Kabul und die vergessene Provinz
Afghanistans Hauptstadt hat zwei Gesichter: Straßenzüge voller Ruinen mit Einschusslöchern zeugen von einem Krieg, der längst nicht besiegt ist. Daneben der Wiederaufbau, die Hochzeitshotels und die Glasfassaden der Shoppingzentren. Die Provinz Daikundi südwestlich von Kabul gilt dagegen als die vergessene Region Afghanistans. Hilfsorganisationen verirren sich nur selten dorthin. Dabei schüchtern Milizen und heimische Warlords die Bevölkerung in Daikundi ein.
Rockradio Kabul ist eines der neuesten Angebote auf Afghanistans UKW-Frequenz. Der Mann am Mikrofon nennt sich AJ, nach den End-Initialen seines Vornamens Turaj. Er klingt wie ein US-Amerikaner, tatsächlich kommt er aus Kabul und ist Afghane:
"Wir haben 'Kabul Rock' kürzlich gestartet. Wir spielen echte Rockmusik. Einige denken, wir seien das ISAF-Radio der NATO-Truppen. Aber wir sind nur ein afghanischer Sender, von Afghanen gemacht, für Afghanen."
AJ trägt Stoppelhaare und neuerdings ein Tatoo. Auf seinem T-Shirt ist eine Burka mit Verbotsschild zu sehen, dazu die Aufschrift "No Burka Busters", "Keine Burka Schreier". Er fordert gerne Konventionen heraus. Mit Anfang 20 ist er einer, der alles ausprobieren möchte. Was im Westen angesagt ist, will er testen und damit die Grenzen der afghanischen Gesellschaft ausloten. Eine Gradwanderung bisweilen.
"Kabul Rock" ist eine Sendung im Wochentakt. AJ lädt nur Ausländer in seine Sendung ein. Solche, die er länger kennt, aber auch spontane Begegnungen. Die Gäste sollen über Kabul und Afghanistan erzählen. Ein Dialog der (Pop)Kulturen, in dem AJ die Regeln bestimmt: kaum afghanische Musik, dafür die ganze Bandbreite westlicher Titel, die er aus seinem I-Tunes-Archiv abruft.
"Am Schlimmsten finde ich, wenn die Leute hier denken, wir seien ein christliches Radio und dass wir missionieren wollen, die Leute von ihrem Glauben abbringen. Wer denkt sich so etwas aus? Einfach weil wir englische Musik spielen soll das blasphemisch sein? Ich meine… Ja, es gibt Missionare hier. Aber wir doch nicht. Wir sind noch nicht mal Amerikaner. Wir sind ein afghanisches Programm. Ein muslimisch-afghanisches."
Die wenigste Zeit moderiert AJ. Meistens verkauft er Bücher. Sein Vater ist der bekannte "Buchhändler von Kabul", dem das gleichnamige umstrittene Buch der Norwegerin Asne Seierstad gewidmet ist. AJ’s Vater kommt darin als ein Patriarch und Familien-Tyrann weg. Seit Jahren klagt die Familie vor Gericht gegen den Verkauf des Buchs. Viele Geschichten seien frei erfunden, klagt AJ’s Vater, die Ehre der Familie in den Schmutz gezogen. Einer von vielen afghanisch-ausländischen Clashes of Civilization.
"Kabul kann verrückt sein und witzig zugleich. Ein prima Ort für Leute, die keine Familie haben, so wie mich. Manchmal schicken mir Leute aus dem Ausland Mails. Sie wollen wissen, wow!, wie schaffst du es mit uns zu kommunizieren, über Internet aus Afghanistan. Wie ist das möglich? Mensch Alter! Ignoranz hat ihre Grenzen. Wir haben hier alles: Satellitentelefone, schicke Autos, alles…"
AJ erzählt von Partys und Underground-Treffen mit einer Clique afghanischer Freunde, von Prostitution; letzteres Geschichten vom Hörensagen, betont er.
Kabul hat zwei Gesichter. Hier ganze Straßenzüge aus Ruinen mit Einschüssen: die Nachkriegszeit. Dort neue Shopping-Zentren mit billigen grün-blauen Glasfassaden, die von Importen aus China und Pakistan überschwemmt werden: Globalisierung auf afghanisch. Mehr als vier Millionen Menschen, so wird geschätzt, für eine Stadt, deren Infrastruktur für einen Bruchteil davon konzipiert ist. Das Kabul der Zukunft ist schon geplant. 20 Kilometer außerhalb des jetzigen Zentrums. In 30 Jahren soll die neue Hauptstadt stehen.
Ein Stadtviertel von Kabul beherbergt über 30 sogenannte Hotels mit riesigen Glassfassaden. Kein Gast mietet sich hier ein. In den Hotels wird geheiratet. Täglich - mittags wie abends. Und getanzt. Männer und Frauen getrennt, versteht sich. Eine Hochzeit kostet ein Vermögen. Jahrelang bleiben dem Bräutigam Schulden.
Ali Karimi, ein junger Intellektueller, ist mit ebenfalls Mitte 20 angepasster als Radio-Moderator AJ. Vom Studenten ist er nach seinem Vordiplom über die Semesterferien zum Dozenten für Filmtheorie an der Uni Kabul geworden. Er kommt viel rum, wie jüngst, als er ein deutsches Filmteam begleitet hat, das eine Serie über die Seidenstrasse in Afghanistan drehte:
"Es gibt nicht so viele Menschen, die zwischen Kabul und den Provinzen reisen. Die Straßen sind schlecht. Ihre Geschäfte eher lokaler oder regionaler Natur. Im Norden in Badakhshan habe ich 50-, 60-Jährige getroffen. Die kennen Afghanistan nur in einem Umkreis von 100 Kilometern. Kabul kennen sie nur vom Hörensagen. Wenn du Afghanistan kennenlernen willst, das wahre, das wilde, dann verlasse das laute und lausige Kabul."
Reisen kann das Risiko bedeuten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Immer mehr internationale Helfer werden deshalb aus Sicherheitsgründen mit dem Flugzeug zu ihren Einsatzorten in der Provinz gebracht. Afghanen können nur träumen davon.
"Auch die Menschen aus Kabul haben Angst zu reisen. Mein Bruder war vor vier Tagen mit dem Bus im Land unterwegs. In der Nähe von Kandahar wurden alle Insassen Zeugen von Kämpfen zwischen US-Militär und Taliban. Eine Bombe ging in die Luft, direkt neben der Strasse. Vier Stunden steckten sie fest, mitten im Niemandsland. Dann konnten sie weiter. Erschöpft und fertig mit den Nerven kam mein Bruder spät nachts in Kabul an."
Hier werden Erstklässler unterrichtet, Mädchen wie Jungen. Zwischen 4000 Meter hohen Gipfeln und Tälern, in denen kaum etwas wächst. Die Provinz Daikundi liegt zwei beschwerliche Tagesfahrten von Kabul entfernt.
Die Jungen sitzen vor den Mädchen, auf einer Kunststoffmatte unter freiem Himmel. Tagsüber ist es heiß, abends kühl. Ihre staubigen Wolljacken sind abgewetzt. Sieben Jahre Schule stehen im staatlichen Lehrplan. Aber der Weg zur nächsten Schule ist weit, manchmal Stunden, viele Kinder müssen den Eltern bei der Feldarbeit helfen.
Die Provinz Daikundi lebt im Sechsmonatstakt. Schmilzt der Schnee, wird das Wasser für Mensch und Tier zur Lebensader. In dem kurzen Zeitfenster zwischen Mai und Oktober müssen die Felder bestellt, die Ernte eingefahren und Vorräte angelegt werden. Winter und Eis machen die Täler für den Rest des Jahres zu unbegehbaren Welten, in die es keinen Zu- noch Ausgang gibt. Daikundi gilt als die "vergessene Provinz" Afghanistans, Armut bestimmt auch die politische Agenda, erzählt Fatima:
"Im April gab es eine Zwangsheirat in unserem Distrikt, was hier häufiger vorkommt. Wir, Männer und Frauen, haben den Fall im Gemeinderat gemeinsam diskutiert. Beide sind wir dann zu dem betreffenden Vater gegangen, um mit ihm zu reden. Aber wir haben nichts ändern können. Die Ursache war Armut. Die Eltern des Mädchens haben gesagt: Wir haben nichts zu essen. Könnt ihr uns etwa von der Misere erlösen. Der Vater hatte keine Wahl, sagte er."
Fatima ist 19, macht gerade ihren Schulabschluss und sitzt im Frauenrat der Gemeinde. Ihr Blick ist unbeirrbar, sie strahlt Mut aus. Was treibt sie an, für die Gleichheit der Frauen zu kämpfen, wie sie bislang nur in der afghanischen Verfassung auf Papier steht?
"Als Muslimin berufe ich mich auf unseren Propheten und den Koran, die sagen, die Rechte von Männern und Frauen sind die gleichen. Entsprechend versuchen wir, unsere Rechte einzufordern. Es geht um Veränderung. Nirgendwo sollten Frauen gegen Kühe, Ziegen, Schafe oder sonst welche Tiere eingetauscht oder verkauft werden."
Fatimas Freundin Sumaya ist selbst vor zehn Jahren eine Ehe wider Willen eingegangen. Jetzt ist sie Lehrerin. Täglich freut sie sich über den Weg zur Arbeit und die vielen Schülerinnen. Es hat eine Revolution gegeben, sagt sie.
In Daikundi gibt es keine Taliban, die Provinz ist vergleichweise sicher. Dafür treiben ehemalige Warlords und bewaffnete Milizen ihr Unwesen. Eine handvoll schüchtert seit Jahren Teile der Bevölkerung ein, unterhält ein Privatgefängnis, organisiert Stimmenkauf. Am 20. August wird der Nachfolger von Präsident Karsai gewählt, zugleich neue Provinzräte im ganzen Land.
"Ich geh nicht wählen. Die Regierung tut doch nichts für uns. Ich bin Bauer. Soll ich mich etwa von Erde und Staub ernähren? Ich hab die Hoffnung aufgegeben, dass uns die Regierung uns hilft. Ein gläubiger Mensch muss her."
Wie dieser Bauer sind viele Menschen von sieben Jahren Karsai-Regierung desillusioniert. Mehr als 40 Präsidentschaftskandidaten seien nur scheinbar Ausdruck lebendiger Verhältnisse, so der Chef einer afghanischen Hilfsorganisation:
"Die Menschen sind nicht müde vom Wählen. Sie sind besorgt, dass die Wahlen nicht transparent ablaufen. Unter drei oder vier Kandidaten kann man ernsthaft wählen, aber nicht unter mehr als 40, wenn überhaupt nicht bekannt ist, wer sie sind."
Wenige Tage vor der Wahl ist nicht klar, wer im Distrikt Bandar eine faire und freie Wahl garantiert. Weder die afghanische Wahlkommission noch unabhängige Wahlbeobachter haben ein Büro bezogen. Keine Aufklärungskampagne hilft den Bürgern, darunter viele Analphabeten, zu erklären, wie gewählt wird und an wen sich Bürger wie Kandidaten mit ihren Beschwerden richten können. Die einzige Autorität, auf die wir treffen, ist Reza Rezai, der Polizeichef von Bandar:
"Es ist schwer, die Warlords in der Gegend zu bekämpfen, zumal sie von den Machthabenden in Kabul gestützt werden. Ich versuche durchzugreifen wo es geht. Aber ich muss mit Beschwerden gegen mich rechnen. Einige mit Verbindungen in Kabul sind bestrebt, mich hier abzulösen. Ich bin seit zwei Monaten hier. Ich wusste, dass es schwer wird. Ich leite Untersuchungen, aber es fehlt an allem. Es gibt nicht einmal eine stehende Telefonverbindung nach Kabul."
Die deutsche Polizei-Aufbauhilfe soll es richten, so der Wunsch von Reza Rezai. Er träumt von einer besseren Ausrüstung für seine 30 Beamten. Und mehr Kontrolle durch die Ausländer. Afghanen untereinander scheinen sich nicht über den Weg zu trauen in Daikundi.
Ausländische Hilfsorganisationen muss man in Daikundi mit der Lupe suchen. Die Caritas baut im Bezirk Bandar Straßen, Brunnen und kleine Krankenhäuser. Eine der Kliniken steht kurz vor der Aufgabe, erzählt der leitende Arzt. Leere Medikamentschränke, fehlende Hebammen und ausstehende Gehälter. Alles Ergebnis des Missmanagements der afghanischen Organisation, die das Krankenhaus übernommen habe, hört man in Bandar unisono.
"Es wäre besser, wenn die Geberländer alles kontrollieren. Was an Geld reinkommt und was wohin geht, meint der Polizeichef."
Der Ruf nach mehr Ausländern ist groß in Daikundi, und in gewisser Weise untypisch für den Rest des Landes. Caritas genießt hier einen guten Ruf, die Menschen haben Vertrauen aufgebaut. Umso mehr irritiert es die Freiburger Organisation, dass ihr die Gelder für Daikundi gekürzt werden. Der Grund: Die Bundesregierung will die deutsche Hilfe im Norden konzentrieren, in Reichweite der Bundeswehr. Nachhaltigkeit sieht anders aus, finden die Helfer der Caritas.
"Wir haben 'Kabul Rock' kürzlich gestartet. Wir spielen echte Rockmusik. Einige denken, wir seien das ISAF-Radio der NATO-Truppen. Aber wir sind nur ein afghanischer Sender, von Afghanen gemacht, für Afghanen."
AJ trägt Stoppelhaare und neuerdings ein Tatoo. Auf seinem T-Shirt ist eine Burka mit Verbotsschild zu sehen, dazu die Aufschrift "No Burka Busters", "Keine Burka Schreier". Er fordert gerne Konventionen heraus. Mit Anfang 20 ist er einer, der alles ausprobieren möchte. Was im Westen angesagt ist, will er testen und damit die Grenzen der afghanischen Gesellschaft ausloten. Eine Gradwanderung bisweilen.
"Kabul Rock" ist eine Sendung im Wochentakt. AJ lädt nur Ausländer in seine Sendung ein. Solche, die er länger kennt, aber auch spontane Begegnungen. Die Gäste sollen über Kabul und Afghanistan erzählen. Ein Dialog der (Pop)Kulturen, in dem AJ die Regeln bestimmt: kaum afghanische Musik, dafür die ganze Bandbreite westlicher Titel, die er aus seinem I-Tunes-Archiv abruft.
"Am Schlimmsten finde ich, wenn die Leute hier denken, wir seien ein christliches Radio und dass wir missionieren wollen, die Leute von ihrem Glauben abbringen. Wer denkt sich so etwas aus? Einfach weil wir englische Musik spielen soll das blasphemisch sein? Ich meine… Ja, es gibt Missionare hier. Aber wir doch nicht. Wir sind noch nicht mal Amerikaner. Wir sind ein afghanisches Programm. Ein muslimisch-afghanisches."
Die wenigste Zeit moderiert AJ. Meistens verkauft er Bücher. Sein Vater ist der bekannte "Buchhändler von Kabul", dem das gleichnamige umstrittene Buch der Norwegerin Asne Seierstad gewidmet ist. AJ’s Vater kommt darin als ein Patriarch und Familien-Tyrann weg. Seit Jahren klagt die Familie vor Gericht gegen den Verkauf des Buchs. Viele Geschichten seien frei erfunden, klagt AJ’s Vater, die Ehre der Familie in den Schmutz gezogen. Einer von vielen afghanisch-ausländischen Clashes of Civilization.
"Kabul kann verrückt sein und witzig zugleich. Ein prima Ort für Leute, die keine Familie haben, so wie mich. Manchmal schicken mir Leute aus dem Ausland Mails. Sie wollen wissen, wow!, wie schaffst du es mit uns zu kommunizieren, über Internet aus Afghanistan. Wie ist das möglich? Mensch Alter! Ignoranz hat ihre Grenzen. Wir haben hier alles: Satellitentelefone, schicke Autos, alles…"
AJ erzählt von Partys und Underground-Treffen mit einer Clique afghanischer Freunde, von Prostitution; letzteres Geschichten vom Hörensagen, betont er.
Kabul hat zwei Gesichter. Hier ganze Straßenzüge aus Ruinen mit Einschüssen: die Nachkriegszeit. Dort neue Shopping-Zentren mit billigen grün-blauen Glasfassaden, die von Importen aus China und Pakistan überschwemmt werden: Globalisierung auf afghanisch. Mehr als vier Millionen Menschen, so wird geschätzt, für eine Stadt, deren Infrastruktur für einen Bruchteil davon konzipiert ist. Das Kabul der Zukunft ist schon geplant. 20 Kilometer außerhalb des jetzigen Zentrums. In 30 Jahren soll die neue Hauptstadt stehen.
Ein Stadtviertel von Kabul beherbergt über 30 sogenannte Hotels mit riesigen Glassfassaden. Kein Gast mietet sich hier ein. In den Hotels wird geheiratet. Täglich - mittags wie abends. Und getanzt. Männer und Frauen getrennt, versteht sich. Eine Hochzeit kostet ein Vermögen. Jahrelang bleiben dem Bräutigam Schulden.
Ali Karimi, ein junger Intellektueller, ist mit ebenfalls Mitte 20 angepasster als Radio-Moderator AJ. Vom Studenten ist er nach seinem Vordiplom über die Semesterferien zum Dozenten für Filmtheorie an der Uni Kabul geworden. Er kommt viel rum, wie jüngst, als er ein deutsches Filmteam begleitet hat, das eine Serie über die Seidenstrasse in Afghanistan drehte:
"Es gibt nicht so viele Menschen, die zwischen Kabul und den Provinzen reisen. Die Straßen sind schlecht. Ihre Geschäfte eher lokaler oder regionaler Natur. Im Norden in Badakhshan habe ich 50-, 60-Jährige getroffen. Die kennen Afghanistan nur in einem Umkreis von 100 Kilometern. Kabul kennen sie nur vom Hörensagen. Wenn du Afghanistan kennenlernen willst, das wahre, das wilde, dann verlasse das laute und lausige Kabul."
Reisen kann das Risiko bedeuten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Immer mehr internationale Helfer werden deshalb aus Sicherheitsgründen mit dem Flugzeug zu ihren Einsatzorten in der Provinz gebracht. Afghanen können nur träumen davon.
"Auch die Menschen aus Kabul haben Angst zu reisen. Mein Bruder war vor vier Tagen mit dem Bus im Land unterwegs. In der Nähe von Kandahar wurden alle Insassen Zeugen von Kämpfen zwischen US-Militär und Taliban. Eine Bombe ging in die Luft, direkt neben der Strasse. Vier Stunden steckten sie fest, mitten im Niemandsland. Dann konnten sie weiter. Erschöpft und fertig mit den Nerven kam mein Bruder spät nachts in Kabul an."
Hier werden Erstklässler unterrichtet, Mädchen wie Jungen. Zwischen 4000 Meter hohen Gipfeln und Tälern, in denen kaum etwas wächst. Die Provinz Daikundi liegt zwei beschwerliche Tagesfahrten von Kabul entfernt.
Die Jungen sitzen vor den Mädchen, auf einer Kunststoffmatte unter freiem Himmel. Tagsüber ist es heiß, abends kühl. Ihre staubigen Wolljacken sind abgewetzt. Sieben Jahre Schule stehen im staatlichen Lehrplan. Aber der Weg zur nächsten Schule ist weit, manchmal Stunden, viele Kinder müssen den Eltern bei der Feldarbeit helfen.
Die Provinz Daikundi lebt im Sechsmonatstakt. Schmilzt der Schnee, wird das Wasser für Mensch und Tier zur Lebensader. In dem kurzen Zeitfenster zwischen Mai und Oktober müssen die Felder bestellt, die Ernte eingefahren und Vorräte angelegt werden. Winter und Eis machen die Täler für den Rest des Jahres zu unbegehbaren Welten, in die es keinen Zu- noch Ausgang gibt. Daikundi gilt als die "vergessene Provinz" Afghanistans, Armut bestimmt auch die politische Agenda, erzählt Fatima:
"Im April gab es eine Zwangsheirat in unserem Distrikt, was hier häufiger vorkommt. Wir, Männer und Frauen, haben den Fall im Gemeinderat gemeinsam diskutiert. Beide sind wir dann zu dem betreffenden Vater gegangen, um mit ihm zu reden. Aber wir haben nichts ändern können. Die Ursache war Armut. Die Eltern des Mädchens haben gesagt: Wir haben nichts zu essen. Könnt ihr uns etwa von der Misere erlösen. Der Vater hatte keine Wahl, sagte er."
Fatima ist 19, macht gerade ihren Schulabschluss und sitzt im Frauenrat der Gemeinde. Ihr Blick ist unbeirrbar, sie strahlt Mut aus. Was treibt sie an, für die Gleichheit der Frauen zu kämpfen, wie sie bislang nur in der afghanischen Verfassung auf Papier steht?
"Als Muslimin berufe ich mich auf unseren Propheten und den Koran, die sagen, die Rechte von Männern und Frauen sind die gleichen. Entsprechend versuchen wir, unsere Rechte einzufordern. Es geht um Veränderung. Nirgendwo sollten Frauen gegen Kühe, Ziegen, Schafe oder sonst welche Tiere eingetauscht oder verkauft werden."
Fatimas Freundin Sumaya ist selbst vor zehn Jahren eine Ehe wider Willen eingegangen. Jetzt ist sie Lehrerin. Täglich freut sie sich über den Weg zur Arbeit und die vielen Schülerinnen. Es hat eine Revolution gegeben, sagt sie.
In Daikundi gibt es keine Taliban, die Provinz ist vergleichweise sicher. Dafür treiben ehemalige Warlords und bewaffnete Milizen ihr Unwesen. Eine handvoll schüchtert seit Jahren Teile der Bevölkerung ein, unterhält ein Privatgefängnis, organisiert Stimmenkauf. Am 20. August wird der Nachfolger von Präsident Karsai gewählt, zugleich neue Provinzräte im ganzen Land.
"Ich geh nicht wählen. Die Regierung tut doch nichts für uns. Ich bin Bauer. Soll ich mich etwa von Erde und Staub ernähren? Ich hab die Hoffnung aufgegeben, dass uns die Regierung uns hilft. Ein gläubiger Mensch muss her."
Wie dieser Bauer sind viele Menschen von sieben Jahren Karsai-Regierung desillusioniert. Mehr als 40 Präsidentschaftskandidaten seien nur scheinbar Ausdruck lebendiger Verhältnisse, so der Chef einer afghanischen Hilfsorganisation:
"Die Menschen sind nicht müde vom Wählen. Sie sind besorgt, dass die Wahlen nicht transparent ablaufen. Unter drei oder vier Kandidaten kann man ernsthaft wählen, aber nicht unter mehr als 40, wenn überhaupt nicht bekannt ist, wer sie sind."
Wenige Tage vor der Wahl ist nicht klar, wer im Distrikt Bandar eine faire und freie Wahl garantiert. Weder die afghanische Wahlkommission noch unabhängige Wahlbeobachter haben ein Büro bezogen. Keine Aufklärungskampagne hilft den Bürgern, darunter viele Analphabeten, zu erklären, wie gewählt wird und an wen sich Bürger wie Kandidaten mit ihren Beschwerden richten können. Die einzige Autorität, auf die wir treffen, ist Reza Rezai, der Polizeichef von Bandar:
"Es ist schwer, die Warlords in der Gegend zu bekämpfen, zumal sie von den Machthabenden in Kabul gestützt werden. Ich versuche durchzugreifen wo es geht. Aber ich muss mit Beschwerden gegen mich rechnen. Einige mit Verbindungen in Kabul sind bestrebt, mich hier abzulösen. Ich bin seit zwei Monaten hier. Ich wusste, dass es schwer wird. Ich leite Untersuchungen, aber es fehlt an allem. Es gibt nicht einmal eine stehende Telefonverbindung nach Kabul."
Die deutsche Polizei-Aufbauhilfe soll es richten, so der Wunsch von Reza Rezai. Er träumt von einer besseren Ausrüstung für seine 30 Beamten. Und mehr Kontrolle durch die Ausländer. Afghanen untereinander scheinen sich nicht über den Weg zu trauen in Daikundi.
Ausländische Hilfsorganisationen muss man in Daikundi mit der Lupe suchen. Die Caritas baut im Bezirk Bandar Straßen, Brunnen und kleine Krankenhäuser. Eine der Kliniken steht kurz vor der Aufgabe, erzählt der leitende Arzt. Leere Medikamentschränke, fehlende Hebammen und ausstehende Gehälter. Alles Ergebnis des Missmanagements der afghanischen Organisation, die das Krankenhaus übernommen habe, hört man in Bandar unisono.
"Es wäre besser, wenn die Geberländer alles kontrollieren. Was an Geld reinkommt und was wohin geht, meint der Polizeichef."
Der Ruf nach mehr Ausländern ist groß in Daikundi, und in gewisser Weise untypisch für den Rest des Landes. Caritas genießt hier einen guten Ruf, die Menschen haben Vertrauen aufgebaut. Umso mehr irritiert es die Freiburger Organisation, dass ihr die Gelder für Daikundi gekürzt werden. Der Grund: Die Bundesregierung will die deutsche Hilfe im Norden konzentrieren, in Reichweite der Bundeswehr. Nachhaltigkeit sieht anders aus, finden die Helfer der Caritas.