter Sportlehrerin. Als aktive Leistungsschwimmerin hat Noemi ihre Disziplin und Durchsetzungskraft über Jahre auf "sportliche" Art und Weise trainiert. Und nicht nur das hat sie geprägt:

Kiss: "Was ich von zu Hause mitgenommen habe: Meine Familie war sehr stark gegen das Regime eingestellt, Anti-Kommunisten. Besonders meine Großmutter, die hat jede Woche auf die Kommunisten geschimpft – und damit habe ich auch diese kritische Haltung gelernt ..."

Relativ spät - mit 29 - legte Noemi Kiss ihr literarisches Debüt vor. Zu diesem Zeitpunkt war das Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie schon absolviert. Es folgte die Doktorarbeit über Paul Celan, an der Noemi Kiss u. a. in Konstanz arbeitete. Und was noch wichtiger wurde: die persönlichen Erfahrungen und Begegnungen unterwegs auf Reisen - vor allem durch Osteuropa und den Balkan.

Kiss: ""Diese Länder, diese existentiellen Fragen, sowohl in Polen, als in Serbien, in der Türkei – das hat mich beeindruckt. Ich bin glücklich damit, weil unsere ungarische Literatur ist eine eingeschlossene Literatur. Die Sprache ist eingeschlossen, und die Autoren sind immer mit sich beschäftigt. Ich wollte also ein Buch schreiben, wo sich ungarische Leute irgendwie vermischen mit Europa - und das war für mich ein wichtiger Grund, dieses Buch zu schreiben."

Dieses Buch, eine Sammlung von Erzählungen mit dem Originaltitel "Trans" ist im Februar in deutscher Übersetzung erschienen. Der Titel "Was geschah, während wir schliefen" verschleiert den radikalen Inhalt– es geht um existentielle Grenzerfahrungen, um Sexualität, Rollenwechsel und Brüche.

Teilweise abstoßend obszön, dann wieder poetisch schwebend, als würde man sich zwischen Tag und Nacht, zwischen Wirklichkeit und Traum bewegen. Und dann ist das Buch wieder sehr direkt – zum Beispiel, wenn es um die körperliche Liebe zwischen Frauen geht.

Kiss: "Es ist natürlich ein Tabu. Deutschland ist da viel weiter. Aber ich hab das nicht als rein lesbisches Thema genommen, ich wollte vor allem die Beziehungen zwischen zwei Figuren darstellen - und wenn das dann gerade zwei Frauen sind, dann muß das eben so sein. Diese Offenheit ist ungewöhnlich, früher hat man damit nur gespielt. Aber ich wollte direkt über das Thema schreiben."

Was sich nach Großstadt-Prosa anhört, nach Literatur für Metropolenbewohner in Berlin oder Budapest, das hat für Noemi Kiss aber auch eine ganz andere Seite:

Kiss: "Ich versuche, diese urbanen Themen auch im Land zu finden. Ich würde mich auch nicht als städtische Autorin bezeichnen - und ich fühle mich auch nicht unbedingt wohl in der Stadt, ich lebe zwar in Budapest, aber im Außenbezirk, ich lebe eher zurückhaltend, versuche, meine eigenen Orte zu finden, bin viel auf dem Lande, ich unterrichte in Miskolc, fahre dort jede Woche hin. Ich reise sehr gern."

Ein Ergebnis der letzten großen Reise durch die Bukowina und Transsylvanien ist das neue Buch von Noemi Kiss. Soeben ist es in Ungarn erschienen. Unterwegs zu sein, so Kiss, bedeute, Figuren und Erfahrungen für weitere Prosatexte zu sammeln: Die Liebe zur Literatur begleitet Noemi Kiss überall hin.