Junge Männer wohnen zu lange im "Hotel Mama"

Moderation: Marie Sagenschneider |
Nach Ansicht von Hans Bertram ist die niedrige Geburtenrate in Deutschland auch darauf zurückzuführen, dass junge Männer sehr spät aus dem Elternhaus ausziehen. Auch die langen Ausbildungszeiten und der späte Berufseinstieg würden zu einer Verschiebung des Kinderwunsches führen, sagte das Mitglied in der Kommmission der Bundesregierung zu Familienleistungen.
Marie Sagenschneider: Das Ziel ist formuliert, die Finanzierung aber nach wie vor umstritten. 500.00 zusätzliche Krippenplätze für die ganz Kleinen, für die unter Dreijährigen sollen bis 2013 geschaffen werden. Darauf hatte sich Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen mit den Familienministern der Länder verständigt Aber woher soll das Geld dafür kommen. Denn dass viele Bundesländer das nicht alleine werden stemmen können, ist klar. Die Große Koalition aber ist sich uneins. Die SPD schlägt vor, die nächste Erhöhung des Kindergeldes umzuwidmen, zugunsten der Krippenplätze. Was allerdings in der Union auf Widerstand stößt. Bundesfamilienministerin von der Leyen bleibt bislang ein Konzept schuldig. Hans Bertram ist Professor für Mikrosoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin, und er gehört einer Kommission der Bundesregierung an zum Thema Familienleistung und ist nun am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Guten Morgen, Herr Bertram!

Hans Bertram: Guten Morgen.

Sagenschneider: Haben Sie eigentlich Verständnis dafür, dass man sich nun derart um die Finanzierung streitet, nachdem ja doch alle mehr Krippenplätze wollen?

Bertram: Doch, das ist gut verständlich, weil das kostet ja mehr Geld, und das muss man in irgendeiner Weise jetzt doch finden und das setzt eine andere Prioritätensetzung voraus. Und ich denke schon, dass das ein schwieriger Prozess ist. Und wir haben das bisher bei allen Vorhaben gesehen, ob es nun um Gesundheit oder anderes geht, dass man sich dann doch ganz intensiv um die Finanzierung kümmern muss.

Sagenschneider: Nun ist es immerhin Konsens, mehr Krippenplätze für die unter Dreijährigen zu schaffen. Wie zentral ist dieses Projekt aus Ihrer Sicht?

Bertram: Also ich denke, es ist schon eine relativ wichtige gesellschaftliche Aufgabe, weil sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten ja sowohl die Ökonomie wie aber auch die Lebensperspektiven junger Erwachsener massiv geändert haben. Wir können heute in unserer Gesellschaft auf die Qualität und die Qualifikation junger Frauen in dem ökonomischen Prozess gar nicht mehr verzichten. Das hat demografische Gründe, das hat ökonomische Gründe. Und auch der Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft macht das einfach erforderlich. Und auf der anderen Seite wissen wir, dass die Entwicklung von Kindern, insbesondere in einer Gesellschaft, in der Kinder aus ganz unterschiedlichen Hintergründen in diese Gesellschaft integriert werden müssen, es erforderlich macht, dass die auch ein hohes Maß an Unterstützung und Hilfe nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch die Gesellschaft bekommen.

Sagenschneider: Und diese geplanten 500.000 Plätze zusätzlich, die reichen aus?

Bertram: Ja, die Bundesregierung stützt sich da ja auf eine empirische Untersuchung des deutschen Jugendinstituts, wo man versucht hat, für die einzelnen Länder das in etwa herauszurechnen, wie wohl die Nachfrage sein wird. Und ich denke, das ist schon eine Größenordnung, die sehr vernünftig ist. Die entspricht in etwa dem europäischen Durchschnitt, wenn man auch in Europa sehen kann, dass es etwa in Frankreich oder auch in Nordeuropa für etwa 30 Prozent bis 35 Prozent der Kinder ein entsprechendes Angebot gibt.

Sagenschneider: Geben wir eigentlich, Herr Bertram, überhaupt genügend Geld aus für Kinder und für Familien, oder geben wir tatsächlich genügend Geld aus und verteilen es nur falsch?

Bertram: Das ist wirklich eine ganz schwierige Frage. Wir können jedenfalls sagen, dass Deutschland – wenn man jetzt die Familien betrachtet – im europäischen Mittelfeld sich befindet. Das heißt, wir geben ungefähr pro Kopf der Familien so viel aus, wie wir das auch schon beispielsweise in Frankreich oder auch in anderen Ländern beobachten können. Der Punkt ist nur, wir geben es nicht so gezielt aus wie diese anderen Länder, sondern wir geben es etwas breiter aus. Dass möglicherweise bei den einzelnen Familien insgesamt so viel ankommt, das hat historische Gründe, dass wir das so machen.

Meinetwegen in Frankreich gibt es für das erste Kind kein Kindergeld, dafür ist aber die Betreuungssituation für die Kinder, die aus Ein-Kind-Familien kommen, sehr viel besser als bei uns, weil die Franzosen beispielsweise davon ausgehen, dass erst bei einer Mehrkinderfamilie die finanzielle Unterstützung besonders deutlich ausfallen sollte, weil es dann aus staatlicher Sicht billiger ist, wenn die Kinder durch die Mütter selbst betreut werden, als wenn der Staat dort sozusagen zusätzlich investiert. Das sind ganz unterschiedliche Muster. Und man muss zum zweiten eben sagen, wenn man jetzt insgesamt ökonomisch das betrachtet, geben wir in Relation zu anderen Ländern aber für die Infrastruktur für Kinder sehr viel weniger aus. Das heißt, wir geben zwar direkte finanzielle Transfers relativ gut, wie andere Länder, aber das, was Infrastruktur für Kinder angeht, da sind wir relativ schlecht.

Sagenschneider: Aber um noch mal zu dem ersten Teil, über den wir gesprochen haben, zurückzukommen: Was müsste man dann stärker bündeln, um da vielleicht auch effektiver sein zu können?

Bertram: Das ist natürlich eine wirklich schwierige Frage, und zwar aus einem ganz einfachen Grund, weil natürlich bei uns anders als in anderen Ländern sowohl das Steuerrecht, aber auch das Sozialrecht wie eine ganze Reihe von Rechtsthemen berührt sind, sodass man nicht einfach sagen kann, jetzt machen wir das mal so, weil das viele Folgewirkungen hat. Andere Länder, man kann das also ganz klar sagen, es gibt einfach Länder, die im Grunde gesagt haben, wir haben eine individuelle Besteuerung einer jeden Person, und wenn da Kinder sind, dann gibt der Staat direkte Zuschüsse, völlig unabhängig vom Steuerrecht.

Dann haben wir wiederum andere Länder, die sagen in unserer steuerrechtlichen Konstruktion, wir berücksichtigen jetzt nicht nur – wie bei uns etwa im Ehegatten-Splitting –, sondern wir berücksichtigen die ganze Familie. Das machen zum Beispiel die Franzosen. Oder wieder andere, wie etwa die Engländer, die sagen, nein, wir besteuern schon die Haushalte, und dann gehen wir davon aus, dass das Existenzminimum immer steuerfrei ist und ziehen sozusagen die Summen, die dazu notwendig sind, von der Steuerschuld der Erwachsenen ab. Und wenn die nicht genügend verdienen, dann gibt der Staat sozusagen direktes Geld, das nennt man eine negative Einkommenssteuer.

Und wir haben uns sozusagen in Deutschland noch nicht entscheiden können, welche der verschiedenen Möglichkeiten, die es da gibt, wirklich sinnvoll sind, und das ist ein, glaube ich, etwas kompliziertes Unterfangen, dieses nun tatsächlich auch auf die Beine zu stellen.

Sagenschneider: Sie haben vorhin gesagt, Herr Bertram, was die Finanzierung von Kindern und Familien anbelangt, da liegt Deutschland im Mittelfeld, was Europa anbelangt, was die Geburtenrate anbelangt, liegen wir am unteren Ende der Skala. Wie man jetzt im letzten Familienbericht nachlesen konnte, an dem Sie auch mitgearbeitet haben, hat es wohl auch was damit zu tun, dass es eine – ich zitiere das jetzt mal – "spezifische deutsche Lebensverlaufsplanung" gibt, was, glaube ich, kurz gefasst meint, die Ausbildungsphase ist viel zu lang, oder?

Bertram: Nicht nur das, sondern ich glaube schon, dass wir uns in einem Punkt von anderen europäischen Ländern unterscheiden, gerade was junge Erwachsene angeht. Wir wissen zum Beispiel, dass es in Deutschland ähnlich wie in anderen Ländern mit einer geringen Geburtenrate die jungen Männer sehr spät aus dem Elternhaus ausziehen, also das berühmte "Hotel Mama", und es ist völlig klar, wenn sie lange bei ihren Eltern wohnen, dann ist es nicht so, dass sie sich für eine Partnerin mit Kind entscheiden, sondern sie haben vielleicht eine Partnerin, aber auf das Kind werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach verzichten zunächst mal. Und dieses lange Leben bei den Eltern, etwa von den jungen Männern, hängt natürlich teilweise von der längeren Ausbildung ab, aber es gibt auch viele junge Männer, die bei den Eltern wohnen, obwohl sie eigentlich ausziehen könnten. Das ist sozusagen ein Faktor, da unterscheiden wir uns sehr deutlich von anderen Ländern.

Den zweiten Faktor haben Sie schon genannt, das ist die sehr viel längere Ausbildung. Die anderen Länder haben eher eine gestufte Ausbildung, das heißt, man macht beispielsweise nach drei Jahren akademischer Ausbildung einen Abschluss, geht dann arbeiten, und fünf Jahre später, wenn man auch schon eine bestimmte Berufspraxis hat, macht man eine weitere Ausbildung. Die hatten sozusagen im Lebensverlauf einen Lernprozess organisiert. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir in Deutschland, glaube ich, auch sehr viel stärker als in anderen Ländern den jungen Erwachsenen eigentlich zumuten, dass die Integration in die Arbeitswelt doch in der Regel über sehr kurzfristige Arbeitsverträge – schönes Stichwort: Generation Praktikum – erfolgt, sodass im Grundsatz die jungen Leute eigentlich vor der Herausforderung stehen, in einer sehr kurzen Zeit, wenn sie es denn geschafft haben, sozusagen Partnerschaft, Familie, Kinder und Etablierung im Beruf zusammenzubringen. Man kann das richtig schön ausrechnen: Die heutigen jungen Erwachsenen haben etwa fünf Jahre, vom etwa 28. bis 33., 35. Lebensjahr Zeit, dieses alles zu bewältigen …

Sagenschneider: Was sehr, sehr knapp ist. Herr Bertram, wir müssen hier leider eine Zäsur machen, weil die Nachrichten drohen. Aber ich danke Ihnen sehr. Hans Bertram war das.