Jung und unverwundbar

Von Gerd Brendel |
Standpauke, Gardinenpredigt, Bußruf: Wer anderen moralisch kommt, duldet keine Widerrede. Insofern passt "Moral" als Thema für das einzige deutschsprachige Festival der Theater-Monologe in Berlin hervorragend.
Vorhang auf für Solisten mit einer Botschaft:

"Moral ist Mord, Moral ist Gewalt .. Moral ist die Mitte."

Mit einer Beichte:

"I am right now at prison in Argentina. I am here because I trafficked drugs."

Oder mit einem Zaubertrick. Einem Trick, der so groß ist, dass es dem Zauberkünstler selbst die Sprache verschlägt. Das alles findet sich im Programm des Monolog-Festivals im Theater-Discounter, einer Berliner Off-Bühne in einem leergeräuntes Großraumbüro. Das Thema in diesem Jahr lautet "Jenseits von Gut und Böse." Es geht um Moral, erklärt Michael Müller, einer der beiden Festival-Kuratoren:

"Uns geht’s bei Moral nicht um Gesetz, sondern um die Frage, was regelt das Zusammenleben und wie verortet sich der einzelne zu den anderen und auch zu der Welt."

Denn "keiner lebt für sich alleine und irgendwie muss man's fassen, was das Regelwerk ist"."

Das Programmheft zitiert Jesajas hochmoralische Weherufe, aristotelische Ethik und Lenins programmatische Frage: Was tun? Für Moralprediger aller Zeiten bot der Monolog die ideale Form. Aber im Theater von heute, wo sich Solisten nicht mehr auf die Autorität eines Gottes, einer Kirche oder einer Partei berufen können, entscheidet sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit eines Monologs nach anderen Kriterien.

""Das ist auch 'ne schwierige Position auf der Bühne und die ganze Zeit über diese Strecke die Aufmerksamkeit halten zu können."

Weniger Prediger- als die Qualitäten eines Alleinunterhalters sind also beim Monolog-Festival gefragt. Aber nicht alle Performer erfüllen die Erwartung. Michael Kranz vom Münchner Theater-Kollektiv "Hunger und Seide" kann den Spannungsbogen zum Beispiel nicht halten:

"Du bist unterwegs in deiner Welt alles macht Sinn, du triffst Entscheidungen, du sorgst für dich für andere."

Das "du" meint jeden im Raum, inklusive den Darsteller selbst.

"Du hast interessante Augen. Du bist jung. Und unverwundbar. Du bist Schauspieler."

Und trotzdem geplagt von Skrupeln, nie genug zu tun gegen das Böse in der Welt. Das ehrt den blauäugigen Schauspieler und ist langweilig, vor allem als er den Zuschauern eine Diskussion über seine Skrupel aufdrückt. Theater ist eben kein Ethik-Seminar und erst recht keine Gruppentherapie:

"Mir geht’s um Fragestellungen im Theater. Mich würde nur interessieren: Ist das hier totaler Blödsinn? – "Wir sind vieles gewohnt."

"Wir sind vieles gewohnt", murmelt ein Zuschauer. Zum Glück sind die Kuratoren so klug, mindestens zwei Monologe an jeweils einem Abend spielen zu lassen. Und so gab es am Eröffnungswochenende des Festivals auch zwei Höhepunkte zu sehen: Vorhang auf für einen Zauberkünster und für eine Beichte

"I come from a former communist country and I am in prison."

In "Fluchtpunkt" von Laura Kalauz und Agostina Lopez hören die Zuschauer Lilis Monolog nur über Kopfhörer. Denn Lili kann nicht kommen, sie sitzt gerade eine Haftstrafe in einem argentinischen Gefängnis ab.

"I trafficked in drugs."

Lili kommt aus Osteuropa und wurde wegen Drogenschmuggel verurteilt. Lili erzählt vom Gefängnisalltag. Ihr Alltag folgt Regeln, die nur schwer nachvollziehbar sind. Warum dürfen Besucher Liebesgedichte mitbringen, aber keine anderen Texte? Warum ist es einfacher, Beruhigungspillen vom Gefängnisarzt verschrieben zu bekommen, als Augentropfen? "We can talk", sagt die Telefonstimme. "Wir können reden, aber man darf sich dabei nicht erwischen lassen". Eine der beiden Regisseurinnen trägt eine Papptafel durch den Raum: "talk gleich Sex" steht darauf. Dann entschuldigt sich Lili, weil der tägliche Zählapell ansteht. Und ohne dass Lili die Fragen selbst stellt, ist man als Zuschauer mitten drin in der Diskussion um Gut und Böse, um Freiheit und Strafe. Als am Ende Lili ihre Telefonnummer diktiert , schreiben ein paar mit. Der Sprung von der Bühnenfiktion ins reale Leben mit seinen echten moralischen Fallstricken gelingt.

Die großartigste Performance des Monolog-Festivals bisher hat auf den ersten Blick wenig mit Moral zu tun, aber sehr viel mit den Qualitäten eines Alleinunterhalters. Die Hamburger Gruppe "MeyerundKoswik" lässt in ihren Inszenierungen Menschen aus deren Leben erzählen. Im "Houdini-Gen" erinnert sich der Schauspieler Marc von Henning an eine Zaubervorstellung in New York. Auf offener Bühne verwandelt er sich in den Zauberer Steve. Die Selbstzweifel sind dem Illusionisten ins Gesicht geschrieben. Wortlos wirft er Seidentücher in die Luft und mischt Karten, aber kein Trick gelingt. An die Rückwand wird ein Text projiziert, der trotzdem den größten Zaubertrick aller Zeiten ankündigt. "Was, wenn die Zwänge, die uns daran hindern so zu sein, wie wir sein wollen, nur eingebildete Ketten sind?", fragt der Text. Und dann wird die Pointe an die Wand geworfen: Während andere Zauberer vorgeben, die Gedanken ihrer Zuschauer zu lesen, können in Steves Vorstellung die Zuschauer die Gedanken des Zauberers lesen. Das moralische Gewissen als große Illusionsnummer? Alles eine Frage der Manipulation? Die Antworten müssen sich die Zuschauer selber geben, oder in den nächsten Aufführungen des Monolog-Festivals suchen.

Informationen des Theaterdiscounters zum Festival "Jenseits von Gut und Böse"