Kälte in Religionen und Fantasy

Das Eis als Hort des Bösen

11:46 Minuten
In einer düsteren Schneelandschaft steht der Thron aus der Fantasy-Serie Game of Thrones, daneben steckt ein Schwert im Schnee.
In der Fantasy-Serie Game of Thrones kommt das Böse aus der Kälte, ganz anders als in der Bibel. © imago images / robertharding
Thorsten Dietz im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 01.01.2023
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In der Fantasy-Serie Game of Thrones lebt das absolute Böse im ewigen Eis. Das ist typisch für die europäische Bildsprache. Sie entstand, indem man die Wüstenbilder der Bibel den nordischen Temperaturen anpasste, sagt Theologe Thorsten Dietz.
Kirsten Dietrich: Welche Rolle spielt die Kälte, welche Rolle spielen Symbole wie Eis und Schnee in den Religionen? „Winter is coming“ – wenn Sie auch nur ein bisschen mit der Fantasy-Serie Game of Thrones vertraut sind, können Sie ahnen, womit sich mein Gesprächspartner Thorsten Dietz unter anderem beschäftigt.
Dietz ist evangelischer Theologe, er lehrt als systematischer Theologe theologische Grundfragen, unter anderem an der Universität Marburg, und er ist Fantasy-Fan. In dieser Doppelfunktion hat er sich mit Game of Thrones beschäftigt. „Was rettet uns, wenn der Winter naht?“, so der Untertitel seines Buches über die Religionen der Game-of-Thrones-Welt Westeros.
In Game of Thrones sind Religionen, Götter und Glaubenskämpfe ganz bewusst Teil der Handlung. Das wollte der Schöpfer George R. R. Martin so. Er bezeichnet sich zwar als vom Glauben abgefallenen Katholiken, aber er wollte eben eine realistische Welt entwerfen – auch, wenn das für Fantasy mit Drachen und Magie ein bisschen widersprüchlich klingt. Aber Game of Thrones fühlt sich ja tatsächlich echt an, und zu einer realistischen Welt gehört eben auch Religion. Was speziell an Game of Thrones ist, ist die besondere Rolle von Kälte und Eis darin. Denn die liegen im Norden: das Landes Westeros, abgesperrt durch eine gigantische Mauer aus Eis und Stein. Was liegt hinter dieser Mauer?

Das ewige Eis entspricht dem Höllenfeuer

Thorsten Dietz: Da liegt erst mal das große Unbekannte. Man weiß nichts Genaues. Es ist unheimlich, gefährlich. Vielleicht sind da Monster. Manche sagen auch: Da ist nichts mehr. Es stellt sich im Laufe der Serie und des Roman-Zyklus heraus: Da droht große Gefahr. Der Nachtkönig, eine Armee von Zombies, Wesen voller Kälte, Eis und Schnee bedrohen den ganzen Kontinent. Sie drohen, einen ewigen Winter hervorzubringen. Das ist die große, reale Angst, die die Menschen in Westeros packt.
Dietrich: Ist die Kälte mit einer eigenen Religion besetzt, entwirft G. R. R. Martin da eine Religion des Eises?
Dietz: Es gibt keine Religion des Eises. Was es gibt, ist eine Religion des Feuers und des Lichts, die sich als Gegenmacht versteht. Der Herr des Lichts, seine Leute sind die eifrigsten Kämpfer gegen Kälte und Eis. Wenn man so will, ist das ewige Eis das, was im Christentum oder Islam das Höllenfeuer ist. Diese Religion versucht, mit der Macht des Lichts gegen die Kälte und gegen das Eis anzukämpfen.

Im eisigen Norden wohnt das Böse

Dietrich: Das heißt aber, diese kalten Lande oder der Norden insgesamt ist eine religiöse Leere? Oder gibt es da auch Glauben?
Dietz: Man könnte sagen: Es ist der Teufel dieser Welt. Es ist das Böse. Es ist hoch religiös besetzt. Im Norden gibt es die alten Götter. Die alten Götter, die aber an Kraft, an Macht verlieren. Am Ende stellen sich dann die alten Götter, der Herr des Lichts, die Gläubigen der Gefahr des Eises und der Kälte entgegen.
Der Theologe Thorsten Dietz - lockige blonde Haare, dunkles Hemd - schaut lächelnd in die Kamera.
Thorsten Dietz ist Theologe und Fantasy-Fan. Nur folgerichtig, dass er ein Buch über Religion in Game of Thrones verfasst hat.© Foto Beyeler
Dietrich: Das heißt, es gibt religiös gesehen eine Abstufung des Glaubens nach Kältezonen: Von einem neuen Glauben, der in den warmen Regionen des Südens zu Hause ist, zu einem alten, absterbenden Glauben im Norden, und dann hinter diesem Norden liegt das ewige Eis – und da ist das Böse?
Dietz: Da ist das Böse. Da ist Mordor, wie das im Herrn der Ringe heißt. Da sind die feindlichen, teuflischen Mächte der Welt zu Hause.

In Bibel und Koran ist das Böse immer heiß

Dietrich: Ist das eine allgemeingültige Besetzung, dass Kälte immer Gefahr, Lebensfeindlichkeit, Böses bedeutet?
Dietz: Das Spannende ist: Die drei monotheistischen Religionen Judentum, Islam und Christentum stammen aus einer heißen Welt. Man weiß schon, was nachts frieren bedeutet. Aber man ist mit dem Schwitzen vertrauter als mit dem Zittern. Die große Gefahr ist die Hitze, die glühende Sonne: kein Regen mehr, Verdursten.
Darum sind in diesen Religionen die Angstbilder immer besetzt mit Feuer, mit Vernichtung durch ewige Hitze. Das ist interessant, dass das Christentum Angstbilder mitgebracht hat, die in nördlichen Regionen erst mal gar nicht so selbstverständlich waren. Dort ist Feuer eine Kraft des Lebens.

Kühle ist in der Bibel eine Wohltat

Dietrich: In der Bibel ist ab und an von Schnee die Rede, und generell eher von Kühle, nicht von Kälte.
Dietz: Normalerweise ist in biblischen Texten die Kühle etwas Wohltuendes. Das Gebet aus Psalm 36 „Du birgst mich unter dem Schatten deiner Flügel“ – das leuchtet wahnsinnig ein, wenn es heiß ist, und man so dankbar ist, wenn man Schatten findet. Gott spendet Schatten gegen die Hitze. Das ist eigentlich das Grundbild. Natürlich friert man nachts, aber dass man richtig erfriert, ist eher unbekannt.
Dietrich: Es gibt höchstens den Hagel als eine der Plagen, die Mose gegen den Pharao in Ägypten heraufbeschwört, um die Israeliten zu befreien.
Dietz: Genau. Man weiß es, aber das Bildmaterial ist eigentlich anders geprägt. Das Feuer ist das Gefährliche und die Kühle ist eigentlich eine Wohltat.

Sankt Martin übersetzt die Hitze ins kalte Europa

Dietrich: Es gibt die christliche Geschichte von Sankt Martin, bei der die Kälte im Mittelpunkt steht. Sankt Martin, der sprichwörtlich gute Mann, gibt einem frierenden Bettler seinen halben Mantel. Das ist dann ein Zeichen dafür, dass der heiße Wüstenglaube sich ins kalte Europa verlagert hat?
Dietz: Wenn man das so möchte, genau. Religionen sind produktiv. Man kann nicht mit den Bildern und Erzählungen einer bestimmten Zeit und Kultur überall und an jedem Ort fromm sein. Man muss manchmal die Bilder weiterentwickeln. Schutz zu bieten vor Kälte, das ist natürlich irgendwo ab Mitteleuropa viel wichtiger, als Schatten zu finden in der Hitze. Da ist das Christentum richtig bilderproduktiv geworden. Da wurde im Laufe der Geschichte viel Neues erfunden.

Narnia erstarrt im ewigen Winter

Dietrich: Das hat Spuren hinterlassen bis in die Fantasy, um beim Thema zu bleiben: zum Beispiel in den Narnia-Geschichten von C. S. Lewis, der selber deutlich christlich geprägt war. Da liegt zu Beginn das magische Land Narnia unter dem Zauber der weißen Hexe erstarrt in ewigem Winter.
Dietz: Das ist eine wunderbare Geschichte, die zeigt, wie mythen- und bilderproduktiv das nördliche Christentum werden konnte. Hier ist es umbesetzt: Hier ist, wie schon die Schneekönigin bei Hans Christian Andersen, das Böse die Kälte, das Eis, der ewige Schnee. Das ist eigentlich die Gefahr und zeigt: Christentum ist immer im Wandel. Es braucht manchmal neue Bilder. Wüstengeschichten leuchten einfach wenig ein, wenn man von Wäldern, Flüssen und Seen umgeben ist, und C.S. Lewis, aber auch viele Geschichten seit der Romantik zeigen: Das Christentum konnte sich gut umstellen auf das Böse als Eis, Kälte und Schnee.

Vom Herz aus Stein zum kalten Herz

Dietrich: Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen zielt ja wirklich aufs Herz. Da gibt es das Bild des kalten Herzens.
Dietz: Das ist eine ganz spannende Geschichte, finde ich. Das ist seit der Romantik ein Schlüsselmotiv. Das innere Erkalten wird zum Sinnbild des Bösen. Menschen bekommen ein kaltes Herz, wie Kai, der einen Splitter ins Herz bekommt von der Schneekönigin. Sein Herz erkaltet. Das ist gefährlich. Das ist auch richtig böse.
Das gibt es so nicht in der Bibel, die Kälte als Bild des Teufels oder des Bösen. Es gibt aber etwas anderes, beim Propheten Hesekiel. Der warnt vor einem steinernen Herz (Hes 36,26). Das steinerne, harte Herz, das ist das verschlossene, lieblose Herz. Er sagt: Die Menschen brauchen ein fleischernes Herz, ein warmes Herz. In der christlichen Romantik ist dieses Motiv aufgegriffen und umbesetzt worden. Aus dem harten, steinernen Herzen wird das kalte Herz.

Weihnachten: Volksglauben aus dem Norden

Dietrich: Vor einer Woche hat die christliche Welt Weihnachten gefeiert. Ist Weihnachten so etwas wie die Gegenmacht gegen die Eiseskälte oder die freundliche Version von Kälte? In den Narnia-Romanen klagt der Faun Mr. Tumnus, es sei immer Winter und niemals Weihnachten.
Dietz: Am Weihnachtsfest ist ja wenig bis nichts biblisch. Das ist Volksglaube mit seinen ganzen Motiven, die wir so daraus entwickelt haben. Der europäische Weihnachtsvolksglaube zeichnet Winter als etwas Gefährliches, Bedrohliches. Man sieht vor dem geistigen Auge Maria und Josef durch Eis und Schnee zittern. Sie sind immer dick angezogen in den Krippenspielen, und Gott bringt Licht in die Welt.
Das Jesuskind steht für Licht und Wärme. Darum gibt es ganz viele Kerzen, damit Licht und Wärme stärker sind als Eis und Schnee. Das verbinden wir mit der Weihnachtsbildsprache. Aber das ist natürlich das moderne, europäische Weihnachten. Das hat mit dem ursprünglichen nicht viel zu tun. Nur die Grundidee: Das Licht der Welt ist erschienen.
Dietrich: Was ich interessant finde: Eine heiße Wüste ist eigentlich genauso herausfordernd für Menschen wie ewiges Eis. Trotzdem sind Wüsten in religiöser Bildsprache und Tradition immer inspirierende Orte gewesen. Aber eisige Orte gelten einzig als menschenfeindliche Ödnis. Warum dann doch dieser Unterschied zwischen Eis und Feuer?
Dietz: Ich glaube, das liegt daran, dass das Feuer in der Bibel sehr ambivalent ist, auch die Wärme und die Hitze. Lebensfeindlich und bedrohlich, klar, aber Feuer ist zugleich auch die Macht des Lebens. Da, wo sich entscheidet, was im Leben trägt. Darum kann man mit dem Feuer in der Bibel immer auch so ein bisschen spielen. Es ist gefährlich und es ist rettend. Mit der Wüste ist es ähnlich. Sie ist der Ort, wo man leicht zu Tode kommen kann. Sie ist aber auch der Ort der Besinnung, der Reinigung und der Umkehr. Auch das zieht sich durch die ganze Bibel.

Kälte lehrt Besinnung auf das Wesentliche

Dietrich: Wenn ich überlege, ob und was es für positive religiöse Bilder zu Kälte gibt, komme ich wieder zu Game of Thrones, genauer zum Leitspruch der Familie Stark: „Wenn der Schnee fällt und der eisige Wind bläst, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt.“ Also das Zusammenrücken angesichts der Kälte, der neue Fokus auf die Familie, wäre das eine Botschaft, die man auch von Kälte mitnehmen kann?
Dietz: Absolut, und da funktioniert Kälte wie Wüste: Die Kälte lehrt dann, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Was trägt, wenn der Winter kommt? Das ist eine ganz gute Frage, die können alle Menschen gut vertragen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Thorsten Dietz: "Gott in Game of Thrones. Was rettet uns, wenn der Winter naht? Überraschende Erkenntnisse über die Religionen von Westeros"
Adeo Verlag, Aßlar 2020
224 Seiten, 10 Euro

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