Jugendliche Seelennöte in den Ferien

08.08.2007
Die Stimmen sind gedämpft, die Möbel schön, die Manieren tadellos, die Dienstboten eifrig, die Eltern streng - so geht es zu in einem großbürgerlichen Mailänder Haushalt der 30er Jahre. Der Schriftsteller Alberto Vigevani (1918-1999) erweckt diese versunkene Welt zum Leben und erzählt in "Sommer am See" eine zarte Pubertätsgeschichte.
Für seinen Helden, den 14-jährigen Giacomo, ist der Mailänder Alltag mit dem starren Tageslauf, den langweiligen Schulpflichten und der Einsamkeit der Nachmittage eine große Qual. Die Blutleere und die Gefühlsabstinenz seines Elternhauses stehen im Kontrast zu seiner heranreifenden Sexualität - mit Wucht fühlt er sich von fremden Trieben ergriffen. Sehnsüchtig erwartet Giacomo den Sommer, den seine Familie standesgemäß in einer großen Villa am Comer See verbringt.

Über drei Monate hält man sich samt Dienstboten in der Sommerfrische auf: Plötzlich gibt es Freiräume, Giacomo darf seine älteren Geschwister bei ihren Unternehmungen begleiten, er kann mit dem Fahrrad herum sausen, das Strandbad besuchen, Freundschaften schließen. Das neue Dienstmädchen wird zum Objekt seiner Phantasien. Er nimmt ihren erdigen Geruch wahr, verliert sich in Betrachtungen ihrer Gestalt.

Dann lernt er einen kleinen englischen Jungen namens Andrew kennen und verfällt seiner eleganten Mutter. Um in der Nähe dieser göttinnengleichen Frau zu sein, freundet er sich mit Andrew an, ein kränklicher, sensibler Junge, der den älteren Giacomo zärtlich bewundert. Am Ende des Sommers hat Giacomo die Schwelle von der Kindheit zur Jugend überschritten.

"Sommer im See" besticht durch seine Stimmungen. Schon auf den ersten Seiten erliegt man dem elegisch-schwebenden Tonfall des Mailänder Schriftstellers: Wie absichtslos hingehaucht wirken die Schilderungen der Seelennöte seines Helden, dessen Innenleben sich in der sommerlichen Landschaft und den klimatischen Besonderheiten der wechselnden Jahreszeiten spiegelt. Zuerst herrscht die heiße, kontrastreiche Klarheit des Junis, dann die flimmernde Hitze des Julis, dann die Fülle und die tiefe Süße des Augusts, schließlich die Melancholie des Septembers mit ersten Regenfällen und weicheren Konturen.

Entsprechend entspinnt sich das Schicksal des Helden, denn die Erzählung ist auch ein Miniatur-Entwicklungsroman. Dabei geht es weniger um sittliche Reife als vielmehr um ein seelisches Heranreifen. War Giacomo zuvor in seiner jugendlichen Wehmut gefangen, wie in einer Kapsel isoliert und von seiner Exklusivität als Leidender überzeugt, begreift er am Ende des Sommers, dass auch andere Menschen Schmerz empfinden und leiden.

Denn Andrew, der kleine englische Junge, hatte um ihn geworben und sich ihm anvertraut. Als Giacomo sich plötzlich zurückzieht, ist er zum ersten Mal nicht in der Position eines Abhängigen, sondern selbst derjenige, der über einen anderen Menschen gebieten kann. Voller Schrecken wird er sich dessen bewusst und bemüht sich um Wiedergutmachung.

Auch die Figurenzeichnung ist von beiläufiger Eleganz. Von der ungestümen Schwester Clara, dem tollpatschigen Diener Antonio, dem etwas dicklichen Giacomo, der zu seiner Demütigung immer kurze Hosen tragen muss, bis hin zu den atemberaubenden Frauen - das sinnliche Dienstmädchen mit ihrer archaischen Weiblichkeit ebenso wie die gleißende Engländerin - steht einem das Personal der Erzählung unmittelbar vor Augen. Ohne epigonal zu sein, knüpft Vigevani an die erzählerischen Traditionen des 19. Jahrhunderts an und führt sie auf seine Weise fort.

Alberto Vigevani, 1918 als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Mailand geboren, ist in Italien vor allem als Verleger, Buchhändler und Kenner der Literaturszene ein Begriff. Bereits kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eröffnete er eine prestigereiche Buchhandlung, die zu einem Treffpunkt der Regimegegner wurde. Als die Rassengesetze 1938 in Kraft traten, musste Vigevani seine Universitätsstudien in Grenoble beenden; die Buchhandlung blieb erhalten. Nach dem Krieg machte er sich mit bibliophilen Ausgaben großer Klassiker einen Namen.

Nebenbei veröffentlichte Vigevani Erzählungen und Romane, die mit dem gängigen literarischen Modell des Neorealismus gar nichts zu tun hatten. Ästhetisch bewies er große Autonomie. "Sommer am See" erschien vor einigen Jahren in dem kleinen sizilianischen Verlagshaus Sellerio. Die Berliner Verlegerin Katharina Wagenbach der Friedenauer Presse hat diesen Kleinod aufgestöbert und ihn in der sorgfältigen Übertragung von Marianne Schneider mit einem Nachwort der Übersetzerin wunderbar ediert.

Rezensiert von Maike Albath


Alberto Vigevani, Sommer am See
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Friedenauer Presse, Berlin 2007, 128 Seiten, 16 Euro