Jules Vernes Hemd mit Marmor verziert
Der 1952 verstorbene Komponist, Maler und Schriftsteller Alberto Savinio galt als italienischer Tausendsassa. Er widmete Jules Verne, mit dessen Abenteuerromanen er aufwuchs, ein groteskes Porträt.
Ein Heft der Friedenauer Presse von Alberto Savinio, dem Tausendsassa der italienischen Kunst – eine großartige Idee! Denn wer in unseren Breitengraden weiß schon, dass dieser sprachversessene Kosmopolit, geboren 1891 in Athen, gleichzeitig Komponist, Maler, Verfasser bizarrer Prosastücke, Theaterautor, Romancier, Nietzsche-Verehrer, Begründer der poesia metafisica und außerdem noch der Bruder Giorgio de Chiricos war? Savinio zählte zu den interessantesten Köpfen der Zwischenkriegszeit und blieb ein überzeugter Einzelgänger inmitten euphorischer Gruppenbildungen. Begabt mit einem grotesken Witz und von ehrfurchtgebietender Bildung entwarf er zahllose künstlerische Großprojekte und passte in keine der gängigen Kategorien.
Aufgewachsen in Griechenland kam Alberto Savinio, der eigentlich Andrea Francesco Alberto de Chirico hieß, nach dem Tod seines Vaters als Siebenjähriger nach München, bis er mit seiner Mutter und dem älteren Bruder nach Mailand übersiedelte. Während Alberto schon in Deutschland Kompositionsunterricht nahm und ein Schüler Max Regers war, wandte sich sein älterer Bruder Giorgio der Malerei zu und wurde zum Urheber der pittura metafisica.
Wechselseitig inspirierten sich die Brüder zu künstlerischen Höhenflügen und steckten einander immer wieder mit ihren Leidenschaften an. Trotz ihrer Verehrung für Brahms, Beethoven, Nietzsche und Schopenhauer behagte ihnen das deutsche Kaiserreich nicht – Paris hingegen, das war eine europäische Metropole nach ihrem Geschmack. 1911 ging das Geschwister-Gespann an die Seine und traf endlich auf Wesensverwandte: Apollinaire, Cocteau, Picasso, Picabia, Max Jacob, Ardegno Soffici, allesamt Vertreter einer neuen Avantgarde.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldeten sich Alberto und Giorgio freiwillig zum Militär.
Erste literarische Versuche Savinios fielen in diese Zeit. Um Verwechselungen mit seinem schon bekannteren Bruder vorzubeugen, legte sich Alberto einen Künstlernamen zu. Schon bald machte er auch als Maler von sich reden. Seine surrealen Gestalten in Öl und Kreide stießen in Paris auf große Begeisterung. In den zwanziger Jahren ging Alberto Savinio nach Italien zurück und ließ sich in Rom nieder. Auch um seine Familie ernähren zu können, gab er sich frenetischen literarischen Aktivitäten hin: unablässig publizierte er Theaterstücke, Romane, Vorlagen für Ballette, Essays, Erzählungen, Feuilletons, Reportagen und Kommentare und rechnete offen mit dem faschistischen Regime ab. Nach dem Krieg fand Savinio als Bühnenbildner und Regisseur ein Auskommen, bis er 1952 an einem Herzinfarkt starb.
Alberto Savinio war von einem wunderbaren Schreibzwang befallen – an Ideen mangelte es ihm nie, von "Fuß-Menschen" über "Räucherhütchen", "Naphtalin" und "Schurken" bis zu "Europa" wusste er jedes Phänomen auf vergnüglichste Art zu bedichten. Der multitalentierte Savinio unterlief mit diebischer Freude ästhetische Vorgaben des Surrealismus und gelangte zu einer sehr eigenen Erzählweise. Kein Wunder also, dass dieser originelle Mann Gefallen an einer Figur wie Jules Verne fand und ihm eines seiner unverwechselbaren grotesken Porträts widmete.
Jules Verne lautet der Titel des sorgfältig edierten Heftes der Friedenauer Presse, das von Richard Schroetter mit nützlichen Anmerkungen und einem informativen Nachwort versehen wurde. Über einen kuriosen Umweg nähert sich Savinio dem Gegenstand seines Essays: bei einem Abendessen in Paris im Hause eines Justizbeamten, wo ihm angesichts der Steifheit ein Fauxpas nach dem anderen unterläuft, macht er die Bekanntschaft mit einem freundlichen Herrn, der das absurdeste Hemd aller Zeiten trägt: "wahrem Grabsteinmarmor gleich" ist es mit einem reliefartigen Blumenmuster versehen. Es handele sich um ein Erbstück seines Onkels, teilt ihm der nette Gast mit, der mit Genuss seine Hemdensucht pflegte: Jules Verne.
Aufgewachsen mit den Abenteuerromanen des französischen Schriftstellers wird das Zusammentreffen mit dem Neffen Vernes zum Auslöser für einen biographischen Abriss. Savinio gehört nicht zu den Schriftstellern, die angesichts ihrer Idole in heiliger Ehrfurcht erstarren, im Gegenteil. Mit liebevoller Ironie macht er sich über die Eigenarten Vernes her und fertigt eine gleichermaßen tiefsinnige wie komische Skizze seines Werdegangs an. Von den Anfängen als Schmierenkomödiant, seiner braven Bürgerlichkeit, der Passion für Reisen in ferne Weltgegenden und der Neigung, die Nähe von Frau und Kindern panisch abzuwehren, lernen wir das "Genie mit einem Sinn fürs Praktische" neu kennen. Für Savinio ist Verne ein Giuseppe Verdi der Geographie.
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
Friedenauer Presse, Berlin 2005
Aufgewachsen in Griechenland kam Alberto Savinio, der eigentlich Andrea Francesco Alberto de Chirico hieß, nach dem Tod seines Vaters als Siebenjähriger nach München, bis er mit seiner Mutter und dem älteren Bruder nach Mailand übersiedelte. Während Alberto schon in Deutschland Kompositionsunterricht nahm und ein Schüler Max Regers war, wandte sich sein älterer Bruder Giorgio der Malerei zu und wurde zum Urheber der pittura metafisica.
Wechselseitig inspirierten sich die Brüder zu künstlerischen Höhenflügen und steckten einander immer wieder mit ihren Leidenschaften an. Trotz ihrer Verehrung für Brahms, Beethoven, Nietzsche und Schopenhauer behagte ihnen das deutsche Kaiserreich nicht – Paris hingegen, das war eine europäische Metropole nach ihrem Geschmack. 1911 ging das Geschwister-Gespann an die Seine und traf endlich auf Wesensverwandte: Apollinaire, Cocteau, Picasso, Picabia, Max Jacob, Ardegno Soffici, allesamt Vertreter einer neuen Avantgarde.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldeten sich Alberto und Giorgio freiwillig zum Militär.
Erste literarische Versuche Savinios fielen in diese Zeit. Um Verwechselungen mit seinem schon bekannteren Bruder vorzubeugen, legte sich Alberto einen Künstlernamen zu. Schon bald machte er auch als Maler von sich reden. Seine surrealen Gestalten in Öl und Kreide stießen in Paris auf große Begeisterung. In den zwanziger Jahren ging Alberto Savinio nach Italien zurück und ließ sich in Rom nieder. Auch um seine Familie ernähren zu können, gab er sich frenetischen literarischen Aktivitäten hin: unablässig publizierte er Theaterstücke, Romane, Vorlagen für Ballette, Essays, Erzählungen, Feuilletons, Reportagen und Kommentare und rechnete offen mit dem faschistischen Regime ab. Nach dem Krieg fand Savinio als Bühnenbildner und Regisseur ein Auskommen, bis er 1952 an einem Herzinfarkt starb.
Alberto Savinio war von einem wunderbaren Schreibzwang befallen – an Ideen mangelte es ihm nie, von "Fuß-Menschen" über "Räucherhütchen", "Naphtalin" und "Schurken" bis zu "Europa" wusste er jedes Phänomen auf vergnüglichste Art zu bedichten. Der multitalentierte Savinio unterlief mit diebischer Freude ästhetische Vorgaben des Surrealismus und gelangte zu einer sehr eigenen Erzählweise. Kein Wunder also, dass dieser originelle Mann Gefallen an einer Figur wie Jules Verne fand und ihm eines seiner unverwechselbaren grotesken Porträts widmete.
Jules Verne lautet der Titel des sorgfältig edierten Heftes der Friedenauer Presse, das von Richard Schroetter mit nützlichen Anmerkungen und einem informativen Nachwort versehen wurde. Über einen kuriosen Umweg nähert sich Savinio dem Gegenstand seines Essays: bei einem Abendessen in Paris im Hause eines Justizbeamten, wo ihm angesichts der Steifheit ein Fauxpas nach dem anderen unterläuft, macht er die Bekanntschaft mit einem freundlichen Herrn, der das absurdeste Hemd aller Zeiten trägt: "wahrem Grabsteinmarmor gleich" ist es mit einem reliefartigen Blumenmuster versehen. Es handele sich um ein Erbstück seines Onkels, teilt ihm der nette Gast mit, der mit Genuss seine Hemdensucht pflegte: Jules Verne.
Aufgewachsen mit den Abenteuerromanen des französischen Schriftstellers wird das Zusammentreffen mit dem Neffen Vernes zum Auslöser für einen biographischen Abriss. Savinio gehört nicht zu den Schriftstellern, die angesichts ihrer Idole in heiliger Ehrfurcht erstarren, im Gegenteil. Mit liebevoller Ironie macht er sich über die Eigenarten Vernes her und fertigt eine gleichermaßen tiefsinnige wie komische Skizze seines Werdegangs an. Von den Anfängen als Schmierenkomödiant, seiner braven Bürgerlichkeit, der Passion für Reisen in ferne Weltgegenden und der Neigung, die Nähe von Frau und Kindern panisch abzuwehren, lernen wir das "Genie mit einem Sinn fürs Praktische" neu kennen. Für Savinio ist Verne ein Giuseppe Verdi der Geographie.
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
Friedenauer Presse, Berlin 2005