Jung, begabt, diszipliniert, aber normal

Eine Reportage von Isabella Kolar |
Berlin-Johannestal: ein kleines zweistöckiges weißes Eckhaus. Jenseits der Scheibe, draußen im Garten dämmert es langsam, drinnen erhellt ein kleines Licht die von bunten Korrekturlinien und -bögen überzogenen Noten von Elisabeth. Eine Prelude von Bach übt sie heute: die 10-Jährige mit dem langen dunkelbraunen Zopf steht jeden Morgen um sechs Uhr auf und sitzt schon eine halbe Stunde später am schwarzen Flügel.
Konzentriert schaut sie auf die Noten, der Oberkörper wippt im Takt. Wenn Elisabeth übers Klavierspielen spricht, ist ihr Lieblingswort immer "Spaß":

"Es ist schon ganz schön anstrengend, manchmal hat man auch keine Lust, aber es macht immer Spaß eigentlich, ja."

Vom hinteren Teil des Flügels lächelt Elisabeth ihr Lieblingskomponist Wolfgang Amadeus Mozart aufmunternd an: eine schwarze Gipsbüste, ein Geschenk von Freunden. Ein hellblauer Ausweis hängt ihm um den Hals: Elisabeth Lingthaler ist Jungstudentin, die jüngste Schülerin des Julius-Stern-Instituts der Universität der Künste. Die Daten der Bilderbuchkarriere des schönen kleinen Mädchens in Jeans und orangenem Schlabberpulli: mit dreieinhalb erster Musikunterricht an der Musikschule, mit vier erste Konzertauftritte, mit acht Aufnahme am
Julius-Stern-Institut, an dem 63 begabte Jugendliche von 43 Lehrern unterrichtet werden, etliche erste Preise bei Regionalwettbewerben von "Jugend musiziert".
Ihr Vater Mirko Schurik begleitet ihr Üben von Anfang an, er ist selbst Musiker, Schlagzeuger. Auch heute sitzt der Mann mit dem dunklen Zopf neben ihr und hilft beim Notenumblättern:

"Für mich war immer ganz wichtig, dass Elisabeth etwas macht, dass sie nicht ihre Zeit vertut, das ist eigentlich der einzige Grund. Und was sie letztendlich macht, ob sie Klavier spielt oder später mal irgendwas anderes macht, ist dabei eigentlich unwichtig. Wichtig ist, dass sie während ihrer Kindheit so ein bisschen was gelernt hat und auch Disziplin gelernt hat, Selbstdisziplin. Wenn irgendwas erledigt werden muß, dann muß mans tun und das ist eigentlich das Wichtige. Das lernt sie durchs Klavierspielen, das ist eigentlich alles. Was daraus wird, werden wir sehen. Da haben wir keinerlei Absichten oder Ziele."

Elisabeth aber ist ehrgeizig, will richtig gut werden und sie weiß, dass sie dafür viel Üben muss:

"Erst kommt Technik und dann such ich mir immer Stücke raus, die ich jetzt speziell übe und die anderen, die ich dann nicht übe, die spiel ich dann nur durch und dann üb ich die Stücke, die ich nicht geübt habe am nächsten Tag oder früh dann. Eine Stunde früh und zwei Stunden abends."

Ihre braunen Augen blicken stolz, gerade kommt sie von ihrer ersten viertägigen Konzertreise aus der Schweiz zurück, zum ersten Mal ohne Mama und Papa, nicht nur ein pianistisches Abenteuer:

"Es war schön, es war auch anstrengend, also wir haben jeden Tag gespielt: einmal in Basel, einmal in Zürich und einmal in einer Kirche zum ersten Advent, tausend waren da. Da hab ich nicht gespielt, da haben die anderen gespielt, aber sonst habe ich immer mitgespielt."

Mutter Birgit Lingthaler kocht Kaffee in der Küche. Die 41-jährige blonde Sozialarbeiterin erinnert sich gerne an die musikalischen Anfänge ihrer Tochter. Sie selbst spielt kein Instrument, liebt es aber, Elisabeth zuzuhören:

"Das hat sich so entwickelt, also das Klavier stand im Wohnzimmer und wie jedes Kind sind die neugierig und probieren das aus und dann hat die Elisabeth immer mit Papa am Klavier gesessen und hat das ausprobiert und dann hat sie mit drei so gesagt, jetzt möchte ich das aber gerne auch lernen und dann haben wir gesagt: gut dann gehen wir zur Musikschule und so hat sich das eigentlich entwickelt und dann mit dreieinhalb haben wir sie angemeldet an der Musikschule und dann hat sie Musikschulunterricht bekommen in Klavier, ja, dann hat sie Klavier gelernt. Und es ging sehr schnell vorwärts bei ihr, also im Vergleich dann zu anderen, dass sie sehr schnell gelernt hat und dass es ihr Spaß gemacht hat und das hat man eben auch gemerkt, die Musikalität, das sie das gerne gemacht hat."

Ein Kilometer entfernt, eine halbe Stunde später, Grundschule am Gingkobaum, Springbornstraße 250. Hier wird Pianistin Elisabeth zur Schülerin Elsi:

"Elsi, Elsi, Elsi (Stimmengewirr), schlaue Elsi (Lachen), schlaue Ilse….."

Die 5a, 24 Jungs und Mädchen, drängen sich in dem gelb gestrichenen Zimmer mit den kanariengelben Vorhängen, es dauert, bis die Kinder ihre Sitzplätze finden, als Lehrerin Silke Ramm hereinkommt, geht es gleich viel schneller. Elisabeth sitzt neben ihrer besten Freundin, der braun gelockten Mona in der zweiten Reihe.

Lehrerin:

"Dann erst mal für alle einen wunderschönen Guten Morgen."
Schülerchor:

"Morgen."

Nawi, Unterricht in Naturwissenschaften steht auf dem Programm. Über der
Klassenzimmertür grinst eine rote Mickey Mouse, Elisabeths rechter Zeigefinger fliegt alle paar Minuten nach oben, sie ist auch hier eine gute Schülerin. Ihr Lieblingsfach ist Sport, aber das schmale sportliche Mädchen möchte jetzt hier zeigen, dass sie etwas weiß:

Lehrerin:

"Welche Körpereigenschaften hättet ihr denn zitieren können? Elsi! Farbe ähm/Lehrerin: weiter/Farbe, Form, Gewicht, Volumen/Lehrerin: richtig, weiter…"

Elisabeth lässt sich zurücksinken, dreht sich um, blickt in die Klasse. 9 Uhr, endlich Pause. Die Kinder rennen raus, Frau Ramm streicht sich erleichtert durch die kurzen blonden Haare, sie kennt Elisabeth gut:

"Also sie ist auf alle Fälle sehr gewissenhaft, ja und sehr anstrengungsbereit immer. Also ich habe sie ja vor allen Dingen im Sport und da möchte sie auch alles mitmachen, immer ganz fleißig bei der Sache. Sie ist so ein Allroundsportler. Also eine super Turnerin, Leichtathletik ist sie gut, koordinativ einwandfrei, Spielertyp auch. Wir haben jetzt auch Volleyball gemacht, wo der Papa ein bisschen Angst um die Finger hatte, aber ist eine super Sportlerin."

Die Kinder rennen unten auf dem Hof herum, sie jagen sich, spielen Fangen, andere stehen an der Seite und beißen ins Pausenbrot. Elsi rennt am schnellsten. Sie gründet vor einem Jahr mit drei Freundinnen die Viererbande, für die sie trotz des Klavierspielens genügend Zeit hat, darauf legt sie Wert. Freundin Mona strahlt über beide roten Pausbacken:

"Dienstag, da haben wir immer unseren Freundetag, eher gesagt wir vier, Laura, Vivien, Elsi und ich. Meistens sind Elsi und ich zusammen, weil die beiden manchmal nicht können und dann machen wir manchmal Elsis Lego-Haus weiter oder wir gehen in unser Bandenquartier unten, machen unser Bandenbuch weiter, wir finden immer was."

Lego ist neben Klavier spielen die große Leidenschaft von Elsi. Ein Krankenhaus ist schon fertig, gerade arbeitet sie an einem Raumschiff, gemeinsam mit der Mutter und den Freundinnen. Und hin und wieder spielt Elsi Mona und den anderen auch etwas auf dem Flügel vor:

"Na, es klingt sehr schön bei Elsi, ich selber kann's ja nicht spielen, also für mich klingt's eigentlich sehr schön, was Elsi spielt, ich weiß auch nicht , ob sie falsch spielt oder richtig (Lachen)/Manchmal, wenn wir zu ihr nach Hause gehen, dann zeigt sie uns manchmal was, also spielt sie uns was vor/Elsi: ja sie hören mir auch immer zu, macht Spaß, wie machen's freiwillig oder? (lachen) ja, wir fragen ja auch immer, ob du uns was vorspielst."

Elsi springt auf den Treppen des Pausenhofes herum und lässt sich nicht fangen, ihr brauner Zopf hüpft im Rhythmus, die Viererbande sagt sie noch, bevor es wieder zum Unterricht geht, ist ihr wichtig:

"Hier entspanne ich mich auch ein bisschen. Die Bande, die haben wir vor einem Jahr glaube ich gegründet, ja das ist schön. Dass wir immer zusammen sind, dass wir immer spielen und dass wir so gut befreundet sind, wenn sie wollen, dann können sie zu mir nach Hause kommen, dann spielen wir und dann gehen sie wieder."

14 Uhr, 30 Kilometer nordwestlich, ein Backstein-Reihenhaus in Berlin-Gatow. Mutter Sophia Wollheim, eine griechische Pianistin und Klavierlehrerin, stellt Rinderfilet mit Pilzen und Nudeln auf den Tisch: das Fleisch findet Philipp zu dick, den bunten Salat will er nicht. Dass der 15jährige Geiger mit den braunen langen Locken seit der Pubertät seinen eigenen Kopf hat, daran haben sich die Eltern mittlerweile gewöhnt. Philipp Wollheim, wie Elisabeth Jungstudent am Julius-Stern-Institut, ist gerade aus der Schule heimgekommen, der Schulranzen fliegt in die Ecke. Im Gegensatz zu Elisabeth, hält er Unterricht prinzipiell für verzichtbar:

"Ich geh zur Schule, ich mach das alles nicht besonders mit viel Freude oder so, aber ist okay. Also ich bin nicht besonders schlecht, auch nicht besonders der Überflieger, aber ich tu ja auch nichts dafür, geb ich ja zu. Mein Leben ist mehr für die Geige, für die Musik und da liegt mein Schwerpunkt."

Er sitzt am dunkelbraunen Holztisch mit dem bunten Adventskranz und schaut den Kopf leicht geneigt durch seinen Pony zu den Eltern gegenüber. Sein Vater, Toningenieur Caspar Wollheim nimmt sich noch einen Löffel Salat. Er weiß, dass sein Sohn auch bei der Geige manchmal mehr Talent als Disziplin zum Üben mitbringt und lächelt:

"Man hat schon gesagt, üb mal jetzt und Du musst stetig dabei bleiben, dass es eine gewisse Qualität erreicht. Er hat auch von sich aus geübt, aber wir haben es sicher auch oft gesagt, ihn auch sicher manchmal damit genervt mit dem "Üb" oder "Hast Du schon geübt?" oder so, dass erfreut ja ein Kind nicht immer unbedingt, aber er hat's dann meistens gemacht, wobei ich sagen muss, er ist jetzt nicht so ein typischer Vielüber, der ständig am Instrument ist, also im Vergleich zu vielen anderen ist er glaube ich ein relativ Wenigüber, also es fällt ihm schon ziemlich leicht."

Philipp beginnt mit viereinhalb Jahren Geige zu spielen und gewinnt schon mit fünf Jahren einen ersten Preis bei "Jugend musiziert". Bis heute nimmt der schlaksige Jugendliche mit dem oliv-grau gestreiften Pulli und den weiten Jeans dort acht mal teil und gewinnt sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene erste Preise. Mit elf Jahren nimmt ihn das Julius-Stern-Institut auf, er bekommt dort ein Mal die Woche eine Geigenstunde und seit diesem Jahr auch Unterricht in Musiktheorie. Im Schnitt hat er alle zwei Wochen einen Konzertauftritt. Beim Stichwort "Wunderkind" zuckt er mit den Schultern:

"Also ich denke, ich bin kein Wunderkind, weil ich denke, Wunderkinder sind welche, die brauchen nicht zu üben, können von Anfang an alles. Ich bin man kann sagen hochbegabt, ich bin begabt, mehr als begabt, aber Wunderkind bin ich nicht. Also es gibt sehr, sehr wenige Wunderkinder. Also wirklich es gibt nur ein paar große Geiger von damals, besonders Yehudi Menuhin, kennen viele, ich glaube, die sind Wunderkinder, aber ich will nicht für die anderen sprechen, aber ich denke, dass wir alle keine Wunderkinder sind."

Philipp steht in seinem dunkelrot gestrichenen Zimmer im ersten Stock und lehnt den Kopf schräg an seine wertvolle holländische Geige aus dem 18. Jahrhundert, eine Leihgabe einer Hamburger Stiftung. Sie stammt von einem Schüler des berühmten Geigenbauers Grantschino. Wenn er spielt, ist es als ob er tanzt, alles bewegt sich, der Kopf schräg, die Haare flattern, die Finger halten links die Saiten, führen rechts kräftig den Bogen und der Körper wiegt sich auf den Füßen hin und her, er blickt konzentriert das Notenblatt. (Musik ausblenden). Nach dem Spielen verstaut er die Geige vorsichtig in ihrem mit dunkelblauem Samt ausgeschlagenen Geigenkasten und setzt sich an den Schreibtisch: Freizeit ist wichtig in seinem Leben, sagt er, Lesen, Computerspiele, Freunde:

"Ich habe sehr viele Freunde da im Julius-Stern-Institut, meine Schule, ich kenn zwar auch sehr viele Leute, mag auch sehr viele, aber mit denen geh ich nie weg. Die sind meistens vom Julius-Stern-Institut oder auch von anderen Schulen Bekanntschaften, meistens über die Musik und mit denen geh ich dann feiern."

19 Uhr 30, Bundesallee, Universität der Künste, 2. Stock, Zimmer 235. Unterricht bei Professor Tomasch Tomaschevskij, dem polnischen Lehrer von Philipp, gleichzeitig Konzertmeister der Deutschen Oper. Philipp steht die Geige an der Hand am Fenster, neben ihm sitzt Ortwin Bader, ein 15jähriger Cellist. Der wöchentliche Unterricht, sie spielen ein Werk des ungarischen Komponisten Kodaly. Insgesamt 90 Euro zahlen die Eltern für den Unterricht am Julius-Stern-Institut im Sommersemester, 120 im Wintersemester. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet: dunkelblauer Teppich, ein Flügel, ein Tisch, ein paar Stühle, das Fenster gekippt, es ist kalt. Jede Note muß sitzen, sonst wird wiederholt. Der stattliche Tomaschevskij mit der grauen Fönfrisur unterbricht immer wieder, korrigiert, erklärt. Er kennt Philipp seit sechs Jahren, hilft ihm bei der Aufnahme am Julius-Stern-Institut:

"Natürlich wird er ein toller Geiger. Er ist schon ein sehr guter Geiger. Wie erfolgreich seine Karriere wird, das hängt nur von ihm. Wenn er viel Zeit und eben etwas mehr Disziplin als bis jetzt findet, dann wird er sehr erfolgreich sein. Der hat eine Gabe immer bei öffentlichen Auftritten so etwas Besonderes zu bringen. Das was viele, die vielleicht etwas mehr üben als er, nicht haben. Er ist einfach talentiert und die Konzertbühne das ist seine Welt und er wird dort sicher einen sehr wichtigen Platz finden."

Ein Stock höher, Zimmer 303. Üben mit dem Metronom, Elisabeth verzieht keine Miene, konzentriert fliegen ihre Finger über die Tasten. Frau Professor Doris Wagner-Dix, die Leiterin des Julius-Stern-Instituts, ist streng, das weiß sie. Mit der Hand korrigiert sie Elisabeths Körper- und Fingerhaltung, hat da nicht eben ein kleiner Finger schlapp gemacht und ist eingesunken? Gleichzeitig ist ihr blauer Filzstift unerbittlich und macht kleine Kreuze in die Noten. Kein Versäumnis bleibt unbemerkt. Und Elsi übt, übt, übt…..

"Ihr Disziplin finde ich also wirklich herausragend. Als kleines Mädchen, sie kam hier mit achteinhalb an und sie hat wirklich, jede Stunde war sie gut vorbereitet und sie ist für ihr Alter ausgesprochen diszipliniert vom Üben her, ich bewundere das. Ob das von ihr selbst kommt? Aber ich glaube schon, weil die Eltern sich überhaupt nicht negativ einmischen, in keiner Art und Weise und es kommt von ihr und jetzt beginnt so ein bisschen die Pubertät, dass sie genau das jetzt so erlebt, es sind Leute, die sind besser als ich und da habe ich ihr auch gesagt, damit muß sie leben, denn das passiert immer wieder."

Frau Wagner-Dix, eine elegante Dame mit Perlenohringen, adretter dunkelbrauner Kurzhaarfrisur und dunkelrot geschminkten Lippen hat ein warmes Lächeln für Elisabeth, Elsi genießt und schweigt. Streng ist sie, so sagt sie vor dem Unterricht, aber sie lobt auch, wenn es Grund dafür gibt. Wunder werden hier aber keine vollbracht, sagt ihre Lehrerin und setzt einen energischen Blick auf, alles pure Arbeit. Jeder muß eine Aufnahmeprüfung bestehen, um am Julius-Stern-Institut aufgenommen zu werden:

"Diese Kinder sind hochbegabt, aber sie sind keine Wunderkinder. Sie müssen mit viel Disziplin, viel Fleiß arbeiten und dazu gehört dann ein bisschen Glück, halt. Ich finde unsere Kinder sind wirklich bodenständig, die arbeiten viel und sind hoch begeistert auch, es macht ihnen viel Spaß, denn sonst könnten sie so nicht arbeiten, aber Wunderkind find ich den Begriff nicht so gut."

Elisabeth nickt und dreht den Kopf zu ihrer Mutter, die hinten im Raum auf einem Hocker sitzt:

"Es muss Spaß machen, man muss eigentlich üben, sonst wird’s nichts und es gibt immer einen, der besser ist als man selbst. Die anderen sind alle älter als ich. Sie haben auch größere Finger, deshalb können sie auch andere Stücke spielen. Aber ich hab auch schon ein bisschen Ehrgeiz, damit's weitergeht. Na das ich gut werde und dass ich schöne Stücke spielen kann."

"Was, ach so, das ist ja unproblematisch, da macht sie ihren Prokofiev noch ein bissel, Prokofiev und Beethoven, denn Debussy willst du den spielen/Elsi: ja, vielleicht/W-D. Du des ist so ein alter Herrenclub, das macht nichts die freuen sich, wenn du da spielst."

Der Unterricht ist nach einer Stunde zu Ende, Frau Wagner-Dix gießt noch die zahlreichen Palmen, die hinter den beiden Steinway-Flügeln vor großen abstrakten Gemälden stehen, schnell bespricht Elisabeth noch mit ihr, was sie beim anstehenden Konzert am kommenden Samstag spielen soll. Die Entscheidung fällt für Prokofiev, Beethoven und Debussy. Kennt Elisabeth Lampenfieber? Sie zuckt mit den Achseln:

"Also es ist immer unterschiedlich, wenn's was ganz Besonderes ist, dann ist man schon aufgeregt und also bei Sachen, wo es mehr Spaß macht, wo's nicht so ernst ist, da ist man dann eigentlich nicht so, nur so ein bisschen aufgeregt, da geht’s. Also für mich ist es wichtig, dass ich auch gut spiele."

Samstagabend, die Weihnachtsfeier der Berliner Liedertafel, ein traditionsreicher Berliner Herrenchor: alle dreißig Männer schon im reiferen Alter, stattliche Figuren in Schlips und Anzug, frisch geföhnt und gestriegelt stehen sie vor dem etwa hundertköpfigen Publikum und singen die Noten in der Hand nacheinander Weihnachtslieder wie "Herbei Oh Ihr Gläubigen", "Oh Du fröhliche" und "Stille Nacht, Heilige Nacht". Daneben steht ein fast bis unter die Decke reichender
Sechs-Meter- Weihnachtsbaum, geschmückt mit silbernen, roten Kugeln und Strohsternen.

Zwischen den Liedern plaudern die Herren des Chores mit ihren Angehörigen und Gästen. Elisabeth sitzt in langem engem schwarzen Kleid mit großem Kragen am vorderen Ende des hufeisenförmig angeordneten Tisches, direkt neben ihrem Vater. Sie lässt die Teller mit den Süßigkeiten, Spekulatius und bunten Schokosternen links liegen und begutachtet ihre neuen schwarzen Lackschuhe mit Schnalle. Als Pianistin muss sie da schon auch auf die Feinheiten achten:

"Dass sie keinen Absatz haben und dass sie nicht zu weich sind, also das Pedal muss ich schon spüren, aber nicht dass ich dann so abrutsche, nicht dass ich so am Pedal abrutsche."

Jörg Kramer, der Leiter der Berliner Liedertafel, ein Mann wie ein Baum mit bunter Krawatte, sitzt gegenüber und schaut Elisabeth lächelnd an, ein bisschen Bewunderung ist auch dabei:

"Ich glaube so ne Ausbildung und so ein Dasein als Kind ist eine unwahrscheinliche Anspannung und da müssen meines Erachtens vor allem die Eltern sind da gefordert, um sie zu stützen, zu unterstützen, ihr zu helfen und natürlich auch die Ausbildenden. Frau Prof. Wagner-Dix hat sicherlich eine ganz große Verantwortung gerade mit diesen Kindern."

Spricht's und schreitet zum Rednerpult, Elisabeth streckt den Hals hoch und hört genau zu, um ihren Einsatz nicht zu verpassen. Auf dem Bechstein-Flügel eingespielt ist sie schon, jetzt kann eigentlich nichts mehr schief gehen, außer dass Herr Kramer das falsche Werk ansagt, Elisabeth korrigiert prompt:

"Wir hören von Elisabeth Lingthaler zunächst Johann Sebastian Bach, das Prelude in B-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier eins, bitte./ Elsi: Ähm, aber /(Beifall) Kramer: Moment./ Elsi: ich spiel aber Prokofiev,/ Kramer: zuerst den ja, Elsi; Prokofiev, dann Beethoven, dann Debussy. Kramer: okay wie's beliebt, also, ich höre gerade, die Künstlerin hat das Programm etwas umgedreht, sie spielt erst Sergej Prokoviev, Prelude, das hören wir jetzt."

Die Gespräche verstummen, Ruhe, der Wein kann warten: Elisabeth spielt auswendig, manchmal sieht es so aus, als stehe sie vor dem Flügel, wenn sie mal wieder nach vorne wippt und bei einer temperamentvollen Stelle ihr kleinen Hände flink über die Tasten stürmen. Der Vater sitzt vorne am Tisch, schaut stolz und hört genau hin, unterläuft seiner Tochter auch kein Fehler? Doch Elisabeth spielt fehlerlos:

Sie steht auf verbeugt sich schnell und ist ein bisschen verlegen. Schaut nicht in die Runde, sondern kurz zum Vater, der nickt bestätigend, sie setzt sich wieder hin. Der Beifall hört nicht auf, sie muss sich noch einmal verbeugen, lächelt dabei scheu. Endlich, der Beifall lässt nach, sie kann wieder weiterspielen. Sechs Variationen von Beethoven, wieder - ohne Noten.

Die Gäste schweigen andächtig, Jörg Kramer steht am Rednerpult, schaut ungläubig, lächelt dann hin und wieder in sich hinein. Nach Elisabeths viertelstündigem Kurzkonzert begeisterte Stimmen aus dem Publikum:

"Es war wunderbar, es war ganz großartig und ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass so ein Kind in dem Alter schon so schwierige Sachen so professionell darbringen kann, fantastisch/ Ganz großartig, wenn sie so weitermacht, hören wir bestimmt noch was von ihr, wunderbar/Ich bin begeistert, wenn Kinder in diesem Alter so intensiv und so schön, durch so eine intensive Ausbildung so schön sich selbst darstellen können, das ist einfach ne Wucht/ Wenn die so weiter macht wird sie mal ne ganz Große, glaub ich. Die hat Talent dafür. Ich meine, 10 Jahre, das ist ja noch kein Alter, ich find das unglaublich/Ganz toll, ganz toll, kann nur sagen einmalig."

Elisabeth sitzt schon längst wieder sicher neben dem Vater und nippt an ihrem Mineralwasser, die Augen bescheiden niedergeschlagen. Nach ihr tritt ein zwölfjähriger Cellist mit seiner Mutter am Klavier auf. Elsi ist zufrieden, das sieht man ihr an, ihre Mundwinkel zeigen nach oben. Ein Auftritt von vielen. Aber heute Abend ist mal wieder niemand besser als sie. Das viele Üben lohnt sich eben.