K wie Kindheit

    Von Jürgen Liebing · 13.05.2013
    Richard Wagner hatte eine schwere Kindheit. Der leibliche Vater starb, als der Säugling ein halbes, der Stiefvater, als der Junge acht Jahre alt war. Richard hatte neun Geschwister. Seine frühen Jahre spielten sich unter armseligen Umständen ab.
    Auch wenn es keiner glaubt: So kindlich süß wie der Hirtenjunge in Wagners "Tannhäuser" haben wir alle mal angefangen – sogar Richard selbst. In seinen Musikdramen allerdings sind Kinder eine glatte Fehlanzeige, denn die quicken Rheintöchter oder Blumenmädchen, die er auf die Bühne stellte, bedienen sich zwar streckenweise einer kindlich lallenden Sprache, die aber genau deswegen weit davon entfernt ist, harmlos zu sein: die jungen Damen haben, biblisch gesprochen, nicht nur schon von den Äpfeln des Paradieses genascht, sondern betreiben geradezu deren aktive Vermarktung. Siegfried wiederum, seinen potenziellen Welterlöser, sehen wir nur imaginär am Tag eins nach seiner Zeugung – und dann erst wieder als jugendlichen Tunichtgut im tiefen Wald:

    Sicher hatte Wagners Blockade gegenüber irgendwelcher Kleinkind-Sentimentalität mit seiner eigenen schweren Kindheit zu tun. Der leibliche Vater starb, als der Säugling ein halbes, der Stiefvater Ludwig Geyer, als der Junge acht Jahre alt war; nebst Richard gab es neun Geschwister, und wenn man die Bilder seines kleinbürgerlich beengten Leipziger Geburtshauses sieht, kann man sich vorstellen, unter welch armseligen Umständen sich seine frühen Jahre abspielten – zum großen Teil in Dresden, später wieder in Leipzig, wo er unter anderem die Nikolaischule besuchte. Die immerhin ist noch vorhanden, anders als das Geburtshaus selbst, an dessen Stelle sich heute eine der landesüblichen Shopping-Passagen breitmacht; immerhin und origineller Weise hat man die Fassade der alten Klitsche, in der Klein-Richard seinen ersten Schrei tat, mit grafischen Mitteln auf das moderne Gebäude projiziert.

    Ansonsten ging es dem späteren Theaterreformer nicht anders als anderen intelligenten, aber materiell minder bemittelten Jünglingen: er begab sich, um mit Heine zu sprechen, ins "Luftreich des Traums", verschlang Literatur und versuchte sich selbst an einem Trauerspiel shakespearischer Dimensionen; mit der Schule dagegen hatte er es – kaum verwunderlich bei dem späteren egozentrischen Quergeist – nicht allzu sehr. Dann drängte immer mehr die Musik in sein Leben, und einer der Orte, an denen er, nun schon jenseits der fünfzehn, dieser Neigung nachgehen konnte, war das Gut Ermlitz in der Elsteraue westlich von Leipzig. Schon Carl Maria von Weber war hier zu Gast gewesen: sein "Freischütz" geht auf eine Vorlage des Gutsherrn August Apel zurück, und dessen Sohn Theodor wiederum war der engste Freund Wagners während der Jugendjahre. In Ermlitz fand Richard jene partnerschaftliche Hochachtung und innere Ruhe, die seinem schon damals heftig ausgeprägten Ego so notwendig waren.

    Das Gutshaus, während der Nachkriegsjahrzehnte als Kinderheim genutzt, ist inzwischen weit gehend wieder in der Verfassung, die Wagner bei seinen Besuchen vorfand – und vielleicht hat die nun neu nachempfindbare belebende Atmosphäre hier auch seine ersten Kompositionen mitgeprägt. Besonders sonnig sind sie dennoch nicht – Richards Fach war von Beginn an eher die Tragödie, und der Beginn einer fis-moll-Fantasie, die der 18-jährige am Ende einer – nach eigenen Worten – "schlimmen lüderlichen Zeit" komponierte, geht irgendwie parallel mit dem damals ebenfalls in Leipzig ansässigen Hyper-Melancholiker Robert Schumann.