Julia Ross: „Die Heißhunger-Kur“

Vorbei mit der Völlerei

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Auf dem Gemälde "Das Schlaraffenland von Pieter Bruegel d.Ae. liegen erschöpfte Menschen nach einer Völlerei auf dem Boden.
Kennt jeder: Schon vor über 450 Jahren war das Gefühl nach den Feiertagen wohlbekannt. © picture-alliance / akg-images | akg-images
Von Susanne Billig  · 18.12.2020
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Immer mehr Menschen haben gravierende Probleme, sich gesund zu ernähren. Sie verschlingen Fast Food in abnormen Mengen – die Folge ist nicht nur Übergewicht, sagt Julia Ross, sondern echtes Suchtverhalten. Aminosäuren könnten ihnen helfen.
Eier, Schinken, Butter und Toast zum Frühstück. Braten, Kartoffeln, Gemüse mit sämiger Soße zu Mittag, gerne mit Nachschlag und nicht ohne Dessert. Satt belegte Brote zum Abendessen. Zwischendurch Obst. So wurde in den 1950er-Jahren gefuttert – die Älteren werden sich gut erinnern.
In ihrem Buch "Die Heißhunger-Kur" beschreibt die Ernährungspsychologin Julia Ross genüsslich das Hausmannskost-Schlaraffenland vergangener Tage. Volkskrankheit Diabetes? Gab es damals nicht, betont die Autorin. Krankhaft Übergewichtige? Eine absolute Seltenheit. Dicke Kinder? Kaum je zu erblicken, obwohl gesunde Salate und Vollkornprodukte noch nicht zum Allgemeingut gehörten.

Flotter Stil, persönliche Erfahrungen

Mit flottem Stil, vielen persönlichen Erfahrungen aus dem Klinikalltag und einer ungewöhnlichen Argumentation zieht das Buch sofort in seinen Bann. Hier geht es weder um Kalorienzählen noch um mehr Sport, weder um fettarme Lebensmittel noch um Schlankmacher-Food, weder um Pflanzenprodukte statt Fleisch, Milch und Käse. (Vegetarisch und vegan lebende Menschen werden darum wenig Freude an diesem Buch haben.)
Kunden machen sich während der "Woche der offenen Dose" über Spezialitäten her.
Alles im Überfluss: Kunden machen sich während der "Woche der offenen Dose" über Spezialitäten her. © picture alliance / Fritz Stegerer | Fritz Stegerer
Die Ernährungspsychologin möchte vor allem eines: Aufklären über die Ursachen des weltweit grassierenden Übergewichtes und Auswege weisen. Darum beschreibt sie im ersten Teil die Verheerungen der industriellen Lebensmittelproduktion. Von "nahrungsähnlichen Substanzen" spricht die Autorin konsequent und meint damit entzündungsfördernde Öle, Süßungsmittel mit extrem hohen Fruktose-Gehalten und Salz-Fett-Zucker-Aroma-Kombinationen, wie die Natur sie nie für die menschliche Ernährung vorgesehen hat.

Willenskraft reicht nicht mehr aus

Wie bei Alkohol- oder Heroinsüchtigen reiche die reine Willenskraft der Abermillionen Esssüchtigen weltweit nicht aus, um sich aus dem Teufelskreis von Junkfood-Anfällen, quälenden Hungerkuren und erneuten Fressattacken zu lösen. Mit beklemmenden Fallgeschichten und vielen soliden Studien belegt die Autorin ihre Thesen.
Geht es um Lösungen, wird es in diesem Buch leider furchtbar kompliziert. Die klare Grundbotschaft – hört auf, zigmal am Tag künstliche, kohlenhydratlastige Nahrungsmittel zu essen und kehrt zurück zu täglich drei frischen, selbst zubereiteten, proteinbetonten Mahlzeiten – überlagert die Autorin mit einer Therapieidee aus ihrer Klinik: Dort bricht Julia Ross den Bann der Sucht, indem sie Patient*innen vorübergehen mit einzelnen Aminosäuren supplementiert.

Selbsttest soll helfen

Um die passenden Aminosäuren zu ermitteln, unterscheidet sie zwischen verschiedenen "Heißhunger-Typen". Das Buch bietet einen ausführlichen Selbsttest an und ergeht sich vor allem im letzten Drittel in immer stärker verästelten und entsprechend ermüdenden Informationen darüber, wann welche Aminosäure in welcher Dosierung ergänzend eingenommen werden sollte.
Ist das seriös? Der klinische Erfolg mag der Autorin recht geben – für die private Anwendung jedoch scheint es jedoch so kompliziert, dass nur wenige Freude daran haben werden, sich in diesen Details zu ergehen. Doch hilft das dem Suchtverhalten?

Julia Ross: "Die Heißhunger-Kur – Welcher Sucht-Typ sind Sie?"
Übersetzung von Maren Klostermann
Klett-Cotta, Stuttgart 2020
560 Seiten, 22 Euro

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