"Jugendliche leben in Vorstädten wie Gefangene"

Moderation: Joachim Scholl · 07.11.2005
Der Soziologe Hartmut Häußermann hat den städtebaulichen Kontext in Frankreich mitverantwortlich für die Krawalle in Paris gemacht. Die große räumliche Distanz von Vorstädten zu großen Zentren führe zu hohen Kosten für öffentliche Verkehrsmittel, welche die meist arbeitslosen Jugendlichen nicht aufbringen könnten, sagte Häußermann.
Scholl: Im Studio begrüße ich jetzt Hartmut Häußermann, er ist Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt Universität in Berlin, guten Morgen Herr Häußermann.

Häußermann: Guten Morgen.

Scholl: Wir wollen mit Ihrer Hilfe eine weitere Perspektive auf das Problem eröffnen. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Zusammenhang von Stadtentwicklung und sozialer Integration. Dieser Stadtraum, über den wir hier sprechen, ist natürlich geprägt von Tristesse, Betonbauten, von Fluch hässlicher Sozialwohnung, von der psychischen Depression, die daraus resultiert, zugespitzt gefragt: Schafft auch solche Architektur diese Gewalt?

Häußermann: Das glaube ich nicht, also die Architektur ist nicht überall brutal und nicht überall hässlich, und es sind die berühmtesten französischen Architekten, die im Sozialwohnungsbau gebaut haben, die das gut gemeint haben. Sie finden in La Corneuve zum Beispiel Sozialwohnungen mit Fassaden, die an das Schloss von Versailles erinnern. Also die Ästhetik ist gut gemeint, aber sie geht natürlich völlig an den Problemen vorbei.

Scholl: Gut, wie wäre dann einer solchen Entwicklung zu Gewalt aus Ihrer Sicht denn zu begegnen, wenn eigentlich die architektonische Planung ganz in Ordnung ist?

Häußermann: Na ja, die architektonische Planung ist insofern nicht in Ordnung, als sie in einem städtebaulichen Kontext passiert, der nicht in Ordnung ist. Das sind abgeschlossene, von der Stadt getrennte, weit draußen liegende Vorstädte, das ist nicht zu vergleichen mit den Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus, die wir in deutschen Städten haben, die ja immer noch mit der U-Bahn oder mit der Straßenbahn relativ schnell erreichbar sind, sondern die liegen weit draußen und die Fahrt von dort - das ist ein wichtiger Faktor - in die Stadt, kostet viel Geld. Wenn sie von einem dieser großen Vorstädte ins Zentrum von Paris und zurück fahren wollen, müssen Sie zehn Euro bezahlen. Die Jugendlichen haben das nicht, also fahren sie schwarz. Anschließend werden sie erwischt, dann sind sie kriminell und dann beginnt die Karriere. Das ist ein ganz typisches Problem. Und dann ist in diesen Quartieren eben nichts los, außer wohnen. So war das mal gedacht: Die Leute sollten ja vom Einkommen ihres Vaters leben, der zur Arbeit geht. Bloß geht heute kaum noch einer zur Arbeit und deshalb sind sie da wie Gefangene in einem Kontext, in dem sich nichts ereignet. Und das, was wir jetzt erleben, da ist endlich mal was los.

Scholl: Sie haben zusammen, Herr Häusermann, mit Ihrem Kollegen Detlev Ipsen fünf Thesen zur Stadtentwicklung der Zukunft entwickelt. In einer davon sprechen Sie von der Notwendigkeit kultureller Cluster, also räumlichen Zusammenballungen von Einwohnern gleicher Herkunft, Ethnien, gleichen Milieus, das sei überhaupt wichtig für die produktive Entfaltung für Kultur. Nun wenden wir den Blick auf die Pariser Situation und auf die französische Situation. Gerade solche Zusammenballungen zeigen doch, dass hier eine Abschottung und eine Gettoisierung entsteht.

Häußermann: Wenn die soziale Ausgrenzung, also die Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt und auch aus dem privaten Wohnungsmarkt, zusammenfällt mit einer ethnischen Gruppe, dann sprechen wir von ethnischen Klassen, dann haben sie eine Akkumulation oder eine Verstärkung von Ausgrenzungsprozessen, die nicht das sind, was wir mit kulturellen Clustern meinen. Mit kulturellen Clustern sind schon ethnische oder nach bestimmten Nationalitäten gruppierte Teile der Stadt gemeint, die aber nicht sozial am Ende sein dürfen, nicht sozial diskriminiert sein dürfen, sonst kommt dieser Ausgrenzungseffekt zustande.

Scholl: Das heißt sozusagen, das, was wir auch in Deutschland kennen, zum Beispiel in Berlin in Kreuzberg, da soll es also ganze Straßenzüge - da gibt es den türkischen Gemüsehändler, den Telefonladen, den türkischen Frisör, den türkischen Bäcker - da entsteht sozusagen eine eigene ethnische Kultur, die auch aus sich heraus sozial dann prosperiert.

Häußermann: Gegen solche kulturellen Enklaven ist eigentlich nichts einzuwenden, wenn sie nicht soziale Fallen sind. Und dieses Argument wendet sich gegen die Idee, dass man auf jeden Fall die Nationalitäten verstreuen muss über die Stadt. Das ist nicht das Problem, das Problem sind die sozialen Aspekte.

Scholl: Noch mal zurück zu Paris: Nun sind das über Jahrzehnte gewachsene, gebaute Strukturen, die Sie auch gerade beschrieben haben, wie sie in allen westlichen Metropolen herrschen? Das Bewusstsein für diese Probleme ist aber doch, glaube ich, genauso alt? Warum hat man nicht rechtzeitig gegengesteuert, oder war das eine Entwicklung, die gar nicht aufzuhalten war?

Häußermann: In Frankreich kommen verschiedene Dinge zusammen: Sie haben einmal diese Großsiedlungen, die wirklichen Großsiedlungen - also es sind ja Großstädte, die innerhalb kurzer Zeit in einer einheitlichen Architektur gebaut sind und dann innerhalb kurzer Zeit mit einer bestimmten Zuwanderungswelle belegt werden, und dann passiert da nicht mehr viel. Das Zweite ist, dass sie in Frankreich, weil es sich ja meistens um Franzosen handelt, bei diesen Migranten - das sind ja keine Ausländer - keine spezielle Integrationspolitik gibt. Das lehnt der französische Staat ab, der sagt, "wir sind alle Franzosen, wir kennen keine Ausländer und das sind Bürger wie du und ich, da gibt es keine besonderen Maßnahmen". Aber die Zuwanderer brauchen besondere Unterstützung bei der Integration, die sie unter diesem Label der Gleichheit und Brüderlichkeit paradoxer Weise nicht bekommen, und so haben sie die Akkumulation von Problemen, die baulich-räumliche Isolation, die ethnische Diskriminierung, die es trotzdem gibt, obwohl es republikanische Vorstellungen gibt, dass es das nicht geben soll, plus soziale Ausgrenzung und das baut sich auf.

Scholl: Wie sind denn Ihre Erkenntnisse im Vergleich mit anderen Ländern, anderen Städten? Gibt es Beispiele gelungener sozialer Stadtentwicklung, gerade was die großen Metropolen angeht?

Häußermann: Ja, es gibt mehr oder weniger gute Beispiele. Es gibt überall, in allen westeuropäischen Städten heute das Problem, dass die Zuwanderer, die Zahl der Zuwanderer, ihr Anteil an der Bevölkerung zunimmt, dass die in der Regel auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind und das sie auch von der Bevölkerung überwiegend diskriminiert werden. Das haben Sie von Schweden bis Italien. Das ist auch kein spezielles europäisches Problem, das findet man überall. Die Frage, wo die Integration sozusagen am besten gelungen ist, ist sehr schwer zu beantworten, weil es natürlich von Stadt zu Stadt - es hängt ab von der Arbeitsmarktlage, das ist regional unterschiedlich, das hängt ab von der historischen Entwicklung der Stadt, wo sind die Gebiete, wo die Zuwanderer wohnen können und so weiter. Also die Frage, "gibt es ein bestes Beispiel?", kann man nicht beantworten.

Scholl: Nun gut, ich habe nicht nach einem besten Beispiel, sondern überhaupt mal ein Beispiel für gelungene Stadtentwicklung gefragt, wo man sagen würde, hier ließe sich vielleicht ein Modell übertragen.

Häußermann: Es gibt Programme sozusagen, die man als Modelle übertragen kann aus England, wo die Situation ähnlich schwierig ist, in vielen Städten wie in Frankreich, aber dort gibt es Programme, wo man sagen kann, so etwas muss dann geschehen, also etwa ein besonderes Programm für Schulen. Das macht die englische Regierung, die hat das zur Sache des Ministerpräsidenten gemacht. Dort werden die Stadtprobleme wirklich ernst genommen und man hat spezielle Konzepte gemacht, wie können wir die Schulen, die das zentrale Problem für die Jugendlichen in diesen Quartieren sind, wie können wir die Schulen von den schlechtesten zu den besten machen? Die werden dadurch nicht die besten, aber sie werden sehr viel besser, wenn sich eine Stadt, ein Stadtteil, und zwar alle Akteure in der Stadt, auch die Unternehmen, auf diese Frage fünf Jahre lang konzentrieren, dann ändert sich etwas.

Scholl: Das wäre sozusagen eine Prognose, das wäre auch Ihr Rat an die französische Regierung sozusagen?

Häußermann: Allerdings, man muss Ziele formulieren und dafür dann großen Einsatz bringen und das konzentriert verfolgen. In Frankreich haben Sie ein bisschen das Problem, dass immer wieder, weil es immer auch diese Ausbrüche gibt, dann große Programme, große Versprechen, große Ideen geboren werden und nach zwei, drei Jahren verläppert das wieder.

Scholl: Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.