Julian Sancton: „Irrenhaus am Ende der Welt"

Eingefroren im Packeis

05:47 Minuten

Julian Sancton

Übersetzt von Ulrike Frey

Irrenhaus am Ende der WeltMalik, München 2021

496 Seiten

26,00 Euro

Von Günther Wessel · 10.12.2021
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Hehre Wissenschaft war bei vielen frühen Polarreisen nur Vorwand – den Männern ging es um Abenteuerlust und Ruhm. So war es auch bei der Belgica Expedition. Offiziell sollte der magnetische Südpol gefunden werden, am Ende kämpften alle ums Überleben
Hybris und Naivität paaren sich in dieser Expedition in unguter Weise. Kapitän Adrien de Gerlache ist zwar ein guter Seemann, verfügt aber über keinerlei Polarerfahrungen und bekommt nur mit Mühe das nötige Geld für die Expedition zusammen.
Die Mannschaft ist bunt zusammengewürfelt: Überwiegend Belgier, was wichtig ist, verkauft de Gerlache doch die Reise als patriotische Unternehmung. Aber gerade diese Matrosen sind, wie sich rasch zeigte, sehr undiszipliniert: Sie kehren betrunken oder gar nicht vom Landgang zurück – wissend, dass de Gerlache sie nicht entlassen kann.

Nur zwei Polarkenner an Bord

Dazu heuern ein paar abenteuerlustige Norweger an, und schließlich bewerben sich noch zwei Kenner des Polarmeeres: Der amerikanische Arzt Frederick Cook, der bereits mehrfach in der Arktis war (und später für sich reklamierte, als erster am Nordpol gewesen zu sein) und Roald Amundsen, der später als erster Mensch am Südpol stand.
Viel zu spät erreicht das Schiff das südliche Polarmeer. Anfang März 1898, im Herbst auf der Südhalbkugel, friert die Belgica im Packeis ein und driftet fast ein Jahr im Eis durch die Bellingshausensee – in monatelanger Dunkelheit während der Polarnacht.
Julian Sanctons Erzählkunst saugt einem beim Lesen förmlich in die Geschichte hinein: Man sieht die Wogen des Eismeeres heranrollen; spürt die Kälte und die Dunkelheit; leidet und kämpft mit der Schiffsbesatzung, mit de Gerlache, der trauert, weil sein Freund, der Wissenschaftler Émile Danco, stirbt und er sich deswegen Vorwürfe macht, noch mehr aber um sein Ansehen und das seiner Familie fürchtet.

Im Kampf gegen Skorbut und Winterdepression

Cook und Amundsen übernehmen die Verantwortung für das Schiff und die Mannschaft, während de Gerlache depressiv und krank in seiner Kabine hockt.
Cook will das Leben im polaren Zirkel durchschauen und entwickelt immer neue Theorien über die Bekämpfung von Skorbut und Winterdepression. Amundsen möchte einen polaren Rekord nach dem anderen aufstellen, getrieben vom Ehrgeiz, der größte Polarforscher zu sein.
Die beiden lieben das Leben in der Polarwelt, sie schmieden Pläne, wie man dem Packeis entrinnen kann, sie leiten die Männer an, nicht tatenlos zu verharren – und retten damit einige Matrosen vor schweren physischen und psychischen Erkrankungen.

Spannung trotz des bekannten Ausgangs

Sancton gelingt es trotz des bekannten Endes – die Belgica kehrt zurück – großartig, die Spannung in der düsteren Polarnacht aufrecht zu erhalten.
Seine Recherche, das genaue Studium der Literatur, der Tagebücher und Briefe der Expeditionsteilnehmer hat sich gelohnt: Er beschreibt wie alle um ihr Überleben kämpfen, oft verzweifelt und nah am Wahnsinn, und wie sie rohes Pinguin- und Robbenfleisch herunterwürgen, weil es gegen Skorbut hilft. Ein Abenteuer.