Kämpfer für humanes Wohnen

Von Carsten Probst · 10.04.2006
Der brasilianische Architekt Paulo Mendes Da Rocha erhält den diesjährigen Pritzker-Preis für Baukunst. Der 78-jährige Da Rocha zählt neben Oscar Niemeyer zu den Star-Architekten Brasiliens. Obwohl er überwiegend in seiner Heimat agierte, fand er auch international Anerkennung. Für Da Rocha sprach nach Meinung der Jury, dass er nie in Einzelbauten denke, sondern stets das städtische Umfeld mit einbeziehe.
In seiner uferlosen und mittlerweile sprichwörtlichen Betonwüste beherbergt Brasiliens Megalopolis Sao Paulo durchaus noch einige Gebäude, die eine Anekdote wert sind. Die Estacao do Luz, der "Bahnhof des Lichts" im nördlichen Zentrum ist eine alte viktorianische Eisenbahnstation, die Anfang des 20. Jahrhunderts eigens von England nach Sao Paolo verschifft wurde, um britischen Firmen in dem von armen Landarbeitern überrannten Industriemoloch Aufträge zu sichern und nebenbei ein wenig Baukultur zu vermitteln, mit der es bei den Paulistas schon damals nicht sehr weit her war.

Direkt gegenüber befindet sich seit einigen Jahren ein schönes Beispiel für die neueren baulichen Bemühungen der Stadt, den eigenen Ruf aufzubessern. Die "Pinacoteca do Estado", das Museum zu Kunst und Geschichte Sao Paulos ist ein Stadtpalast aus dem 19. Jahrhundert, dessen Inneres Paolo Mendes da Rocha kurzerhand entkernt hat, um großzügigen Platz für ein modernes Museum hinter alter Fassade zu schaffen.

Drinnen findet sich aber nicht die übliche geleckt restaurierte Atmosphäre, die solchen Vorhaben üblicherweise Glanz geben soll, sondern die kahlen, roten Ziegelwände des Rohbaus sowie Innenhöfe, durch deren fast ungeschlachte Rauheit Mendes da Rocha dunkle Verstrebungen getrieben hat, die auf den ersten Blick so wirken, als wolle er der empfindlichen Statik des Gemäuers den Rest geben.

Doch der zweite Blick lohnt und erbaut den Betrachter mit einem wahrhaft poetischen Raumgefühl, das allein den Aufenthalt in dem Haus zu einer Erholung vom mühsamen Straßenalltag der 13 Millionen Stadt macht. Auch in europäischen Museen müsste man solche inspirierten Raumlösungen länger suchen.

In Europa hat Mendes da Rocha nie gebaut. Er baut im Wesentlichen, wo er lebt: für einen Pritzker-Preisträger auch nicht gerade üblich. Ein Großteil seines architektonischen Werdegangs lässt sich, wenngleich mit einigem Zeitaufwand, im Stadtbild Sao Paulos nachvollziehen.

Zwei Bauten zeugen von den wesentlichen Einflüssen, unter denen der 1928 geborene Brasilianer seine Karriere begonnen hat. Die Paulistaner Architektenkammer inmitten eines großen Parks gelegen, gleicht ohne Übertreibung einer fliegenden Untertasse, die man auf einige niedrige Betonstelzen aufgebockt hat. Unübersehbar ist hier Oskar Niemeyer das prägende Vorbild gewesen, der in Sao Paulo ja ebenfalls eine Vielzahl von Spuren gesetzt hat.

Das zweite Beispiel ist das Wohnhaus des Architekten, das mit seinen massiven, rohen Betonverblendungen stark an Joao Artigas und Le Corbusier erinnert. Rolf Fehlbaum, der deutsche unter den Juroren des Pritzker-Preises, hebt hervor, dass Mendes da Rocha niemals in Einzelbauten denkt, sondern das Stadtumfeld wir einen skulpturalen Rahmen miteinbezieht und zu bespielen trachtet. Ihm gehe es um Behausungen für Menschen.

Dieser Hinweis deutet zugleich auf die Gründe für die Jury-Entscheidung für den Brasilianer. Mendes da Rocha arbeitet Zeit seines Architektenlebens an einem betont humanen Begriff von städtischer Innovation, jenseits aller importierten Besserwissereien, die gerade der Stadt Sao Paulo in den letzten hundert Jahren baulich und sozial zum Abstieg verholfen haben.

Von sich selbst sagt der heute 77-Jährige, dass er sich die Trennung von Physik und Metaphysik beim Bauen nicht vorstellen könne. Was in europäischen Ohren befremdlich schwärmerisch klingen mag, kann sich in den globalen Ballungsräumen vom Typ Sao Paulos jedoch als letzte Rettung vor der endgültigen Diktatur der Tristesse erweisen.