Justizia im Ausnahmezustand

Coronavirus zwingt Gerichte in den Notbetrieb

04:39 Minuten
Gerichtsverhandlung im Zeichen der Corona Krise, nur sehr wenige Plätze stehen zur Verfügung, Reihen sind mit dem Hinweis "gesperrt" versehen, Sitze sind durch Folie nicht zugänglich gemacht. Frankfurt am Main, 25. März 2020.
Wenn überhaupt noch Verhandlungen im Gerichtssaal stattfinden, dann wird auch hier auf "Abstand halten" geachtet – deswegen die gesperrten Sitze. © imago/Jan Huebner
Von Ann-Kathrin Jeske · 03.04.2020
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Homeoffice für Richterinnen und Richter - das ist bei großen Strafverfahren nicht möglich. Zwar erlaubt der Gesetzgeber in Corona-Zeiten eine Unterbrechung der Hauptverhandlung, doch das schafft neue Probleme.
Das Landgericht Moabit in Berlin am Vormittag. Fünf wegen Steuerhinterziehung Angeklagten wird der Prozess gemacht – mit eineinhalb Metern Sicherheitsabstand. In einen größeren Raum. Verhandelt wird nur eine Stunde und nicht wie üblich den ganzen Tag.
Für Strafverteidigerin Ria Halbritter ist es die einzige Verhandlung in dieser Woche:


"Also normalerweise verhandele ich nahezu täglich bundesweit, hauptsächlich in Berlin, Brandenburg. Und im Moment, also in dieser Woche, habe ich bislang nur eine Hauptverhandlung. Alle anderen sind aufgehoben und verschoben."
Das Coronavirus hat die Justiz erreicht. Der Love-Parade Prozess – vorerst bis zum 21. April verschoben. Ein aufsehenerregender Prozess in Erfurt, in dem zwei Polizisten beschuldigt werden, im Dienst eine Frau vergewaltigt zu haben – ebenfalls vertagt.
Am Landgericht in Bonn ist Tobias Gülich in diesen Tagen einer der wenigen Richter auf den Fluren:
"90 oder 95 Prozent der Richter des Landgerichts sind zu Hause, arbeiten da an Akten, die sie haben mitnehmen können, bevor sie dann nach Hause geschickt wurden. Oder kümmern sich um ihre Kinder, ihre Verwandten. Und wir halten hier mit ein paar Kollegen den Notbetrieb aufrecht."

Verhandelt wird, was eilt

Hauptverhandlungen im Zivilrecht finden hier gerade gar nicht statt. Viele Fälle führen die Richter nun vom Schreibtisch aus – im sogenannten schriftlichen Verfahren. Auch im Strafrecht gilt der Notbetrieb: Verhandelt wird, was eilt. Noch vor zwei Wochen sah das ganz anders aus – etwa als das Landgericht Bonn im bundesweit ersten Cum-Ex-Prozess über die illegalen Steuerrückerstattungen verhandelte. Wegen des Coronavirus sprach das Gericht sein Urteil früher als geplant.
Tobias Gülich: "Weil man zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht wissen konnte: Wie geht es überhaupt weiter mit dem Hauptverhandlungstermin? Kann ich den überhaupt noch durchführen? Wir hatten ja ein riesiges Zuschauerinteresse an dem Verfahren, Medienöffentlichkeit, aber auch normale Öffentlichkeit. Bis zu 130 Sitzplätze im Saal, die zum Teil auch voll besetzt waren. Kaum noch denkbar, dass heute 130 Leute in einem Saal zusammensitzen. Das war sehr, sehr schwierig."
Denn wie die meisten Strafprozesse musste auch der Cum-Ex-Prozess öffentlich sein. In Zeiten der Corona-Krise fast unmöglich. Das Verfahren drohte zu platzen, weil die Hauptverhandlung zu diesem Zeitpunkt nur einen Monat unterbrochen werden durfte.
Tobias Gülich: "Ein Platzen des Verfahrens führt dazu, dass die gesamte Beweisaufnahme zu wiederholen ist, weil man eben von vorne anfangen muss. Und dass man über 40 Verhandlungstage, die sehr intensiv waren, die wirklich von morgens bis abends Beweisaufnahme, Urkunden verlesen, Zeugenbefragungen beinhalten ... Man kann sich vorstellen, was das bedeutet hätte, das Ganze wieder von vorne durchführen zu müssen."
Also trennte der Vorsitzende Richter Roland Zickler einen Teil des Verfahrens kurzerhand ab und beendete die Beweisaufnahme innerhalb von einem Tag. Martin S. und Nicholas D. sind jetzt die ersten in Deutschland verurteilten Straftäter wegen Cum-Ex-Geschäften.

Hauptverhandlungen dürfen unterbrochen werden

Inzwischen hat die Bundesregierung Abhilfe geschaffen: Hauptverhandlungen dürfen nach einem eilig verabschiedeten Gesetz nun bis zu drei Monate lang unterbrochen werden. Die großzügige Unterbrechungsmöglichkeit aber bringt neue Probleme mit sich. Die in Berlin wegen Steuerhinterziehung Angeklagten sitzen schon seit März 2019 in Untersuchungshaft – wegen Tatvorwürfen, die zum Teil aus dem Jahr 2010 stammen. 


Ria Halbritter: "Der Prozess war ohnehin schon vor Corona bis September terminiert. Und dann bedeutet das Ergebnis, dass die Betroffenen ohne Probleme zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft sein werden, bevor klar ist, zu welcher Strafe sie gegebenenfalls verurteilt werden."

Schließlich könne jeder Prozess wider Erwarten mit einer Bewährungsstrafe oder einem Freispruch enden. Die Haft, ohnehin äußerstes Mittel im Strafrecht, wäre dann rechtswidrig gewesen.

Auch deshalb müssen Strafverfahren so schnell wie möglich geführt werden – eigentlich. Ob Verzögerungen durch die Corona-Krise im Einzelfall rechtmäßig waren, dürfte sich jedenfalls erst dann herausstellen, wenn erste Revisionen den Bundesgerichtshof erreichen. Und auch dann werden sich die obersten Richter fragen, welche Alternativen ihre Kollegen in der Krise überhaupt hatten.
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