Jung: Helfen, schützen, vermitteln und kämpfen

Im Gspräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler |
Die internationale Gemeinschaft hat in Afghanistan nach den Worten von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung spürbare Erfolge erzielt. Im Zuge des Stabilisierungsauftrages müsse die schnelle Eingreiftruppe helfen, schützen, vermitteln, aber auch kämpfen, sagte er. Er unterstrich seine Forderung, das Kontingent an deutschen Soldaten aufzustocken, um den zivilen Aufbau zu stärken.
Deutschlandradio Kultur: Am Donnerstag sind zwei deutsche und zwei spanische Soldaten bei einem Hubschrauberunglück in Bosnien ums Leben gekommen. Das ist ein Moment, um innezuhalten. Wie viel tote Bundeswehrsoldaten, die in einem Auslandseinsatz gestorben sind, gibt es bereits?

Franz Josef Jung: Zunächst will ich einmal sagen, dass dadurch wieder einmal deutlich geworden ist, dass diese Einsätze mit Risiko für Leib und Leben für unsere Soldatinnen und Soldaten verbunden sind. Von daher ist dieser tragische Unfall natürlich ein Punkt, wie Sie zu Recht sagen, ein Moment, sich wieder bewusst zu werden über diese Situation, auch in einem Land wie Bosnien-Herzegowina. Ich habe mit Betroffenheit von diesem Unfall erfahren – wir sind derzeit bei der Aufklärung – und auch den Angehörigen mein Mitgefühl übermittelt. Wir haben insgesamt jetzt im Rahmen unserer Auslandseinsätze 72 Tote. Ich glaube, von daher wird deutlich, welchen Einsatz die Bundesrepublik leistet für Frieden und Stabilität, aber auch damit für unsere Sicherheit.

Deutschlandradio Kultur: Wie gedenken wir der gefallenen Soldaten hier in Deutschland? Gibt es schon ein Ehrenmal?

Jung: Das ist gerade ein Punkt, den ich hier aufgenommen habe, weil es bisher kein derartiges Gedenken gibt. Ich finde, dass es schon eine Verpflichtung des Staates ist, wenn er Soldatinnen und Soldaten in riskante Einsätze mit Risiko für Leib und Leben schickt, dass er auch diejenigen würdigt, die bei einem solchen Einsatz ihr Leben gelassen haben. Wobei ich hinzufüge, es geht aber auch darum, dass diese Soldatinnen und Soldaten, die im Einsatz für die Bundeswehr ihr Leben gelassen haben, ebenfalls gewürdigt werden. Das sind insgesamt in der Geschichte der Bundeswehr rund 2 600 Soldatinnen und Soldaten. Deshalb wollen wir hier an dem Platz, der in der Bundeshauptstadt, der hier in Berlin für die Bundeswehr steht, nämlich der Bendler-Block, das Bundesverteidigungsministerium, ein Ehrenmal errichten, um all denen ein ehrendes und würdiges Andenken zu bewahren, die im Einsatz für die Bundeswehr ihr Leben lassen mussten.

Deutschlandradio Kultur: Wann wird das sein?

Jung: Wir haben jetzt die Baugenehmigung. Wir sind jetzt an den vorbereitenden Arbeiten. Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr den Grundstein legen können und dass wir das auch im nächsten Jahr abgeschlossen haben werden.

Deutschlandradio Kultur: Wie betreuen Sie die Überlebenden, einmal die Familienangehörigen, aber auch verletzte Bundeswehrsoldaten? Will nach Jahren beispielsweise noch jemand ihre Geschichte hören?

Jung: Zunächst einmal will ich sagen, dass wir im Hinblick auf die verletzten Bundeswehrsoldaten ebenfalls eine Verbesserung geschaffen haben, nämlich das Einsatzweiterverwendungsgesetz. Sehr konkret: Es gab bisher nur die Situation, dass – wenn jemand verwundet wurde und medizinisch wieder hergestellt war – er auf Versorgung verwiesen worden ist und kein Recht auf Weiterbeschäftigung hatte. Das ist auf meinen Vorschlag jetzt geändert worden. Der Deutsche Bundestag hat dieses Gesetz verabschiedet. Ich halte es auch für notwendig und richtig, dass der Staat, der Soldatinnen und Soldaten in riskante Auslandseinsätze schickt, dann auch – wenn eine entsprechende Verwundung eintritt, sie aber wieder hergestellt sind – eine Verpflichtung hat, ihnen ein Recht auf Weiterbeschäftigung einzuräumen. Deshalb bin ich dankbar, dass wir das jetzt haben regeln können.

Die weitere Frage: Wir sind natürlich sehr intensiv bemüht, auch das gesamte Thema der Familienbetreuung hier aufzunehmen. Wir haben dort entsprechende Zentren über die Republik auch eingerichtet. Da ist einmal die ganze Frage der Abwesenheit und die Belastung der Familien durch den Auslandseinsatz, aber auch, wenn eine Situation eintritt, wie beispielsweise Verwundung, dass dann hier Hilfe bereitgestellt wird, sowohl im medizinischen, aber auch bis zum psychologischen Bereich. Ich glaube, das sind wichtige Aktivitäten, die hier die Bundeswehr leistet und die sie auch herausfordert, gerade durch die Auslandseinsätze.

Deutschlandradio Kultur: In Bosnien war das vielleicht ein tragischer Unfall. In Afghanistan könnte die Sache komplizierter, gefährlicher sein. Sie schicken jetzt 200 Soldaten in den Norden, eine schnelle Eingreiftruppe. Ist diese Truppe besonderen Gefahren ausgesetzt?

Jung: Diese Quick Reaction Force, also schnelle Eingreiftruppe, ist eine Reserve. Eine Reserve ist immer für die Aufgaben da, die jetzt die anderen auch schon machen. Das heißt im Klartext: Sie hat keine neue Qualität. Aber wir haben ja bisher diese schnelle Eingreiftruppe ebenfalls geführt, denn wir haben die Verantwortung für das Region Command North, sprich, das Kommando im Norden. Darunter war die schnelle Eingreiftruppe. Die haben allerdings die Norweger gestellt. Jetzt stellen wir sie ab 1. Juli. Diese Reserve, wenn ich das mal beispielhaft sagen darf, hat eine gewisse Feuerwehrfunktion, aber im Hinblick auf die Aufgaben, die auch jetzt schon vor Ort geleistet werden müssen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, die kommen nicht in neue Kampfhandlungen rein, wo andere Soldaten im Moment noch nicht mit betroffen sind?

Jung: Nein, es hat keine neue Qualität. Auch jetzt schon sind natürlich Soldaten, wenn es um die Frage der Herstellung von Sicherheit geht, beispielsweise in sehr konkreten Operationen, auch im Norden zum Westen hin mit in der entsprechenden Unterstützung gewesen, natürlich auch dann in Kampfhandlungen. Im Klartext: Dieser Stabilisierungsauftrag, den wir dort leisten, hat vier Komponenten, einmal das Thema Helfen, Schützen, Vermitteln, aber auch Kämpfen. Von daher ist das auch die Funktion, die die schnelle Einsatztruppe, die Quick Reaction Force, zu erfüllen hat.

Deutschlandradio Kultur: Aber nun wird ja auch aus dem Parlament die Kritik geäußert, dass die Einsatzregeln für eine solche Eingreiftruppe nicht mehr richtig greifen. Polizisten haben mehr Rechte als Bundeswehrsoldaten, wenn sie beispielsweise Kriminellen oder auch Terroristen hinterherlaufen wollen. Sie dürfen nicht schießen.

Jung: Ich habe dies noch mal mit dem militärischen Berater der Bundeswehr abgestimmt, das heißt, unserem Generalinspekteur, der aus meiner Sicht zu Recht darauf hingewiesen hat, dass wir natürlich klare Regeln haben. Wir haben die Rules of Engagement. Und wir haben auch für unsere Soldaten eine Taschenkarte. Im Klartext: Das heißt, sie haben selbstverständlich das Recht auf Selbstverteidigung. Das gilt natürlich auch für unmittelbar bevorstehende Gefahren. Ansonsten gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch für die Polizei. Deshalb, denke ich, sind die Rahmenbedingungen so, dass unsere Soldaten ihren Auftrag korrekt wahrnehmen können.

Deutschlandradio Kultur: Darf dieser Kampfverband offensiv vorgehen, wenn er potenzielle Angreifer zurückdrängen will, oder muss er warten, bis er angegriffen wird?

Jung: Zunächst einmal: Wir haben einen klaren Stabilisierungsauftrag. Ich sage Ihnen, wir haben selbstverständlich auch jetzt beispielsweise nicht nur Waffenlager ausgehoben, sondern wir haben auch einige – wie wir es nennen – Opposing Militant Forces dingfest gemacht. Selbstverständlich wird dann auch aktiv vorgegangen, um ein solches Festsetzen zu erreichen, immer unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

Deutschlandradio Kultur: Im Süden Afghanistans läuft gerade ein Einsatz von Nato-Truppen, auch von afghanischen Armeeangehörigen gegen Rebellen. Sind da auch deutsche Soldaten beteiligt?

Jung: Nein, es sind keine deutschen Soldaten an dieser Aktion beteiligt. Tatsache ist aber, dass diese Aktion im Wesentlichen von afghanischen Kräften geführt wird. Ich will damit auch unterstreichen, dass gerade die afghanischen Streitkräfte mittlerweile einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit in Afghanistan leisten.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, Sie sind nicht beteiligt, heißt das: weder direkt, noch indirekt?

Jung: Richtig.

Deutschlandradio Kultur: Nun haben Sie dort im Norden derzeit 3 500 Soldaten, die Sie einsetzen könnten laut Mandat. Sie wollen mehr Soldaten haben. Wie viel soll es werden?

Jung: Also, hier geht es darum, dass wir uns die Frage stellen: Wie sieht das neue Mandat aus? Das neue Mandat wird ab dem 13. Oktober gelten, denn das jetzige Mandat mit einer Obergrenze von 3 500 läuft bis zum 13. Oktober. Und wir haben die Frage aufgeworfen, ob wir hier nicht ein Stück mehr Flexibilität brauchen, gegebenenfalls für Aufgaben, beispielsweise im Hinblick auf die Ausbildung. Wir wollen die Ausbildung verdreifachen. Wir wollen im nächsten Jahr 7 500 afghanische Soldaten ausbilden. Ich denke, das ist auch in unserem Interesse, denn wir haben ja das Ziel, dass Afghanistan selbst in der Lage ist, für seine Sicherheit zu sorgen. Das bedeutet, ausgebildete Streitkräfte, ausgebildete Polizei. Im nächsten Jahr stehen in Afghanistan Wahlen an. Auch das wird gegebenenfalls sicherheitspolitische Herausforderungen an dem einen oder anderen Punkt nach sich ziehen. Deshalb werden wir hier eine neue Mandatsobergrenze formulieren, die ein Stück mehr Flexibilität für die Bundeswehr ergibt.

Das heißt aber nicht, dass die Soldaten, die wir dann in der Obergrenze haben, dort alle im Einsatz sind, sondern es geht darum, dass hier auch gegebenenfalls bei weiteren Herausforderungen im Hinblick auf den Schutz unserer Soldaten ein Stück mehr Flexibilität besteht.

Deutschlandradio Kultur: Zahlen wollen Sie nicht nennen? Die Größenordnung wäre zumindest interessant.

Jung: Das kann ich verstehen, die nenne ich Ihnen aber jetzt nicht. Die werden – so, wie ich das gesagt habe – vor der Sommerpause genannt.

Deutschlandradio Kultur: Wo klemmt es dann? Die Sommerpause beginnt doch gleich.

Jung: Nein, erstens haben wir nächste Woche noch eine Sitzungswoche. Zweitens wird auch die Regierung erst Mitte Juli in die Sommerpause gehen.

Deutschlandradio Kultur: Selbst der verteidigungspolitische Sprecher Ihrer Partei sagt, er möchte gerne die Zahlen haben. Da scheint doch Druck im Parlament zu sein. Die wollen Zahlen haben. Sie wollen sich drauf einstellen, worüber sie abstimmen wollen.

Franz Josef Jung: Das ist auch ein gutes Recht und ich werde auch die Zahlen, so wie ich das gesagt habe, nennen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben darauf hingewiesen, dass die zusätzlichen Soldaten zum Beispiel in die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte gehen könnten. Es gab am Rande der Pariser Afghanistankonferenz immer wieder Kritik, die Nato habe für Afghanistan eigentlich kein geschlossenes Konzept. Man wisse nicht, wie es aussehen soll, wenn man drin bleibt. Man wisse nicht, wie es aussehen soll, wenn man wieder rausgeht. Woran hapert es denn da?

Jung: Also, diese Information ist natürlich falsch. Beim Nato-Gipfel in Bukarest haben gerade die Staats- und Regierungschefs eine Gesamtstrategie beschlossen, die aufgrund unserer Initiative im Rahmen der Verteidigungsministerkonferenz vorbereitet worden ist. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich bin sehr dankbar, dass wir diesen Beschluss haben. Denn der Beschluss hat im Wesentlichen zwei Komponenten: einmal, dass wir den Comprehensive of approach, das heißt, den umfassenden Ansatz oder, wie wir es nennen, die vernetzte Sicherheit umsetzen. Allein militärisch können wir dort nicht gewinnen. Wir brauchen Sicherheit, aber auch Wiederaufbau und Entwicklung. Ohne Sicherheit keine Entwicklung, aber ohne Entwicklung auch keine Sicherheit.

Der zweite Punkt ist die Frage der selbsttragenden Sicherheit. Das heißt im Klartext, eine Zielorientierung, dass die afghanische Regierung selbst in der Lage ist, für ihre Sicherheit zu sorgen. Das bedeutet Ausbildung von Streitkräften. Das bedeutet Ausbildung von Polizei, auch mit einer entsprechenden Anzahl, die hier in die Planung mit einbezogen ist. Im Übrigen will ich sagen: Wir sind bisher aus meiner Sicht im Hinblick auf die internationale Gemeinschaft erfolgreich in Afghanistan. Es wird viel zu oft vergessen, dass 28 Millionen Menschen von der Terrorherrschaft der Taliban befreit worden sind. Es wird vergessen, dass fünf Millionen Flüchtlinge zurückgekehrt sind in dieses Land. Es gehen nicht nur eine Million Kinder in die Schule, es gehen mittlerweile sieben Millionen Kinder in die Schulen. Wir haben dort Universitäten. Es sind übrigens 38 Prozent Frauen, die an diese Universitäten gehen in einem islamisch geprägten Land. Wir haben medizinische Grundversorgung von 80 Prozent. Wir haben Einkommensverdoppelung, Infrastruktur verbessert. Also, wir sind hier auf dem richtigen Weg.

Damit will ich die Situation nicht beschönigen, wo wir in dem einen oder anderen Punkt auch sicherheitspolitisch herausgefordert sind. Aber mir kommt – auch in der öffentlichen Debatte – zu kurz, was bisher an Erfolgen hier von Seiten der internationalen Gemeinschaft auch erreicht worden ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie sind es doch auch, der die Regierung Kasai öffentlich kritisiert und gesagt hat: Es gibt zu viel Korruption. Die Verwaltung funktioniert nicht. Da gibt es doch Mängel, mit denen Sie nicht einverstanden sind.

Jung: Das ist der andere Punkt, der dazu gehört. Das haben wir auch in Paris jetzt noch einmal sehr deutlich formuliert, wo gegebenenfalls noch Punkte sind, die jetzt weiter zu verbessern sind.

Gute Regierungsführung heißt aber auch, dass ich dort nicht korrupte Strukturen haben, und heißt auch, dass ich nicht Beziehungen beispielsweise zur Drogenwirtschaft und andere Dinge haben darf.

Deutschlandradio Kultur: Da hilft öffentliche Kritik Richtung Kasai? Oder müssen Sie nicht eher versuchen, informell, diplomatisch enger zusammenzuarbeiten und auf die Mängel hinweisen?

Jung: Dazu gehört aus meiner Sicht beides. Das machen wir auch. Aber wir haben natürlich im Rahmen dieser Pariser Konferenz auch nicht zurückgehalten, wenn es darum geht, auch derartige Punkte anzusprechen. Das ist, wenn Sie so wollen, ein interner Prozess, der dann aber öffentlich geworden ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber müssten Sie nicht eigentlich auch ihre zivilen Partner in der Entwicklungspolitik kritisieren, die internationalen Organisationen, die ja mit ihrem vielen Geld und auch mit ihrem Personal einen Staat im Staate bilden – so sagen die Afghanen. Sie sagen auch, wir bekommen gar nicht mit, was die alles treiben in unserem Land.

Jung: Hier, muss ich sagen, gibt es vielleicht bei dem einen oder anderen eine unterschiedliche Wahrnehmung. Aber wir haben ja jetzt – und das ist ja unser gemeinsames Bemühen – unter dem Aspekt vernetzte Sicherheit eine gemeinsame Institution mit der afghanischen Regierung, das heißt, sowohl der militärische, als auch der zivile Teil, als auch der politische Teil Afghanistans, um hier die Dinge miteinander zu verzahnen. Denn unser Ziel ist ja Unterstützung der afghanischen Regierung. Unser Ziel ist natürlich auch Unterstützung der afghanischen Bevölkerung. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wir müssen das Vertrauen der Menschen gewinnen. Wir müssen die Herzen, die Köpfe der Menschen gewinnen. Das ist doch der größte Schutz für unsere Soldaten und die größte Garantie, dass wir erfolgreich sein werden.

Die Dinge noch mehr miteinander zu verzahnen, das halte ich für notwendig und richtig.
Deutschlandradio Kultur: Das müsste ja eigentlich nach sieben Jahren Aufbauhilfe in Afghanistan besser laufen. Im Moment ist es immer noch so, dass Sie von zehn Euro neun für die militärische Absicherung und einen Euro für die zivile Aufbauhilfe abgeben. Man kann sich ja vorstellen, dass das am Anfang notwendig ist. Aber nach sieben Jahren - müsste sich das Verhältnis nicht irgendwann mal ändern?

Jung: Deshalb halte ich für richtig, dass es umstrukturiert wird. Das war auch ein Punkt, der im Rahmen der Pariser Konferenz ja eine Rolle gespielt hat. Wir haben ja selbst jetzt sehr konkret im Norden erlebt. Dort, wo von den Vereinten Nationen das zivile Engagement zurückgegangen ist, dort sind sofort terroristische Aktivitäten entwickelt worden. Deshalb mussten wir diese Operationen machen, um das Gebiet wieder sicher zu machen. Jetzt ist auch der Provinzgouverneur wieder da. Jetzt . Aber das muss weiter verstärkt werden. Denn letztlich ist das die Grundvoraussetzung, um insgesamt erfolgreich zu sein.

Deutschlandradio Kultur: Sie wollten sich bisher nie auf einen Zeitpunkt einlassen, wann die Bundeswehr und wann die Nato-Partner wieder rausgehen aus Afghanistan. Aber braucht man nicht einen Termin, um alle Beteiligten auf einen Zeitplan einzuschwören, wann sie überkommen müssen mit ihren Aufgaben und vor allem mit dem Erledigen ihrer Aufgaben?

Jung: Ich denke, man braucht eine gewisse Zielorientierung. Da stimme ich Ihnen zu. Aber in Afghanistan ist es, glaube ich, klug, wenn man nicht definitiv jetzt über einen Zeitpunkt spricht, weil sich gegebenenfalls doch Dinge vielleicht verschieben können und nachher das nicht realisiert werden kann. Das wäre eine falsche Erwartungshaltung, die man dort weckt. Aber dass man eine Strategie und auch eine Zielorientierung entwickelt, da können Sie vielleicht zu Recht die Frage stellen, nach dem Jahr 2001 war das aber relativ spät im Jahr 2008. Aber es ist auch wahr, dass wir hier sehr, sehr aktiv waren, um zu dieser Gesamtstrategie zu kommen. Deshalb bin ich dankbar, dass wir sie jetzt in Bukarest auch entscheiden konnten.

Deutschlandradio Kultur: Heißt das, dass Sie lieber in einen nächsten Einsatz reingehen würden, wenn so eine Gesamtstrategie von vornherein sicher wäre?

Jung: Das heißt es auf jeden Fall. Unser Bemühen in der Nato, aber auch jetzt in Europa geht dahin, dass wir Strukturen schaffen, die das hier auch ermöglichen. Eine Idealvorstellung wäre, dass – bevor ich einen Einsatz mache – ich weiß, was ich militärisch erreichen will, was will ich durch zivilen Wiederaufbau erreichen, was brauche ich beispielsweise im Hinblick auf Polizeiaufbau, dass ich eine Gesamtkonzeption habe. Das war zugegebenermaßen im Hinblick auf Afghanistan deshalb schwierig, weil es natürlich nach dem 11. September zunächst darum ging, diese terroristischen Aktivitäten, sprich auch, dieses Terrorregime der Taliban hier aus dem Amt zu bringen. Aber auf zukünftige Einsätze gesehen, wäre dies eine optimale Vorstellung, wenn wir hier von Anfang an die verschiedensten Verantwortlichkeiten zusammenführen würden, um dann auch mit einer gewissen Zielorientierung einen Auftrag zu erfüllen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man beispielsweise der afghanischen Regierung sagt, wir machen einen Fünfjahresentwicklungsplan. Dafür gibt’s Geld, aber ihr müsst auch was bringen, damit wir nach fünf Jahren Zwischenbilanz ziehen können, weil die Perspektive ist, dass irgendwann die ausländischen Truppen rausgehen.

Den Druck wollen Sie nicht aufbauen?

Jung: Sie haben gerade gesagt, dass man die Dinge mehr intern diskutiert. Wir sind dort auf dem Weg.

Deutschlandradio Kultur: Die Nato engagiert sich in Afghanistan. Kehren wir mal zurück zu Europa. In Europa sei die Nato überflüssig, sagt der neue russische Präsident Medwedjew. Befinden sich die Beziehungen zu Russland nicht in einer Sackgasse?

Jung: Nein, das sehe ich nicht so. Ich komme gerade von dem Nato-Russland-Rat. Man muss sagen, das war ein sehr guter Dialog, den wir dort geführt haben, auch mit dem russischen Kollegen. Ich denke, wir müssen unseren russischen Partnern auch sehr deutlich machen, dass die Nato hier natürlich eine neue Funktion hat. Der Kalte Krieg ist überwunden, wir haben aber heute neue Bedrohungslagen. Wir haben Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus. Wir haben Bedrohungslage durch Massenvernichtungswaffen. Wir haben Bedrohungslage durch Krisenkonfliktsituationen und Staatszerfall. Ich denke, es ist richtig, dass die Nato als das effektive Sicherheitsbündnis sich auch diesen Bedrohungslagen zuwendet und dass wir aber in partnerschaftlicher Zusammenarbeit auch Russland in die Schutzfunktion einbeziehen.

Unter so einem Aspekt sehe ich auch den Nato-Russland-Rat. Russland ist mit dabei in der Operation Active Endeavor im Mittelmeer. Das ist Artikel fünf Nato-Vertrag. Das heißt, Bündnisfall, Verteidigungsfall. Dort kooperiert Russland jetzt mit. Von daher muss ich Ihnen sagen, halte ich das alles für richtig, dass wir in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Russland weiter vorankommen. Denn wir haben noch gemeinsame Sicherheitsinteressen. Aus meiner Sicht schaffen wir es nicht, auf diplomatischem Weg zu verhindern, dass der Iran atomare Bewaffnung erhält, wenn wir nicht weiterhin gemeinsam mit Russland, aber auch mit China hier strategisch vorgehen.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir uns die Nato-Osterweiterung anschauen, da ist das Problem Ukraine, Georgien. Die Russen wehren sich mit Händen und Füßen gegen diese Osterweiterung und die Europäer, die Nato sieht keine Spielräume? Es wird einfach passieren?

Jung: Wir müssen sehr, sehr deutlich machen, dass die Nato nicht eine Institution ist, die sich gegen Russland richtet, sondern dass die Nato ein Schutzbündnis ist, das auch von daher die Sicherheitsinteressen Russlands durchaus mit in Bezug nimmt und in partnerschaftlicher Zusammenarbeit hier eine Schutzfunktion aufbaut.

Deutschlandradio Kultur: Welche konkreten Schritte stellen Sie sich vor? Die Russen haben KSE auf Eis gelegt, das heißt, die konventionelle Abrüstung in Europa, und sagen zugleich, wir wollen irgendetwas Neues. Es soll nicht die alte KSZE sein. Es soll auch nicht die Nato sein. Wir wollen einen neuen Vertrag über europäische Sicherheit. Was machen wir denn damit jetzt?

Jung: Es gibt diese AKSE-Diskussion. Das heißt im Klartext, es ist vorgeschaltet in der Weiterentwicklung, die in Parallelität zu den Verpflichtungen, die Russland aus unserer Sicht zu erfüllen hat, mit Istanbul korrespondiert. Das heißt, konkret die Frage: Truppen Moldawien, Truppen Georgien? Hier, das in einen Parallelprozess zu bringen, halte ich für richtig. Deshalb, glaube ich, müssen dort beide Seiten ein Stück aufeinander zugehen. Denn unsere gemeinsame Zielrichtung muss sein, dass wir auch weiterhin das strategische Konzept der Abrüstung, was ja Grundlage in KSE war, auch weiterhin in Zukunft in Europa haben wollen.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben auf der einen Seite die Nato, auf der anderen Seite interessante Worte gehört von Herrn Sarkozy, dem französischen Präsidenten. Er will die europäische Verteidigungspolitik erneuern, modernisieren und will wieder in die Kommandostruktur der Nato zurückkehren. Was wird sich da in Bezug auf europäische Verteidigungspolitik ändern?

Jung: Wir brauchen das starke Sicherheitsbündnis der Nato. Und wir brauchen die weitere Fortentwicklung der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, aber in Partnerschaft mit der Nato. Das heißt, nicht gegen die Nato. Das ist der entscheidende Punkt.

Deutschlandradio Kultur: Was bedeutete das konkret? Gibt es demnächst die europäische Armee?

Jung: Eins ist klar. Die Frage der Fortentwicklung der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik steht weiterhin auf der Agenda. Das heißt sehr konkret beispielsweise schnelle Einsatztruppen Europas, die EU-Battle-Groups, die jetzt auf den Bereich Landstreitkräfte ausgerichtet sind. Wir werden die nächste Battle-Group im nächsten Halbjahr gemeinsam mit der deutsch-französischen Brigade stellen, was auch einen gewissen Symbolcharakter hat, was aber diese ergänzt wird mit Fähigkeiten beispielsweise zum Bereich Luft und zum Bereich See.

Oder die Fortentwicklung Planungs- und Führungsfähigkeit: Wir sind in einem so genannten Post-Wiesbaden-Prozess. Warum Post-Wiesbaden? Im Rahmen unserer Präsidentschaft war das Verteidigerministertreffen in Wiesbaden. Wir haben damals das Thema der Planungsfähigkeit aufgenommen. Denn nach dem Kongo-Einsatz haben wir einen Lessons-Learned-Prozess durchgeführt, um hier die Planungsfähigkeit der europäischen Union zu verbessern. Das wollen wir im Rahmen der Präsidentschaft auch noch mal auf den Prüfstand stellen, ob gegebenenfalls dort nachzujustieren ist. Aber auch das Thema der Führungsfähigkeit, das sind alles Punkte, die mit Sicherheit die Präsidentschaft Frankreichs auch bestimmen werden.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie sagen, Sie wollen gemeinsam planen, brauchen wir dann ein Hauptquartier oder machen Sie das dezentral, mal hier, mal dort?

Jung: Wir haben fünf europäische Hauptquartiere – in Großbritannien, in Frankreich, in Deutschland, in Italien und in Griechenland. Es gibt jetzt die Überlegung, eine zentrale Führungsfunktion in Brüssel zu haben. Hier wollen wir darauf achten, dass wir hier keine Duplizitäten aufbauen, denn wir haben ja die Nato-Führungsstrukturen in Brüssel, wo es gegebenenfalls auch Möglichkeiten der Kooperation gibt. Das ist zurzeit noch im Diskussionsprozess, der stattfindet, aber ich glaube, dass wir eine europäische Führungsfähigkeit insgesamt brauchen. Das halte ich schon für richtig.

Deutschlandradio Kultur: Interessanterweise hat Sarkozy auch gesagt, er möchte die atomare Abschreckung in Frankreich modernisieren. Das Bild in Amerika ist etwas anders. Der derzeitige amerikanische Verteidigungsminister sieht das auch so. John McCain, der Präsidentschaftskandidat der Republikaner sagt: ‚Atomare Abrüstung mit den Russen wäre eigentlich die wichtigere Vorgabe, um mittelfristig auch zu Abrüstung und weniger Ausgaben zu kommen.’

Wie sehen Sie das?

Jung: Ich kann das unterstreichen. Die Frage, dass beispielsweise jetzt auch die amerikanische Regierung beabsichtigt, hier weitere nukleare Sprengköpfe zu reduzieren, das halte ich für einen grundsätzlich richtigen Weg. Ich finde, dass wir auf dem Weg auch gemeinsam weiter vorankommen sollten.

Deutschlandradio Kultur: Wenn Sie das schon finden, wäre es nicht Zeit für eine deutsche Abrüstungsinitiative? Die Friedensforschungsinstitute haben das ja immer wieder angemahnt.

Jung: Also, wir sind ja dort auch gemeinsam im Gespräch. Der Außenminister hat das – wie ich finde – letztens auch noch einmal zurecht unterstrichen im Hinblick auf das Anliegen der Bundesregierung, dass es weiterhin bei uns auf der Agenda ist, dass wir das Thema Abrüstung nicht in den Hintergrund rücken.

Deutschlandradio Kultur: Werden wir denn dann in nächster Zukunft möglicherweise von der Bundesregierung aus eine neue Initiative erleben?

Jung: Wir sind dort im gemeinsamen Gespräch. Ich glaube, es ist richtig, dass wir das natürlich im internationalen Rahmen abstimmen, weil Einseitigkeit da wenig hilft. Aber wenn ich jetzt mal andere Beispiele nehme, Sie wissen, dass wir gerade die Konferenz in Oslo hatten, wo wir beispielsweise den Verzicht auf Streubomben beschlossen haben, was ich auch für ein richtiges Signal ansehe, die ganze Frage chemische Waffen, die eine Rolle gespielt hat, die hier jetzt klar im Verzicht sind, andere Punkte, also, wir sind dort schon schrittweise weiter vorangekommen. Deshalb, glaube ich, ist es auch richtig, wenn wir uns hier in dieser Art und Weise auch in Zukunft bemühen, hier noch weitere Akzente setzen zu können.

Deutschlandradio Kultur: Heißt das, dass sich in Sachen Rüstungskontrolle jetzt wieder mehr bewegt? Oder ist es immer noch sehr langsam für Ihre Verhältnisse?

Jung: Also, wir haben ja gerade das Thema KSE angesprochen. Von daher, muss ich sagen, müssen wir jetzt mal schauen, dass wir auch diese Dinge wieder auf den Weg bringen und hier zu einer Perspektive kommen, um letztlich die Gesamtsituation der europäischen Sicherheitsstrategie, die eben diesen Abrüstungsteil beinhaltet, hier weiter mit voranzutreiben.

Deutschlandradio Kultur: Herr Jung, wir danken ganz herzlich für das Gespräch.

Jung: Sehr gerne.