Juso-Chef Kevin Kühnert

"Wir haben uns den Status als Chefkritiker erarbeitet"

Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, der SPD Nachwuchsorganisation, aufgenommen am 20.4.2018 in Berlin
Juso-Chef Kevin Kühnert ist gespannt, ob die SPD "die Kurve kriegen" wird. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Moderation: Annette Riedel · 21.07.2018
Die SPD ist weiter auf Talfahrt. Umso mehr sei es Aufgabe der Jusos ihre Partei "zu piksen", sagt Juso-Chef und GroKo-Kritiker Kevin Kühnert: Die Sozialdemokraten müssten dringend Profil zeigen und sich wieder klarer vom Koalitionspartner unterscheiden.
Juso-Chef Kevin Kühnert sagt von sich selbst, dass er in den vergangenen Monaten "Leinwand" gewesen sei für "Dinge, die über mich hinausgingen". Der "bekannteste Juso-Chef aller Zeiten", wie er im ZEIT-Magazin genannt wurde, ist zu einer Art Hoffnungsträger derjenigen in der SPD geworden, die sich dafür aussprechen, dass ihre Partei wieder eindeutiger linke Politik machen möge.

Es ist stiller geworden um Kühnert

Inzwischen ist es um den 29-Jährigen ein wenig stiller geworden - seit die SPD-Mitglieder Anfang März klar für ein erneutes Zusammengehen mit der Union gestimmt haben. Kühnert hat, anders als mancher in der Partei sich gewünscht hätte, keine Position in den Führungsgremien der Bundes-SPD übernommen. Neben seinem Amt als Juso-Chef macht der Politologie-Student Kommunal-Politik in Berlin. Gleichwohl ist das Projekt "Jusos bemühen sich die Partei zu retten" für ihn keineswegs zuende.
Ist die SPD auf dem Weg in die Einstelligkeit - das Schicksal der Genossen anderswo in Europa teilend? Was ist dagegen zu tun und wie sieht er seine Rolle dabei? Wie lässt sich von den Rechtspopulisten die soziale Frage zurückerobern?

Darüber diskutiert Annette Riedel mit Kevin Kühnert in Tacheles, 21.Juli, 17.30 Uhr.

Kevin Kühnert wurde 1989 in Berlin geboren und trat mit 15 Jahren in die SPD ein. Seit November 2017 ist der ehemalige Schülersprecher Bundesvorsitzender der Jusos. Nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen von Union, Grünen und FPD organisierte die SPD-Jugendorganisation unter Kühnerts Führung eine Kampagne gegen den erneuten Eintritt der Sozialdemokraten in eine Große Koalition. Kühnert ist Bezirksverordneter im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Herr Kühnert, Sie waren Galionsfigur der Gegner einer erneuten Beteiligung der SPD an einer Großen Koalition. Sie haben mal gesagt: "SPD-Mitglied zu sein, ist manchmal eine manisch-depressive Angelegenheit." – In welcher Phase sind Sie gerade, in der eher manischen Anfang des Jahres, mit allseitiger Präsenz ja wohl eher nicht mehr, jetzt in einer depressiven?
Kevin Kühnert: Im Moment ist es keines von beiden so richtig. Klar, die manische Phase für uns Jusos ist zweifelsohne Anfang des Jahres gewesen, rund um die Kampagne – irrsinnig viele Mitglieder, ganz viel Auftrieb, den wir hatten, natürlich dann auch viel Ernüchterung, als die Mehrheit der Partei sich für die erneute Große Koalition entschieden hat. Und jetzt sind wir in diesem berühmt-berüchtigten Erneuerungsprozess. Der ist sehr langwierig. Deswegen ist es auch viel zu früh, jetzt schon zu sagen: Das klappt nicht, da geht überhaupt gar nichts voran. Sondern jetzt ist es eigentlich tägliche Kärrnerarbeit, die wir gerade leisten müssen. Daher gibt es eher so ein Gefühl von gespannter Erwartung, was da in nächster Zeit so auf uns zukommen wird und ob wir die Kurve kriegen.
Deutschlandfunk Kultur: Das Zeit-Magazin hat Sie in der "manischen" Phase den "bekanntesten Juso-Chef aller Zeiten" genannt. Nun gab es ja da vor Ihnen, eine Andrea Nahles, einen Gerhard Schröder, um nur ein paar Namen zu nennen. Mit so was muss man ja auch erstmal umgehen lernen. Sie sind da ja – nein, nicht wie die Jungfrau zum Kinde - aber Sie sind sehr überraschend da reingeraten und rutschen aber dann auch jetzt wieder raus. Wie geht man mit dem einen, mit dem anderen um?

"Wir sind ins kalte Wasser geschmissen worden"

Kevin Kühnert: Tatsächlich konnten wir uns nicht drauf vorbereiten. Also, die Jamaika-Gespräche sind fünf Tage vor unserem Juso-Bundeskongress im November letzten Jahres geplatzt. Wir waren eigentlich auf was ganz anderes eingestellt. Wir waren auf vier Jahre Jugendorganisation einer Oppositionspartei eingestellt, was zu übersetzen ist mit: weit unter dem öffentlichen Radar schweben. Das wandelte sich innerhalb von Tagen ins komplette Gegenteil. Ich glaube, das war auch die einzige Möglichkeit, wie wir das so bewältigen konnten, dass wir einfach ins kalte Wasser geschmissen wurden und funktionieren mussten.
Kevin Kühnert spricht in Mikrofone.
Kevin Kühnert in Leipzig (Februar 2018), umringt von Medienvertretern.© ZB
Im Rückblick sind wir häufig gefragt worden: Wie habt ihr denn diese Kampagne geplant?Die war gar nicht so richtig planbar. Man ist jeden Tag ein kleines Stück weiter reingeschlittert. Und natürlich muss man Öffentlichkeitsarbeit machen zu dem, was man da politisch vertritt. So waren wir dann irgendwann immer tiefer in dieser Kampagne drin.
Und jetzt - ich bin ja schon ein bisschen länger bei den Jusos und kann das ganz gut vergleichen – jetzt ist es nicht das alte Normalmaß, auf das wir wieder zurück sind. Es bleibt schon eine gesteigerte Öffentlichkeit, weil wir uns, glaube ich, den Status erarbeitet haben so ein bisschen als Chefkritiker. Das heißt: Immer, wenn jetzt auf die SPD-Spitze geguckt wird und die was Neues vorschlägt …
Deutschlandfunk Kultur: …fragt man Kevin Kühnert.
Kevin Kühnert:… ist häufig der erste Blick zu uns und die Frage: Was sagen jetzt die Kritiker dazu? – Und dann sind wir dran.
Deutschlandfunk Kultur: "Das Gesicht der Erneuerung der Partei" könnten Sie sein, hat SPD-Landeschef Müller gesagt. Wie geht die Partei mit Ihnen um? Gut?
Kevin Kühnert: Also, ich kann mich jetzt nicht beschweren. Ich will keine besonders freundliche Behandlung. Ich will einfach eine normale faire Behandlung.
Deutschlandfunk Kultur: Aber als das "Gesicht der Erneuerung"? Ich meine, wenn das denn so wäre, dann würde man das ja weit nach vorne schieben, dieses Gesicht.

Ich will keine "Heilsbringer-Figur" sein

Kevin Kühnert: Ich will da keine Sonderstellung oder so haben. Ich finde, um einen wesentlichen Teil zur Erneuerung beizutragen, muss man jetzt auch erstmal was leisten. Ich hab auch keine Lust auf Vorschusslorbeeren. Das wäre jetzt, mich ins Schaufester stellen und sagen: Schaut her, ein junges neues Gesicht. Das ist unsere Erneuerung. Das ist ja genau nicht die Erneuerung, die ich will, dass wir uns wieder nur auf eine Person fokussieren und sagen, das ist jetzt die "Heilsbringer-Figur" und die ändert jetzt alles. Nein, so ändert man ja nicht einen Tanker mit 450.000 Mitgliedern, der auch große strukturelle Probleme hat. Insofern möchte ich das gerne ein bisschen organischer haben.
Deutschlandfunk Kultur: Also, Sie machen sich jetzt auf den Marsch durch die Institutionen. Im Moment sind Sie Bezirksverordneter Tempelhof-Schöneberg, eines Berliner Bezirks. – Langer Marsch?
Kevin Kühnert: Vielleicht muss man ihn nicht ganz so gestalten, wie es in allen gängigen Büchern immer beschrieben wird, mit dreißig Jahre Infostand und so. Es wird auch am Ende nicht immer um mich dabei gehen, sondern was wir ja als Jusos gerade versuchen, ist, ein bisschen auch einen Kulturwandel in diese Partei reinzukriegen und klar zu machen: Mensch, es ist einfach zeitgemäß und es macht auch bessere Politik, wenn wir Jusos eine stärkere Repräsentanz in unserer Partei, in unseren Fraktionen, in den Parlamenten hinbekommen. Diese Gesellschaft wandelt sich mittlerweile so schnell. Fünf oder zehn Jahre Unterschiede bei der Lebenserfahrung machen einen ganz anderen Blick darauf. Wie ist man groß geworden? Wie geht man mit Digitalisierung um? – Das heißt also, heute sich nicht vielfältig aufzustellen als Partei, ist einfach – wenn man so will – ein Wettbewerbsnachteil im Umgang mit den Themen der Zeit.
Deutschlandfunk Kultur: Zur Partei gleich noch viel mehr, aber ich bleibe noch einen kleinen Moment bei Ihnen. Sie sind Ihr halbes Leben in der SPD. Sie sind mit 15 eingetreten, jetzt – das letzte Mal eine Zwei vorne – sind sie gerade 29 geworden...
Kevin Kühnert: Vielen Dank für die Erinnerung.
Deutschlandfunk Kultur: Gibt es denn so etwas wie eine natürliche Altersgrenze für Juso-Vorsitzende, jenseits derer es schon fast peinlich wird und man so eine Art "Berufsjugendlicher" wird? Die tatsächliche formale Altersgrenze ist 36, aber dieser Zustand, den ich beschreibe, fängt ja schon früher an.
Kevin Kühnert: Ja. Üblicherweise wird das bei den Jusos auch nicht ausgereizt. Ich kenne das von der Jungen Union. Da bleiben dann mancher auch wirklich gerne bis 35 und gehen dann quasi mit dem letzten Geburtstag aus dem Amt raus. Das ist bei uns unüblich. Man kann so was bis Anfang dreißig machen, aber man wird nicht rausgetragen zum Geburtstag. Das möchte ich auch bitteschön vermeiden. Man kann mit 14 bei uns eintreten. Und wenn man dann da mit 35 noch der Vorsitzende ist, dann wäre ich doppelt so alt wie die jüngsten Mitglieder meines Verbandes. Die Lebensrealität von einem Mittdreißiger hat mit der mit der eines Schülers auch herzlich wenig nur noch zu tun.
Deutschlandfunk Kultur: Andrea Nahles, die jetzt SPD-Vorsitzende ist, war 1995 bis 1999 Juso-Vorsitzende. 1998 ist sie in den Bundestag gekommen. Sie haben selber gesagt, nur Juso-Vorsitzender, da kann man auf Dauer doch nicht das bewirken, was Sie vielleicht bewirken wollen. Da geht’s letztendlich um Parlamente. Da geht’s um Regierung. – Haben sie so was wie einen Weg im Kopf? Natürlich müssen Sie auch immer nominiert und gewählt werden. Aber wie sieht’s im Kopf von Kevin Kühnert aus in den nächsten Jahren?

Kein Schlachtplan für die politische Karriere

Kevin Kühnert: Ich habe mir eigentlich nie so langfristige Pläne gemacht, weil ich finde, das macht einen unflexibel im Denken, weil man dann sehr verbiestert auf irgendwelche persönlichen Ziele hinarbeitet.
Meine Erfahrung in all den Jahren war eigentlich immer: Es hat sich was ergeben. Wenn man sich nicht ganz blöd anstellt und ein bisschen was kann, dann klappt das eigentlich. Deswegen muss ich mir nicht so einen Schlachtplan unbedingt machen. Vor allem bin ich in meinem Denken nicht so auf Mandate festgelegt.
Deutschlandfunk Kultur: Gut, aber ohne das geht’s ja letztendlich nicht.
Kevin Kühnert: Na ja, ich sehe ganz viele in meinem politischen Umfeld, die, im Rahmen von Stiftungen oder Gewerkschaften beispielsweise, ganz maßgeblich dazu beitragen, dass sich Dinge verändern. Es müssen auch Leute forschen. Es müssen auch Leute Lobbyarbeit für bestimmte Themen machen.
Deutschlandfunk Kultur: Warum glaube ich Ihnen nicht, dass Sie damit zufrieden wären?
Kevin Kühnert: Das weiß ich nicht, warum Sie das nicht glauben, aber ich kann das mit Überzeugung so sagen, weil ich einfach durch und durch ein politischer Mensch bin und ich es wirklich für einen groben Fehler halte, dass es nur eine Wahrnehmung gibt, die da sagt: Politik macht man in Parlamenten und Regierungen alleine.
Wenn ich mir meinen Politikalltag und den meiner Blase, in der ich mich ein bisschen bewege, angucke - wir haben von morgens bis abends Kontakt mit Leuten, so einen Dunstkreis drum herum. Wir wären ohne die vollkommen aufgeschmissen und könnten nichts machen. Das, finde ich, ist ein genauso wichtiger Teil von politischem Prozess wie das, was in Parlamenten stattfindet.
Deutschlandfunk Kultur: Kommen wir nochmal auf die Frage zurück, wie Ihre Partei mit Ihnen umgeht, als dem "Gesicht der Zukunft". SPD-Landeschef Müller wollte Sie zu seinem Stellvertreter machen. Das ist dann – so wurde es jedenfalls berichtet – am Bezirksquotenproporz gescheitert. Tempelhof-Schöneberg war schon. Sie sind jetzt in einer der Lenkungsgruppen, die es gibt, um über die Zukunft der SPD zu beraten. – Haben Sie wirklich das Gefühl, dass diese Partei in Ihnen ein Talent sieht oder doch eher den Kritiker, der ihnen das Leben schwer gemacht hat?

Wir sind ein wichtiger Hebel

Kevin Kühnert:Ich glaube, dass es eine Erkenntnis gibt, dass es notwendig ist, mich und damit die Jusos in irgendeiner Weise zu berücksichtigen in dem, was im Moment passiert. Wir haben zwar diese Abstimmung zur Großen Koalition nicht gewonnen, aber es haben mit uns zusammen etwa 120.000 Mitlieder dagegen gestimmt. Das Unglückliche für die SPD an dieser Situation war, dass die Jusos die einzige organisierte Gruppe in der SPD waren, die sich gegen die Große Koalition ausgesprochen hat. Das heißt, wir sind heute für viele, die Nein gestimmt haben, die hadern mit ihrer Partei, die Anlaufstelle – völlig egal, ob sie unter 35 oder schon weit über sechzig, siebzig sind. Die gucken auf uns und fragen: Was macht ihr jetzt mit der Erneuerung? Macht ihr denen jetzt ordentlich Feuer unterm Hintern?
Insofern sind wir ein ganz wichtiger Hebel, um Menschen überhaupt noch versöhnen zu können mit der Sozialdemokratie, nicht aufzustecken, auch wenn wir Anfang März eine wichtige Schlacht verloren haben. Mit dem Gedanken im Kopf gehe ich im Moment auch an diese ganzen Prozesse in Lenkungsgruppen ran und an alles, was die Welt einer Partei so zu bieten hat.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, dass der Prozess, "die Jusos retten die SPD", in gewisser Weise weitergeht. Sie reden im Lenkungsausschuss mit. Aber darüber hinaus - was können Sie konkret tun jenseits dessen, dass Sie die Partei piksen können?
Kevin Kühnert:Ja, ich kann das politische Kerngeschäft erledigen. Das besteht erstmal im Reden – mit der Partei, mit ihrem Umfeld. Mein Kalender hat sich, glaube ich, seit Anfang des Jahres am wenigsten verändert. Der ist nämlich immer noch voll mit Abendveranstaltungen bundesweit – in ganz vielen Parteigliederungen, bei Gewerkschaften und anderswo, die genau über solche Fragen diskutieren: Wie geht’s weiter jetzt mit der Erneuerung der SPD? Wie begleitet man die Bundesregierung? Wie bereitet man sich auf linke Bündnisse vor? Alle diese Fragen werden landauf, landab im Moment diskutiert.
Ich merke einfach, dass es, gerade mit Blick auf die Jusos, da ein großes Interesse gibt: Was möchten die ändern? Wie schaffen die es, dass der Erneuerungsprozess nicht wie letzten drei Versuche versandet, sondern dass der Spannungsbogen hochgehalten wird? Und wie kann man denen vielleicht auch dabei helfen? Darüber rede ich einfach im Moment ganz viel, versuche Ideen zu geben.
Wir machen viel wirklich harte Arbeit als Jusos im Hintergrund, schließen uns Wochenenden lang ein und versuchen an Ideen zu werkeln: Mit welchen Projekten kann man jetzt auch unsere Mitglieder losschicken in diese ganzen Veranstaltungen? Weil das Ziel natürlich ist, dass die da hingehen und dass die immer und immer wieder auf die gleichen Defizite hinweisen, damit sich am Ende ein Gefühl einstellt: Da müssen wir wirklich ran!

Nicht ins Populistische abdriften

Deutschlandfunk Kultur: Wir reden über Inhalte gleich noch, aber es geht ja auch immer darum, mit Inhalten durchzudringen. In einer, wie Sie gesagt haben, "Gesellschaft der permanenten Aufmerksamkeitsspirale und Effekthascherei" muss die SPD vielleicht spontaner werden, lauter werden, präsenter werden? Vor allen Dingen auch in den sozialen Medien? Also, ist das auch ein Ansatz, die Form, die Herangehensweise zu ändern?
Kevin Kühnert: Ja, das glaube ich schon. Das ist ein schmaler Grat, nicht ins Populistische abzudriften.
Deutschlandfunk Kultur: Eben, denn das sind ja die Methoden der rechten Populisten.
Kevin Kühnert: Ich würde Populismus so definieren: Das ist eine Vereinfachung in der Sache. Da werden Sachverhalte nicht vollständig dargestellt, simplifiziert.
Deutschlandfunk Kultur: Das hilft aber durchzudringen. Vielleicht müsste man das auch von links so machen?
Kevin Kühnert: Ja, aber ich finde, die SPD ist eine Partei, die sich als etwas Emanzipatorisches versteht, Menschen zum Denken anzuregen, ihnen auch Urteilsfähigkeit zu verschaffen. Denen muss man dann auch Komplexität zumuten. Ich finde, es ist eine starke Botschaft zu sagen: Ja, die Welt ist kompliziert. Wir wollen sie auch nicht einfacher machen als sie ist. Aber die Probleme sind lösbar, mit denen wir es zu tun haben.
Deutschlandfunk Kultur: Aber wenn andere herkommen und sagen: Sie ist zwar komplex, aber Probleme sind eigentlich ganz einfach zu lösen - dann ist der Zugang zu diesen Botschaften natürlich leichter, verlangt den Menschen weniger ab.

Menschen fragen sich, ob wieder Kriege vor der Tür stehen

Kevin Kühnert: Da muss man hinterfragen, ob das wirklich sein kann, dass es da so einfache Antworten darauf gibt.
Mit Blick auf die Europäische Union - ich mache das mal als Beispiel - wird gemeinhin heute gesagt: Ach, das ist alles viel zu kompliziert. 27, 28 Staaten, diese ganzen Prozesse dahinter. Aber unter den Bedingungen dieser Europäischen Union haben wir die längste Friedensphase, die wir jemals hatten in Europa, geschaffen. Und zwei, drei Männer auf dieser Welt, die genau das gegenteilige, nämlich das einfache, das nationalistische, das abschottende Konzept heute vertreten – Trump, Putin, Erdogan und andere –, schaffen es gerade, innerhalb von wenigen Monaten oder Jahren, diese Welt in eine Phase zu führen, wo sich viele Menschen nicht ganz zu Unrecht fragen: Stehen wieder Kriege vor der Tür? Gehen wir wieder alle zurück in unseren Nationalstaat, ins Schneckenhaus? – Das finde ich schon beeindruckend, wie ein komplexes Gebilde etwas geschaffen hat, was einzelne autoritär gestrickte Personen innerhalb einer ganz kurzen Zeit wieder überwinden können.
Deutschlandfunk Kultur: Mit Methoden, derer Sie sich unter Umständen auch bedienen müssen, jedenfalls in der Form – nochmal: Wir leben in Zeiten der Aufmerksamkeitsspirale, der Effekthascherei. Wenn man da durchdringen will, muss man zuspitzen und polarisieren. Beides gelingt nur mit Vereinfachung.
Kevin Kühnert: Oder mit Beispielen. Wenn ich im Moment nach Österreich schaue, dort passiert als Gegenwehr gegen diese rechte Bundesregierung gerade was ganz Spannendes. Die wollen den 12-Stunden-Tag dort wieder einführen. Es gibt eine sehr starke Kampagne - vor allem von den Gewerkschaften, aber eben auch von unserer Schwesterpartei, der SPÖ, die sich dagegen wehren. Die haben in Wien vor wenigen Wochen 100.000 Menschen auf die Straße gebracht, was dort wirklich eine Größenordnung ist. Da schlackern einem schon die Ohren. Und die haben das mit einer klaren Zuspitzung auf die Frage, was das eigentlich bedeutet für normale Arbeiterinnen und Arbeiter im Alltag, wenn die so was wieder ausgesetzt sind, geschafft, eine Politisierung weit über die üblichen Kreise hinzubekommen.

"Wir sind schlecht in der Emotionalisierung gewesen"

Ich sehe natürlich das Defizit. Die SPD ist über die ganzen Jahre der Regierungsbeteiligung - niemand hat seit 98 so viel regiert wie wir - eine Partei geworden, die auf einem Spielfeld sehr stark ist. Dieses Spielfeld ist das der Ministerien, der Gesetzesentwürfe, Ausführungsvorschriften und so weiter. Unsere Leute sind Weltmeister darin, das Kleingedruckte, und ich meine das überhaupt nicht verächtlich, da wird wirklich darüber entschieden, ob Politik am Ende Effekte hat oder nicht, da sind unsere Leute weltmeisterlich. Aber wir sind sehr schlecht zuletzt gewesen in der Emotionalisierung, in dem Mitnehmen, also eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was Menschen im Alltag ihres Lebens wahrnehmen, und dem, was die Politik dann daraus für Entscheidungen ableitet.
Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht gab's und gibt es auch noch ein anderes Problem - nämlich, dass die SPD genauso wie die Union "zu mittig" geworden ist. Es scheint ein Bedürfnis bei Menschen zu geben - ganz interessant, das Wochenmagazin DIE ZEIT hat in der vergangenen Woche darüber geschrieben - dass es wieder SPD oder Union, egal, wo man jetzt hinguckt, "pur" gibt, klare Kante, klare Unterscheidung. Das Dilemma dabei ist natürlich, dass sich gleichzeitig die Parteienlandschaft so verändert hat, dass eigentlich kaum noch Zweier-Koalitionen drin sind, eher Dreier-, und zwar lagerübergreifend. Wie kriegt man das Dilemma gelöst?

Unterscheidbarkeit ist heute das A und O

Kevin Kühnert: Das ist der wesentliche Punkt dieser Zeit. Wir haben einen Bundestag mit sieben Parteien. Unterscheidbarkeit ist da das A und O, insbesondere wenn man jetzt weder eine Partei am ganz linken oder am ganz rechten Rand ist. Da ist man quasi eingerahmt von anderen, von denen man sich absetzen muss.
Deutschlandfunk Kultur: Mit denen man aber gleichzeitig zwangsläufig, wenn man eine funktionierende Regierung haben will, unter Umständen zusammenarbeiten muss.
Kevin Kühnert: Absolut.
Deutschlandfunk Kultur: Genau mit denen, von denen man sich vorher abgegrenzt hat.
Kevin Kühnert: Ganz genau. Dabei gibt’s aus meiner Sicht zwei Aufgaben: Die erste - da sind wir nicht so gut im Moment drin - das ist die Frage von Alleinstellungsmerkmalen. Jeder kann den Selbstversuch machen und sich mal fragen: Was sind gerade die drei großen Themen, die ich mit der SPD verbinde? Ich finde, eigentlich muss man das von jeder Partei sagen können. Man müsste ad hoc als politisch interessierter Mensch sagen können: Ich verbinde die mit ABC. Da kommen bei uns sehr kleinteilige Sachen raus, wenn man da jetzt drüber anfängt zu reden. Das ist Punkt 1. Und das ist Teil unseres Erneuerungsprozesses, diese Leuchttürme, wie das dann immer so schön heißt, rauszuarbeiten und auch im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
Und der zweite Punkt ist, es hat ja auch eine Stärke, so viele Parteien zu haben. Eigentlich gibt es viel mehr Bündnisoptionen – klar, nicht mit der AfD - aber ansonsten in sehr viele Himmelsrichtungen.
Die SPD und auch andere Parteien sind angehalten, mal dafür zu sorgen, dass aus diesen theoretischen Bündnisoptionen auch mal praktische werden.
Deutschlandfunk Kultur: Da ist die Dreier-Koalition "Jamaika" wieder da. Sie trauern dem schon noch nach?

Egal, was man wählt - immer immer kommt GroKo dabei raus

Kevin Kühnert: Nee, ich trauere wirklich nicht Jamaika nach, aber es ist letztlich genauso wie bei meiner Partei ein Zeichen davon gewesen, dass wir uns häufig sehr, sehr schwer tun, auch mal Neues auszuprobieren. Wir reden gerne da drüber. Wir gehen vielleicht auch mal in die Verhandlung, aber am Ende machen wir es nicht. Und dabei tragen wir zu einer sehr weit verbreiteten Wahrnehmung bei, die nämlich sagt: Eigentlich kann ich wählen, was ich will - am Ende kriege ich immer diese verdammten großen Koalitionen dabei: Bundestag 2013, rot-rot-grüne Mehrheit - es regiert die Große Koalition. 2017, Jamaika-Mehrheit - es regiert die Große Koalition. Landtagswahl Niedersachsen, Ampelmehrheit - es regiert die Große Koalition.
Die Leute sind häufig verzweifelt, weil sie sagen: Wie soll ich denn noch Einfluss nehmen auf diesen Prozess, wenn ihr euch am Ende nie was traut? Das Einzige, was dabei rauskommt, ist die Lebensversicherung der Unionsparteien in allen Regierungen zu sein, weil sie ganz genau wissen, solange Rot-Rot-Grün streitet, solange Jamaika hier nicht zustande kommt, solange Ampel nicht vielleicht angestrebt wird, solange sitzen wir am Ende immer mit im Boot. – Und das macht mich wahnsinnig, muss ich sagen!
Deutschlandfunk Kultur: Jenseits der Koalitionsarithmetik und jenseits des Theaterdonners, den man gerade gehört hat, im Zusammenhang mit der Asyldebatte - eigentlich macht doch diese von Ihnen so heftig kritisierte Große Koalition im täglichen Geschäft eine ganz gute Politik, die auch einem überzeugten Sozialdemokraten gefallen müsste. Ich sage nur mal: Mindestlohnerhöhung beschlossen. Recht auf Vollzeitjobs, wenn man aus der Teilzeit kommt, beschlossen. Rentenpaket vorgestellt. Jetzt dieser Tage gerade ein Programm für Langzeitarbeitslose vorgestellt. Vereinfachung für Verbraucher, wenn sie gegen Unternehmen Schadensersatz einklagen wollen. Das klingt für mich sozusagen sozialdemokratisch pur.

Beschallung mit Asyl-Fragen

Kevin Kühnert:Sie haben in der Fragestellung bewusst am Anfang gesagt: Wenn wir mal den Theaterdonner der letzten Wochen ausklammern. – Und mir ist schon klar, der macht noch nicht unmittelbar Politik, sondern unmittelbare Politik sind die ganzen Projekte, die Sie eben aufgezählt haben. Aber ich glaube, man darf eines nicht unterschätzen. Man hat als politischer Akteur, als Partei auch eine Verantwortung dafür, die Dinge, die man macht, in den Mittelpunkt des Sprechens zu stellen. Das muss auch jemand mitkriegen.
Es ist schön, wenn sich für Menschen Lebensbedingungen verbessern, weil der Mindestlohn steigt oder weil wir jetzt nach langem, langem Ringen mit der Union endlich dieses Rückkehrrecht in Vollzeitbeschäftigung haben - gerade für viele Frauen wichtig. Aber wenn der öffentliche Eindruck gerade bei denen, die ein bisschen unsicher auf unsere Demokratie schauen, entsteht: die reden von morgens bis abends über Flucht, Asyl und Migration; das scheint ja Ausdruck davon zu sein, dass das gerade unser größtes Problem ist, dass hier wieder die Massen vor den Türen stehen und Einlass wollen nach Deutschland.
Dann vergiftet das eben das politische Klima. Dass es dann die gleichen Leute sind, die sich am Ende wundern, dass sie nicht durchdringen mit ihren ganzen Projekten, weil alle von morgens bis abends nur noch mit Asylfragen beschallt werden, das wundert mich dann wiederum, muss ich sagen.

Rückkehr zur Vollzeit stand schon im letzten Koalitionsvertrag

Deswegen gehört zum guten Regieren nicht nur das gute Handeln dazu, sondern auch eine politische Atmosphäre schaffen, in der die Leute sich mal wieder auf wesentliche Alltagsfragen konzentrieren können.
Jetzt kann man natürlich auch in die Details reingehen. Der Mindestlohn beispielsweise - na ja, wir haben damals eine Mindestlohnkommission dafür geschaffen. Die jährliche Anpassung wird von Arbeitgeber und Arbeitnehmerseite gemeinsam verhandelt. Da hat die Politik jetzt nicht fürchterlich viele Aktien mit im Spiel gehabt, dass es diese Anpassung gibt.
Und so sehr ich mich über dieses besagte Rückkehrrecht in Vollzeit freue, es stand auch schon im letzten Koalitionsvertrag. Es ist schlimm genug, dass viele so lange drauf warten mussten, bis es überhaupt gekommen ist.

Wo ist der Markenkern der Linken?

Oder die Parität bei den Krankenkassenbeiträgen, die jetzt wieder hergestellt wird - ja, ehrlicherweise, haben wir sie halt vor ein paar Jahren auch überhaupt erst abgeschafft. Ich kann verstehen, warum viele auf uns schauen und sagen: Na, das ist ja wohl das Mindeste, was da im Moment gerade passiert. Eigentlich korrigiert ihr vor allem Fehler, die ihr selber in den letzten Jahren gemacht habt.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt ja Leute, die sagen, das Problem der Linken, über die SPD hinaus, ist, dass sie sozusagen ihren Markenkern verloren hat, nämlich sich mit der sozialen Frage auseinanderzusetzen. Der Grüne Jürgen Trittin hat es sogar noch bösartiger gesagt. Er hat gesagt, dass die Nationalen, die soziale Frage usurpiert, sich ihrer widerrechtlich angeeignet haben. Ist das das Problem der Sozialdemokratie über Deutschland hinaus, letztendlich in ganz Europa, wenn man sich anguckt, wie die bei Wahlen zurzeit abschneiden, dass es der Rechten gelungen ist, sich das Etikett, wir kümmern uns um die kleinen Leute, anzuheften?

Kevin Kühnert:Sie geben das zumindest vor. Es ist ganz spannend, wenn man da tiefer auch in die Forschung rein guckt. Die meisten, die dann rechts wählen, weisen denen überhaupt gar keine Problemlösungskompetenz zu. Die wählen die nicht, weil sie ernsthaft glauben, dass die für sie Politik machen, aber weil die Enttäuschung so groß ist und sich ein Gefühl eingeschlichen hat, das da lautet: Ich muss jetzt einen Warnschuss loswerden; ich merke, ich kann die ärgern, diese sogenannten etablierten Parteien, wenn ich jetzt rechts wähle; und ich probiere es einfach mal damit.
Es gibt eine tolle Studie vom Progressiven Zentrum, einer Denkfabrik in Berlin. Die haben sich aufgemacht in Deutschland und in Frankreich in Hochburgen von AfD und Front National in Frankreich, weil sie gesagt haben: Es muss ja Gründe geben, warum an manchen Orten besonders viele Menschen die wählen. Wenn wir mal voraussetzen, dass es wahrscheinlich nicht das schlechte Wetter sein wird, dann muss es andere Gründe geben. Die haben Haustür-Interviews geführt und die Menschen, die sie dort getroffen haben, einfach mal reden lassen – nicht eine Telefonumfrage, sondern reden, reden, reden, über Hoffnungen, Ängste, Zukunft der Kinder und so weiter.

Wer hat uns verraten...?

Was die dort beschreiben, ist eigentlich eine Unzufriedenheit mit einer gesamtpolitischen Entwicklung der letzten zwanzig Jahre, die ganz viel kreist um diese soziale Frage. Die Leute haben das Gefühl, mir wird erzählt, ich bin in einem Sozialstaat, hier soll solidarisch miteinander umgegangen werden. Ich zahle meine Steuern, ich bin im Ehrenamt, aber was kriege ich eigentlich zurück? Ich wohne vielleicht im ländlichen Raum. Hier werden die Buslinien eingestellt, die Bahnlinien, die öffentlichen Wohnungen wurden verkauft. Wir haben keinen Supermarkt, keinen Arzt, keinen Jugendklub mehr.
Deutschlandfunk Kultur: Und wer hat uns da verraten? Sozialdemokraten!
Kevin Kühnert:Wir haben regiert in der Zeit. Und das ist der Zeitgeist gewesen, dem wir fatalerweise seit Mitte der 90er, mit all unseren Schwesterparteien hinterhergelaufen sind. Unter dem Motto: Jetzt ist mal gut mit so viel Sozialstaat. Vielleicht können es die Privaten an manchen Stellen doch besser. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Das sind ja die Erzählungen gewesen dieses neoliberalen Zeitalters.

"Man bekommt die Leute nicht überzeugt gequatscht..."

Heute singt keiner mehr dieses Lied auf unseren Parteitagen, aber viele, die damals beteiligt waren, sind noch selbst politisch auf der Bühne unterwegs. Die Erfahrung, die ich immer wieder mache ist - das unterstelle ich - dass da Leute sind, die haben das Gefühl, wenn man das jetzt alles rückabwickelt und sich von dieser Logik verabschiedet, dann bedeutet das auch einen Bruch und vielleicht auch eine Delegitimation der eigenen politischen Lebensleistung. Deswegen reden wir seit zig Jahren darüber: Hartz IV reformieren, und dann referieren wir es nochmal und nochmal und nochmal, anstatt einfach mal einen Cut zu machen zu sagen: Okay, wenn man vier Mal eine Bundestagswahl mehr oder weniger verloren hat, mit so einem Päckchen auf dem Rücken, dann wird man die Leute vielleicht nicht überzeugt gequatscht bekommen, dass das richtig war.
Sondern dann hat man vielleicht einfach die Aufgabe, sich über andere Konzepte Gedanken zu machen, um genau das, was ich aus dieser Studie aufgezählt habe, ernst zu nehmen: dass Leute sich abgehängt fühlen in der Gesellschaft und wieder ein stärkeres Gemeinwesen haben wollen, eine neue Definition vielleicht auch von Daseinsvorsorge.
Deutschlandfunk Kultur: Aber vielleicht liegt das einfach auch daran, dass das Konzept von "Partei" sich abgewirtschaftet hat. Denn die, die Erfolg haben - La République en Marche, die Bewegung des französischen Präsidenten Macron, auch die AfD in Deutschland - die kokettieren damit oder es ist tatsächlich auch so, dass sie keine Partei sind. Ist die Zeit der Parteienpolitik vorbei?
Kevin Kühnert:Ich kann das nicht global bewerten. Da stecke ich zu wenig drin. Ich glaube, dass Deutschland eine gewisse Sonderstellung hat. Viele Menschen fremdeln hier aus guten historischen - oder nicht so guten historischen - Gründen mit Personenkult-Bewegungen. Ich glaube, dass eine Gründung wie La République en Marche von Macron hier Schwierigkeiten hätte, Fuß zu fassen.
Deutschlandfunk Kultur: Das glaube ich nicht. Forsa hat gerade eine Meinungsumfrage gemacht - sorry, muss ich Ihnen jetzt mal vorlegen: Siebzig Prozent der ehemaligen SPD-Wähler wären bereit, eine Bewegung wie die Macrons zu unterstützen und ihr ihre Stimme zu geben – siebzig Prozent der ehemaligen SPD-Wähler!

Macron vollzieht in Frankreich Schröders Agenda nach

Kevin Kühnert:Die Frage ist, ob sich diese siebzig Prozent, dann mit vielen anderen noch zusammen auf ein gemeinsames Konzept einigen können, was sie eigentlich wollen. Viele, die Macron gewählt haben, merken ja jetzt - seine Umfragen gehen gerade mächtig runter - dass da nicht alles Gold ist, was glänzt.
Sicherlich, er hat gezeigt, man kann nationale Wahlen mit einer glasklaren Positionierung zur europäischen Einigung gewinnen. Viele merken aber eben auch, hinter den vielen Europafähnchen, die er geschwenkt hat, verbergen sich eben auch Sozialabbau, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Rückbau des öffentlichen Sektors, was im Moment in Frankreich passiert. Vieles, was hier rund um die Agenda-Politik in Deutschland passiert ist, wird mit einem gewissen zeitlichen Abstand in Frankreich gerade nachvollzogen. Und viele sind stark verunsichert darüber, ob das wirklich der Weg sein sollte.
Insofern - Politik ist kompliziert. Unsere Gesellschaft ist viel vielfältiger geworden, als das vor ein paar Jahrzehnten noch der Fall war. Hier geht’s nicht mehr darum, dass die einen die Arbeitnehmerschaft organisieren und die anderen die katholische Landbevölkerung und damit ist der Großteil des Feldes aufgeteilt, sondern die Gesellschaft ist vielschichtig. Das macht es für Parteien immer schwieriger zu sagen, wer ist eigentlich unsere Zielgruppe und – und das ist der schwierigere Teil – wer ist es auch explizit nicht.
Es gibt einen Kernsatz in der großen Wahlauswertung der SPD, die wir vor ein paar Wochen veröffentlicht haben. Der sagt sinngemäß: Eine Politik, die versucht, es allen recht zu machen, wird es am Ende niemandem recht machen. Das heißt, man hat die Aufgabe, auch klar zu sagen, wessen Interessen widerspricht man. Bei wem ist man nicht bereit, Privilegien, die sich über Jahre und Jahrzehnte angehäuft haben - zum Beispiel irrsinnige Vermögen, die da vorhanden sind - die weiterhin so zu akzeptieren?
Diese Klarheit haben wir vermissen lassen in den letzten Jahren, obwohl sie gerade von uns erwartet wurde.

Wohin geht die Sozialdemokratie in Europa?

Deutschlandfunk Kultur: Also keine sozialdemokratische Variante von En Marche?
Kevin Kühnert: Es gibt ja andere Beispiele in Europa, die sehr klassisch funktionieren. Ich finde es extrem spannend. Was passiert auf der Iberischen Halbinsel gerade, in Portugal eine links-linke Regierung, die irrsinnig gut in Umfragen dasteht…
Deutschlandfunk Kultur: Ja gut, aber das ist auch wirklich schon fast die Ausnahme. Wenn man guckt, Niederlande: unter sechs Prozent; Frankreich: knapp über sechs Prozent…
Kevin Kühnert: Wir können uns die Beispiele um die Ohren hauen…
Deutschlandfunk Kultur: Italien…
Kevin Kühnert: Spanien ist jetzt gerade durch einen glücklichen Umstand nach links gekippt, mit der Sozialdemokratie an der Spitze mit dem neuen Ministerpräsidenten und mit Podemos, dieser linken Bewegungspartei, zusammen. Wenige Monate nach der Übernahme der Regierung sind sie sechs Prozent in den Umfragen hoch und plötzlich wieder stärkste Kraft. Die haben auch jahrelang um die zwanzig Prozent da rum gekrebst, sind jetzt in Verantwortung, arbeiten in einem linken Bündnis. Plötzlich geht es wieder hoch.
Deutschlandfunk Kultur: Linkes Bündnis – also doch, wie heißt es - 2RG, also Rot-Rot-Grün?
Kevin Kühnert:Ja, was heißt "doch"? Für uns, für die Jusos ist das…<< /div>
Deutschlandfunk Kultur: Na ja – das wäre doch die Zukunft? Linke Bewegung ist eher schwierig…
Kevin Kühnert:Ich weiß nicht, ob das die Zukunft ist. Die SPD hat ja mal mit einer Koalition, die wir als Projekt bezeichnet haben - Rot-Grün war das damals - Erfahrungen gemacht. Aber ich wohne in Berlin. Ich werde sozusagen Rot-Rot-Grün in meinem Alltag regiert. Ich fühle mich ganz gut regiert. Und wenn ich mir die Programme angucke - das sind die Parteien, die programmatisch an vielen Stellen am nächsten an uns dran sind (vielleicht nicht in der internationalen Politik, da gäbe es sicherlich noch vieles zu klären), etwa bei Fragen des Sozialstaates und wo man ihn hin entwickelt soll oder wie Arbeitnehmer geschützt werden - da sind es ganz klar diejenigen, mit denen wir am schnellsten zusammenkommen.
Deutschlandfunk Kultur: Die Frage stellt sich aber gar nicht. Denn anders als bis 2017 hätte Rot-Rot-Grün ja gar keine parlamentarische Mehrheit mehr im Bund.
Kevin Kühnert: Das ist korrekt. 38 Prozentpunkte hatten wir nur zusammen bei der letzten Bundestagswahl – ein Grund mehr, die Kräfte auch zu sammeln, und zwar nicht einfach nur in Form einer Addition, sondern auch im Hinblick darauf, welche Strategie will man eigentlich fahren, um den Rechten in dieser Gesellschaft die Mehrheit auch wieder abnehmen zu können? Das muss ja als links denkender Mensch - egal, ob man damit Sozi ist oder bei den Linken oder bei den Grünen - das muss einen ja erstmal grundsätzlich antreiben. Und dafür wird man auch Bündnispartner über diese Parteien hinaus brauchen.

Vor dem Hintergrund muss ich sagen, der Begriff "Sammlungsbewegung", auch wenn er jetzt von Sahra Wagenknecht natürlich besetzt ist, den finde ich auch gar nicht falsch, wenn das heißt, sich zusammenzufinden, auch mal hinter verschlossenen Türen Konflikte auszufechten. Ich meine, wir haben gerade mit der Partei Die Linke zusammen wechselseitig ein ritualisiertes Spiel seit vielen Jahren, dass alle immer sagen: Ach, wir würden ja eigentlich gerne, aber die anderen, die bewegen sich halt nicht.Es ist ermüdend.

Die Rechten versuchen das Rad zurückzudrehen

Ich bin auch zunehmend nicht mehr bereit, das hinzunehmen, weil hier auch einfach eine Generation nachkommt. Denen wird gerade eigentlich ihre Grundlage, also die Welt, in die sie hinein geboren wurden, mit Brexit und Co weggenommen. Hier versuchen wirklich Leute, das Rad zurückzudrehen. Und die politische Linke macht Selbstbeschäftigung und ich muss mich hier mit Leuten abgeben, die vor zwanzig Jahren mal der SPD den Rücken gekehrt haben und bis heute ihr gekränktes Ego nicht unter Kontrolle bekommen. Das nervt mich wirklich tierisch.
Ich habe gar kein Problem auch mit Leuten zu reden, die schwierig sind. Ich würde mich auch mit Sahra Wagenknecht grundsätzlich erstmal hinsetzen und versuchen Differenzen auszudiskutieren. Aber, bitteschön, zielorientiert, mit der Zielstellung, gemeinsam eine Regierungsübernahme auch anzustreben.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Kühnert, danke fürs Gespräch.
Kevin Kühnert: Sehr gerne.
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