Justizreform

In den Knast durch Alltagsüberforderung?

04:23 Minuten
Hände an den Gittern einer Gefängnistür.
Andere Länder sind schon weiter, so Sebastian Scheerer: In Italien erklärte das Verfassungsgericht die Ersatzfreiheitsstrafe im Jahr 1979 für verfassungswidrig. © Unsplash / Victor B.
Ein Plädoyer von Sebastian Scheerer |
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Wer Geldstrafen nicht zahlen kann, muss ins Gefängnis. Sonst, so die juristische Meinung, würden Arme ihre "Geldstrafenimmunität" ausnutzen. In Berlin wurde wegen Corona ein Gnadenerlass verfügt. Dem Kriminologen Sebastian Scheerer reicht das nicht.
Inzwischen belegen die Ersatzfreiheitsstrafler oder EFSer, wie sie im Vollzugsjargon heißen, jeden zehnten Haftplatz à vier- bis fünftausend Euro pro Person und Monat. Da jährlich rund 50.000 EFSer für durchschnittlich 30 Tage durch den Justizvollzug geschleust werden, machen sie mittlerweile 40 Prozent aller Aufnahmen in den Strafvollzug aus.
Sie beanspruchen damit überproportional viel Personal, obwohl sie wegen ihrer kurzen Verweildauer weder von Ausbildungs- noch Behandlungsangeboten profitieren.
Im Gegenteil: Erfahrungsgemäß laufen EFSer Gefahr, wegen ihres temporären Gefängnisaufenthalts ihre vorher gelegentlich noch vorhandenen Partner, Arbeitsstellen und Wohnungen zu verlieren. Damit werden sie natürlich umso eher rückfällig, so dass sie bald wiederkommen und erneut Kosten verursachen, ohne dass irgendein Problem gelöst wäre.

Anonymes Verfahren, überforderte Delinquenten

Oft setzen Gerichte die Geldstrafen aus schlichter Unkenntnis so hoch an, dass sie von den verarmten Delinquenten gar nicht bezahlt werden können. Das hat auch mit der Anonymität des schriftlichen Strafbefehlverfahrens zu tun, bei der es mangels Hauptverhandlung zu gar keinem persönlichen Gespräch kommen kann.
Selbst die Umwandlung von Geld- in Ersatzfreiheitsstrafe erfolgt in der Regel automatisch und per Post.
Häufig sind aber diejenigen, um die es geht, vereinsamt, psychisch krank, vom Alltag überfordert und nicht selten unfähig, Behördenpost überhaupt zu empfangen, zu öffnen, geschweige denn zu verstehen. Kein Wunder, dass neun von zehn Geladenen zum Haftantritt nicht erscheinen, dann per Haftbefehl gesucht und irgendwann vom Fleck weg ins Gefängnis geworfen werden. Was sogenannte Erstverbüßer nicht selten nachhaltig traumatisiert.

In anderen Ländern ist man längst weiter

Es ginge allerdings auch anders. In Italien erklärte das Verfassungsgericht die Ersatzfreiheitsstrafe schon 1979 für verfassungswidrig: Es sei ein Unding, dass Reiche sich freikaufen könnten, Arme aber sitzen müssten.
Während der Gesetzgeber dort auf Kompromisse wie "überwachte Freiheit" und "Halbgefangenschaft" auswich, schafften Schweden im Jahre 1981 und Dänemark 2006 die Ersatzfreiheitsstrafe fast vollständig ab.
Dort kommen nur besonders hartnäckige Rechtsbrecher mit mindestens drei unbezahlten Geldstrafen hinter Gitter, die tatsächlich ihre vermeintliche "Geldstrafenimmunität" auszunutzen versuchten. Das sind aber vergleichsweise wenige: vielleicht mal 30 oder 50, nicht 50.000 - 50!
In Zukunft dürften noch mehr Menschen in desolate Lebenslagen geraten und dabei auch straffällig werden. Der soziale Rechtsstaat könnte das durch eine Entkriminalisierung des Schwarzfahrens und andere Entrümpelungsaktionen im Strafgesetzbuch zum Teil verhindern. Auf jeden Fall aber könnte und sollte er klüger und kompetenter darauf reagieren als mit der unseligen Ersatzfreiheitsstrafe.

Sebastian Scheerer ist Jurist und Soziologe. Er war bis zu seiner Pensionierung Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg und analysiert Schlüsselthemen aus der "Sinnprovinz Kriminalität" in Gegenwartsgesellschaften - unter anderem in Veröffentlichungen wie "Drogen und Drogenpolitik" oder "Kritik der strafenden Vernunft".

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